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"Wir setzen große Hebel an"
Wohnraum entwickelt sich langsam aber sicher zum Standorthindernis, wie eine Umfrage der IHK vor einigen Monaten ergeben hat. Was tut die Landesregierung gegen diesen Missstand? Magazin Wirtschaft sprach mit Nicole Razavi, Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen. Begleitet hat uns MW-
Leser Tobias Rössle, Vorstand der Fermo Massivhaus AG in Murr (Kreis Ludwigsburg).
Leser Tobias Rössle, Vorstand der Fermo Massivhaus AG in Murr (Kreis Ludwigsburg).

Frau Ministerin, Wohnraum wird zunehmend ein Standortfaktor Welchen Stellenwert hat das Problem für das Land?
Nicole Razavi: Bezahlbarer Wohnraum ist die soziale Frage unserer Zeit, er ist aber auch ein wichtiger Faktor für unseren Wirtschaftsstandort. Auch in Baden-Württemberg können viele Unternehmen Mitarbeiter nicht finden oder nicht halten, weil sich diese selbst bei einem guten Gehalt kein vernünftiges Dach über dem Kopf leisten können und dann anderswo hingehen. Diesen Braindrain können wir uns nicht leisten, und das ist genau der Grund, warum wir die Säule Mitarbeiterwohnen in unser Förderprogramm Wohnungsbau BW eingebaut haben.
Herr Rössle, seit Neuestem bieten auch Sie Mitarbeiterwohnungen an?
Tobias Rössle: Ja, wir haben auf dem Bau eine wahnsinnige Arbeitskräfteknappheit. Unsere Leute, die wir vor allem aus dem Ausland anwerben, finden oft nur schwer eine Wohnung. In Zeiten nachlassender Aufträge haben wir die Gelegenheit genutzt, für uns selbst zu bauen, nämlich zwölf Wohnungen für die Mitarbeiter. Davon werden acht durch die L-Bank im Rahmen des Landesprogramms gefördert. Ein sehr gutes Programm, wie ich finde!
Nicole Razavi: Diese Rückmeldung freut mich natürlich.
Tobias Rössle: Künftig werden wir den schlüsselfertigen Bau von Mitarbeiterwohnungen übrigens auch anderen Unternehmen anbieten.

Um sozial geförderte Wohnungen in Anspruch zu nehmen, dürfen die Mieter allerdings gewisse Einkommensgrenzen nicht überschreiten.
Nicole Razavi: Das ist richtig, aber die Gehaltsschwellen für einen Wohnberechtigungsschein sind relativ hoch, für einen Zwei-Personen-Haushalt zum Beispiel liegt die Obergrenze bei einem Jahreseinkommen von 57.800 Euro. Wir erreichen mit dieser Förderung also auch die Mitte der Gesellschaft. Das Programm, 2020 ins Leben gerufen, wird mittlerweile gut angenommen: In der Fördersäule Mitarbeiterwohnen sind inzwischen 474 Sozialmietwohnungen für Mitarbeiter von der L-Bank genehmigt, 78 bereits fertiggestellt. 38 neue Anträge liegen aktuell vor. Wir sind also auf dem richtigen Weg, und ich werbe bei Unternehmen und Wirtschaftsverbänden intensiv für dieses Programm.
Kann man nicht noch mehr tun?
Nicole Razavi: Naja, wir haben mit 1,5 Milliarden Euro im aktuellen Doppelhaushalt das stärkste Wohnraumförderprogramm, das es in Baden-Württemberg je gab. Wir spüren natürlich, dass der Motor auf dem Wohnungsbau fast ausgegangen ist - in erster Linie wegen der gestiegenen Zinsen, aber auch wegen den hohen Anforderungen an das Bauen. Und es ist klar, dass wir allein mit dem Wohnraumförderprogramm nicht gegen diese Krise auf dem Wohnungsmarkt ankommen. Es braucht schon auch andere Instrumente, damit der Motor wieder in Gang kommt. Deshalb habe ich mir in diesem neuen Ministerium auch zum Ziel gesetzt, das Bauen zu erleichtern, günstiger zu machen und vor allem auch zu beschleunigen.
Unser Ziel ist es, das Bauen zu erleichtern, günstiger zu machen und vor allem auch zu beschleunigen.
Mit der im März beschlossenen Reform der Landesbauordnung zum Beispiel…
Nicole Razavi: Die LBO-Reform setzt große Hebel an, um das Bauen für Unternehmen, aber auch für normale Bürger zu erleichtern. Zum Beispiel die Einführung der Genehmigungsfiktion: Wenn ein Antrag vollständig eingereicht und genehmigungsfähig ist, gilt er nach drei Monaten automatisch als genehmigt. Die Beschäftigten der unteren Baurechtsbehörden müssen einfache, schon X-mal bearbeitete Fälle also nicht erneut bearbeiten, sondern können sie durchlaufen lassen.
