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Miteinander statt Leerstand
Viele Städte sorgen sich, wie sie ihre Zentren lebendig und attraktiv halten können, wenn immer mehr Einzelhändler aufgeben (müssen). Eine Idee aus Nürtingen verhindert einen Leerstand an prominenter Stelle.
Die Wissenschaft, aber auch viele Stadtväter und -mütter sind sich einig: Innenstädte müssen wieder mehr werden als reine Einkaufsstätten. Oder, wie es die „Neue Leipzig-Charta“ der EU fordert: Die City muss gerechter, grüner und produktiver werden.
Genau so sieht das Dirk Funck, Professor für Multi-Channel-Retailing, Sales-Management und Social Entrepreneurship an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen. Und genau so sieht es die örtliche Eine-Welt-Gruppe e.V., deren Mitglied er ist. Ein Raum müsste in Nürtingen her, wo fairer Konsum, bezahlbare Mieten, Bildung zu Nachhaltigkeitsthemen und ein gesellschaftliches Miteinander möglich sind.
Die City muss gerechter, grüner und produktiver werden.Neue Leipzig-Charta der EU
Zwar gibt es seit 1998 einen Weltladen in der Stadt, aber die Räume sind zu klein, um all diese Pläne zu verwirklichen. Doch wie soll eine Gruppen von Ehrenamtlichen einen passenden Raum finden und finanzieren?
Was sich erst wie eine Spinnerei anhörte, bei der man sich wundert, wenn man sie ausspricht, rückte plötzlich in greifbare Nähe, als die Eigentümer des Kaiser-Hauses in bester 1-A-Lage ihre Immobilie für einen akzeptablen Preis zum Verkauf anbot, erzählt Funck. Viele Jahre war das Eckhaus in der Kirchstrasse als mehrstöckiges Kaufhaus eine Institution gewesen. Dann zog eine Bekleidungskette ein, die nur noch das Erdgeschoss nutzte, und nun wird es ein Welthaus.
Eine Genossenschaft wird gegründet, um das Grundstück zu kaufen
Um es zu erwerben, wurde im Januar 2023 eine Genossenschaft gegründet. Bereits sechs Monate später saß man beim Notar. Möglich wurde das, weil gleich zu Beginn 204 Genossen Anteile von mindestens 400 Euro zeichneten. 400, weil die Beteiligungshürde nicht zu hoch sein sollte. Inzwischen hat die Genossenschaft 365 Mitglieder, die 1.788 Anteile mit einem Wert von 715.200 Euro gezeichnet haben.
Die Finanzierung ruht auf drei Säulen
Trotzdem ging es nicht ohne Bankkredit. Dessen Finanzierung ruht auf drei Pfeilern: Zum einen auf der mittelfristigen Vermietung, denn eine Etage wird weiterhin von einer Firma genutzt, der oberste Stock bleibt als Wohnung vermietet und der Weltladen wird von der Kirchstraße 25 in die 14 ziehen.
Großer Andrang herrschte schon bei der Eröffnung der ersten Zwischennutzung des Welthauses.
Die zweite Säule sind Fördergelder und Spenden. So beteiligen sich zum Beispiel die evangelische und die katholische Gemeinde an den Renovierungskosten, es wurden aber auch schon zahlreiche Mietpatenschaften für mindestens zehn Euro pro Monat übernommen. Dritter Pfeiler ist die kurzfristige Vermietung der zweiten Etage, zum Beispiel an die Volkshochschule, die die Küche nutzen wird, aber auch für Feiern und Veranstaltungen.
Was sich erst wie eine Spinnerei anhörte, bei der man sich wundert, wenn man sie ausspricht, rückte plötzlich in greifbare Nähe
Der zweite Stock wird nach der umfangreichen Sanierung nämlich mit einer Weltküche ausgestattet und soll als Ort für Community-Events, Workshops, Vorträge, Lesungen oder Ausstellungen genutzt werden. Schon jetzt gibt es den „Restezauber“, bei dem immer mittwochs jeder mit allem, was er in seinen Vorräten findet, teilnehmen kann, um gemeinsam ein tolles Abendessen auf den Tisch zu bringen.
Zwischennutzung verhindert Leerstand

Damit gar nicht erst ein Leerstand in der Stadtmitte entsteht, wurde für die Zeit zwischen dem Auszug des Bekleidungsgeschäftes und dem Start des Weltladens ein Zwischennutzungsplan aufgestellt. Er sah nicht nur Ausstellungen zu ökologischen Themen vor, sondern beispielsweise auch ein Kinderferienprogramm. Und jeden Samstag war eine Art „Tag der offenen Tür“ mit Kaffee und Gesprächen zum Kennenlernen.
Alles geschieht in Eigenarbeit

„Das ist natürlich nicht alles vom Baum gefallen“, sagt Funck. Viel Arbeit sei in die Planung, aber auch in die Renovierung geflossen. Möglich war dies alles nur dank des großen ehrenamtlichen Engagements: angefangen von der Planung und Verwaltung bis zum Umbau – alles geschieht in Eigenarbeit.
Welthäuser gibt es viele in Deutschland, doch keines davon ist im Besitz der Betreiber, wie Funck stolz erzählt. Die Folge: Ein Großteil von ihnen kämpft mit Mieterproblemen – von hohen Preisen bis hin zu Eigenbedarfskündigungen. „Aus dem renditegetriebenen Strudel sind wir raus“, freut sich Funck. Und Nürtingen kann sich freuen über ein Zentrum für gesellschaftliches Miteinander und einen Anziehungspunkt mitten in der City.
Dr. Annja Maga, Redaktion Magazin Wirtschaft, für Rubrik Menschen&Ideen
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