Die besondere Geschichte

Wurzeln und Flügel

Raus aus der Provinz! Das war nach dem Abi der Herzenswunsch der Backnanger Geschwister Moritz und Lisa Bittner. Beide studierten BWL. Moritz startete danach als Investmentbanker ins Berufsleben, Lisa in verschiedenen Startups.  Sie arbeiteten in angesagten Städten, mit „High Performern“ ihres Alters in bunten Teams – und das gefiel ihnen sehr.
Doch dass sie nun wieder in ihrem ­Jugendzimmer in der Backnanger ­Donaustraße sitzen, das ist eine ­längere Geschichte. Sie handelt von einem Schicksalsschlag, von Verantwortung und Entscheidungen, aber auch davon, dass man sich seinen Lebenstraum trotzdem verwirklichen kann.
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Kein Notfallplan – und dann war der Notfall da

Begonnen hat es 2016, als Vater Roland schwer erkrankte. Von einem Tag auf den anderen stand seine Frau allein in der Verantwortung für die Bittner GmbH, die sie seit 30 Jahren gemeinsam führten. „Das lag auch an uns, weil wir immer offengelassen hatten, ob wir nicht vielleicht doch mal in die ­Firma einsteigen“, erzählt Lisa.
Einen Notfallplan gab es nicht, „auch ­keine Wikis, keine Prozessbeschreibungen“. Schließlich waren die Eltern nach der Firmengründung so hineingewachsen, kannten Kunden und Lieferanten und schmissen den Laden zusammen mit einer Sekretärin. Und sie waren noch keine 60.
Die Kinder kehrten in die Murr-Stadt zurück. „Erst einmal stand die Gesundheit unseres Vaters im Fokus und der Gedanke, alles am Laufen zu halten, bis er zurückkehrt“, erinnert sich Lisa Bittner.  Doch 2017 starb Roland Bittner. Aus einer ­Mischung aus Loyalität und dem Willen, nicht klein beizugeben, entschieden sich die Geschwister, in seine Fußstapfen zu treten.

Schwäbisch Schwätzen bringt einen Credibility-Vorteil

Die Bittner GmbH ist eine ­Spezialistin für Thermoforming und Verpackungstechnik. Fremde Materie für einen Investmentbanker und eine Startupperin.  „Tatsächlich mussten wir erst einmal so eine Art Maschinenbaustudium light absolvieren“, lächelt Moritz. Und alles vorhandene Wissen „aufsammeln“ und sichern. „Wir haben mit One Note und CRM angefangen und sind dabei iterativ vorgegangen: immer probiert und dann korrigiert, wenn etwas nicht funktionierte“, berichtet er.
Einfach weiter jedes Jahr um ein paar Prozentpunkte wachsen und so in Backnang alt zu werden – das dann doch nicht

Lisa Bittner

Wie haben die Kunden und Lieferanten reagiert? „Das sind alles ganz kleine Mittelständler. Da bringt es einen Credibility-Vorteil, wenn man ihre Sprache spricht“, erzählt Moritz und meint das ganz wörtlich: „Meine Freundin lacht sich kaputt, wenn ich Schwäbisch schwätze“, erzählt der 33-Jährige, der ansonsten - wie auch seine Schwester - seine Sätze mit jeder Menge denglischem Business-Vokabular spickt. Zum Beispiel „die Kunden haben großen Respekt, weil wir die Legacy unseres Vaters fortführen“.
Nach zwei Jahren hatten die beiden das Geschäft voll im Griff. Dank Mediation hatten sie zudem ihre unterschiedlichen Arbeitsstile und Zielvorstellungen unter einen Hut gebracht und so die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gelegt. Doch „einfach weiter jedes Jahr um ein paar Prozentpunkte wachsen und so in Backnang alt zu werden – das dann doch nicht“, erklärt Lisa, die damals noch nicht einmal 30 war.
Ein Artikel im Magazin Wirtschaft bestätigte sie in der Idee, eine Art „Booking. com“ für Thermoforming zu gründen:  Formary. Auf der Plattform können Kunden ihre Wünsche in Sachen Kunststoff­formung eingeben. Das müssen keine CAD-Dateien sein, Lastenhefte reichen. Formary kalkuliert mittels künstlicher ­Intelligenz den Preis und „matcht“ mit dem geeignetsten Lieferanten.
Ich brauche keinen Außendienst mehr, ich habe ja jetzt den ­Moritz Bittner
Bei denen rennt Formary offene ­Türen ein. Schließlich können sie so ihren ­Maschinenpark besser auslasten. „Ich brauche keinen Außendienst mehr, ich habe ja jetzt den Moritz Bittner“, habe ein  Unternehmer das auf den Punkt gebracht.

Formary ist ein Corporate Startup

Die Bittner GmbH mit ihren 900 Kunden läuft weiter, denn Formary ist ein ­Corporate Startup. Inzwischen hat das Unternehmen 25 Mitarbeiter. Auch junge, die der neue „Spirit“ anlockt. Viele arbeiten „remote“. Die Chefs selber wohnen in Stuttgart – so viel Großstadt-Flair muss sein. Und in ihrem alten Jugendzimmer sitzen sie nur deshalb, weil es heute der Besprechungsraum der Firma ist. Aus ­ihren Wurzeln sind so Flügel geworden.
Dr. Annja Maga, Redaktion Magazin Wirtschaft, für Rubrik „Menschen und Ideen”