Ein weiterer Hebel ist die Abschaffung Widerspruchsverfahrens…
Nicole Razavi: Genau. An anderen Bundesländern wie Bayern, die das Widerspruchsverfahren schon lange abgeschafft haben, sehen wir, dass ein Projekt allein dadurch um mehr als ein Jahr beschleunigt werden kann. Trotzdem hat jeder weiter das Recht zu klagen, aber wir sparen uns diese vielen Monate. In der LBO-Reform steckt aber noch viel mehr. Wir senken zum Beispiel beim Aufstocken von Gebäuden zur Schaffung von mehr Wohnraum weitere unnötig hohe Standards ab, insbesondere beim Brandschutz.
Sind das genug Impulse?
Nicole Razavi: Wir haben hier im Land nicht den entscheidenden Einfluss auf das Weltgeschehen, auch nicht auf die Zinspolitik. Aber wir haben alles auf den Weg gebracht, was jetzt im Moment möglich ist und in unserer Macht steht. Was die Gebäudeenergiestandards angeht, sind wir nicht zuständig, das muss der Bund machen, ebenso bei Umweltauflagen und Artenschutz. Es ist meine Hoffnung und meine Erwartung auch an die neue Bundesregierung, dass sie es über das Baugesetzbuch, aber vor allem auch durch steuerliche Erleichterungen, wieder mehr Familien und Normalverdienern ermöglicht, zu Wohneigentum zu kommen.
Herr Rössle, wie bewerten Sie die neue LBO?
Tobias Rössle: Wir sind nur wenig im Bestand tätig, ich höre aber aus der Branche viel Positives. Im Neubau ist die Genehmigungsfiktion, glaube ich, nicht der ganz große Hebel. Bei einem großen Projekt würde ich mich kaum darauf verlassen, dass die Genehmigung Bestand hat - ich bin ja als Entwurfsverfasser weiterhin voll haftbar. Etwas mehr hätten wir uns bei der Stellplatzpflicht gewünscht. Die liegt zwar in kommunaler Hoheit, aber das Land könnte ja zum Beispiel ein Auslaufdatum für Stellplatzsatzungen vorschreiben. Dann müsste die Gemeinde regelmäßig neu entscheiden und die Situation prüfen.
Wie bedeutend ist das denn in der Praxis?
Tobias Rössle: Das spielt schon eine Rolle. Ein Beispiel: Auf das Gelände, auf dem wir unsere 12 Mitarbeiterwohnungen bauen, hätten auch 16 oder sogar 18 gepasst. So viel kann ich aber nicht bauen, weil die Kommune sich auf dem hohen Stellplatzschlüssel beruft.
Es ist meine Hoffnung und meine Erwartung auch an die neue Bundesregierung, dass sie es wieder mehr Familien und Normalverdienern ermöglicht, zu Wohneigentum zu kommen
Nicole Razavi: Grundsätzlich wissen die Kommunen schon am besten, was notwendig ist. Ich hätte mir aber vorstellen können, die Stellplatzregelung insgesamt zu kommunalisieren. Nur hat die EU gerade erst eine Neuerung zu Stellplätzen verabschiedet, und bevor wir selbst etwas tun, müssen wir erst einmal abwarten, wie der Bund diese neue EU-Richtlinie umsetzt. Was die Genehmigungsfiktion angeht, bin ich etwas anderer Meinung, vor allem weil wir in dem Zusammenhang auch das vereinfachte Verfahren stark ausgeweitet haben, und zwar als Optionsmodell für die Bauherren. Der Bauherr kann also selbst entscheiden, ob er das vereinfachte Verfahren ziehen will und dazu noch, wenn er möchte, die Genehmigungsfiktion. Natürlich muss er weiterhin dafür sorgen, dass der Entwurf den geltenden Vorschriften entspricht. Mehr Freiheit geht eben auch mit mehr Verantwortung einher.
Seit diesem Jahr gibt es in Baden-Württemberg das virtuelle Bauamt. Doch anscheinend drucken manche Behörden immer noch alles aus und arbeiten analog…
Nicole Razavi: Das hätte dann mit Digitalisierung nichts zu tun. Insgesamt läuft das Ausrollen der Plattform „Virtuelles Bauamt“ in Baden-Württemberg sehr gut, wenn man bedenkt, wie kurz wir erst daran arbeiten. Von 209 unteren Baurechtsbehörden im Land sind inzwischen bereits 201 mit an Bord. 160 Behörden sind schon im Vollverfahren, das heißt: Der Antrag wird digital eingereicht und bearbeitet, Planer, Antragsteller und Bearbeiter, können zeitgleich daran arbeiten. Am Ende dieses Prozesses steht dann die digitale Zustellung und Genehmigung. Das ist eine Digitalisierung von A bis Z, bei der wir aktuell bundesweit mit weitem Abstand Vorreiter sind: Von bislang rund 22.000 Vorgängen im „Virtuellen Bauamt“ fanden 17.300 in Baden-Württemberg statt.
War es ein Fehler, dass das Land und viele Städte keine Wohnungen mehr bauen und ihren Bestand vor Jahrzehnten verkauft haben?
Nicole Razavi: Die Kommunen bauen ja auch heute noch Wohnungen. Die Bedingungen sind aber für alle dieselben. Auch eine Landeswohnungsbaugesellschaft hätte mit denselben Problemen zu kämpfen wie jeder private Investor: Teure Flächen, Inflation, steigende Baupreise, Fachkräftemangel. Der Staat, davon bin ich überzeugt, ist nicht der bessere Bauherr, sondern wir müssen es schaffen, dass die Bedingungen für das Bauen insgesamt besser werden. Und wenn Sie den Verkauf der landeseigenen Wohnungen ansprechen: Ja, das war ein großer Fehler. Aber nicht der Verkauf war der Fehler, sondern dass man nicht darauf geachtet hat, dass die Sozialbindung dauerhaft bestehen bleibt. Die Wohnungen sind in den letzten Jahren aus der Bindung gefallen und deswegen hatten wir über Jahre hinweg in Baden-Württemberg einen Rückgang beim Bestand an gefördertem Wohnraum.
Gibt es Nachholbedarf nur bei günstigem Wohnraum?
Nicole Razavi: Nein, sondern auch im mittleren Segment. Geförderte Wohnungen sind ja nur für die Besitzer eines Wohnberechtigungsscheins. Deshalb werden wir das Problem nicht alleine durch geförderten Wohnraum lösen können. Wir brauchen vor allem auch auf dem frei finanzierten Markt, auf dem ja die meisten Wohnungen entstehen, mehr bezahlbaren Wohnraum für alle.
Wir haben zu wenig Wohnungen, aber Überkapazitäten bei Büros. Wie könnte man die Umwidmung von Büroflächen in Wohnungen fördern?
Nicole Razavi: Wir haben solche Umwidmungen mit der neuen LBO erheblich erleichtert. Man braucht jetzt keinen Bauantrag mehr, wenn man umnutzen will. Ich glaube, das sind schon sehr große Anreize für die Bauherren.
Die Gebäudeenergie-Anforderungen sind sehr hoch, bringen aber dem Klima nur wenig
Kollidiert die Absenkung von Baustandards nicht mit den Klimazielen Ihrer Regierung?
Nicole Razavi: Die Gebäudeenergie-Anforderungen sind sehr hoch, bringen aber dem Klima nur wenig. Die Landesbauminister haben deshalb schon vor Jahren – damals unter meinem Vorsitz - dafür plädiert, dass wir zu einer Gesamtlebenszyklusbetrachtung eines Gebäudes kommen, anstatt uns wie bisher nur auf den Gebäudebetrieb und die Gebäudehülle zu konzentrieren. Da bieten sich viele Möglichkeiten, die Treibhausgasbilanz von Gebäuden zu verbessern ohne das Bauen zu verteuern. Zum Beispiel haben wir im Zuge unseres Strategiedialogs für bezahlbares Wohnen und nachhaltiges Bauen Projekte auf den Weg gebracht, die Fachleuten die Wiederverwendung von tragenden Holz- und Stahlbauteilen erleichtern.
Die Ampelregierung hat die degressiven Abschreibungen bis 2029 verlängert. Reicht das, um das Wohneigentum wirksam zu fördern?
Nicole Razawi: Wenn wir es auch jungen Familien ermöglichen wollen, in Eigentum zu investieren, brauchen wir deutlich bessere Anreize. Ich habe erst vor kurzem ein paar steuerliche Vorschläge gemacht, zum Beispiel, dass es steuerfrei möglich sein soll, unter der ortsüblichen Miete zu vermieten. Ich bin auch überzeugt, dass wir wieder Möglichkeiten brauchen, Investitionen in Wohneigentum auf das steuerlich anzurechnende Einkommen abzugsfähig zu machen. Mit einer Eigentumsquote von 42 Prozent ist Deutschland das Schlusslicht in Europa, in Baden-Württemberg sind wir mit gut 50 Prozent etwas besser. Das ist aber viel zu wenig, weil Wohneigentum die beste Altersvorsorge ist und auch für Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft sorgt.
Das Interview führte Walter Beck, Redaktion Magazin Wirtschaft, walter.beck@stuttgart.ihk.de
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Jürgen Leinwand