Titelthema Ausbildung

Ausbildung in Teams und an „echten“ Projekten, mehr Eigenverantwortung schon in der Ausbildung – angesichts des Fachkräftemangels müssen die Unternehmen zu neuen Ufern aufbrechen. An vier Beispielen aus der Region zeigen wir, wie das geht.
Der Aufkleber „#BesteAusbildung“ ziert die Rückseite des Laptops von Robin Hartmann, und wenn man dem Ausbildungsleiter der Festool GmbH zuhört, ist genau das seine Mission. Wie das geht, da hat er eine ganze Menge Ideen, und viele davon sind auch schon umgesetzt. Was nicht unbemerkt geblieben ist: Hartmann und sein Team – Jana Zuber für die kaufmännische und Alexander Schenk für die gewerbliche Ausbildung - wurden jetzt mit dem erstmals vergebenen Landesausbilderpreis geehrt.
Was hat den Ausschlag gegeben? Hartmann ist überzeugt, dass es „Grünzeug“ war. So heißt die freiwillige Arbeitsgemeinschaft, bei der 44 der 55 Azubis beziehungsweise Studenten an der Dualen Hochschule mitmachen – freiwillig!

Mit Grünzeug zum Landespreis

„Nachhaltigkeit gehört ja seit einiger Zeit zu den Berufsbildpositionen für die Ausbildung“, erklärt Hartmann die Idee von Team Grünzeug. „Wir haben uns vorgenommen, das nicht mit Vorträgen zu füllen, sondern mit Praxis.“ Als schnell umsetzbares Thema erwies sich die Suche nach Stromsparmöglichkeiten im Betrieb. Die Azubis ­berechneten erst den Stromverbrauch an einzelnen Arbeitsplätzen und maßen dann noch einmal genau nach.
Und wirklich, ein Drucker, den man ein Jahr lang über jedes Wochenende im Stand-by-Modus lässt, verbraucht so viel Strom wie ein Elektrofahrzeug für 1500 Kilometer Fahrt. „Viele gestandene Kollegen wollten das gar nicht glauben. Für die Azubis war es natürlich toll, ihnen das beweisen zu können“, freut sich Hartmann und ergänzt: „Sie waren total fasziniert, weil sie erkannt haben, dass das, was sie machen, dem Erfolg des Unternehmens dient.“

Insektenhotel statt Einführungsmappe

Für Hartmann ist das der entscheidende Punkt: „In unserer Ausbildung legen wir besonderen Wert auf Eigenständigkeit und Sinnhaftigkeit. Wir möchten, dass unsere Auszubildenden an realen Aufgaben ­arbeiten, die nicht nur gut aussehen, sondern auch relevante Methoden vermitteln.“ Das geht schon in der ersten Ausbildungswoche los, wenn „die Neuen“, betreut von „alten“ Azubis ein ­Insektenhotel bauen. Gleich drei wichtige Lern­elemente werden damit erreicht: Die Jugendlichen haben etwas, das sie stolz zu Hause präsentieren können, sie lernen die Festool-Werkzeuge kennen und sie vernetzen sich.
Festool-Azubis gibt es in neun verschiedenen Berufsbildern – sowohl gewerblich als auch kaufmännisch. Warum so viele? „Wir bilden nicht aus, um freiwerdende Arbeitsplätze „aufzufüllen“, sondern um ­Arbeitsplätze für die Zukunft zu besetzen“, erklärt Hartmann. Da kommt es auch vor, dass längst aus der Mode gekommene Berufsbilder plötzlich wieder eine Rolle spielen, technische Zeichner zum Beispiel, die heute „Technische Produktdesigner“ heißen.
Sicher ist es nicht leicht, immer alle Plätze zu besetzen? „Ja“, erzählt Jana Zuber, die für die Zusammenarbeit mit den Schulen verantwortlich ist: „Wenn ich bei unseren Bewerbertrainings in Realschulen Klasse 9 herumfrage, wer schon weiß, wie es weitergeht, melden sich vielleicht zwei von 30.“ Ihre Vermutung: Die Angst vor dem Neuen und der Verbindlichkeit. Schließlich legt man sich mit einem Ausbildungsvertrag für mindestens drei Jahre fest.

Azubis finden bei Gleichaltrigen Gehör

Um ihnen die Angst zu nehmen, setzt Festool auf den direkten Kontakt der aktuellen Azubis mit den ­Schülern. „Nicht der alte weiße Mann erzählt etwas, sondern fast gleich alte Jugendliche“, lächelt Hartmann. Gemeint ist zum Beispiel die Sprechstunde, die seine Azubis anbieten, wenn die NWT-Schüler am Robert-Bosch-Gymnasium in Wendlingen beim Umrüsten von Bobby-Cars zu Elektroflitzern nicht mehr weiterkommen. Unnötig zu sagen, dass die Werkzeuge und die Akkuschrauber, mit denen sie angetrieben werden sollen, von Festool gestellt werden.
Das Ausbildungscenter von Festool ist in Neidlingen. Doch heute ist Hartmann an den Hauptstandort nach Wendlingen gekommen, weil gleich der Arbeitskreis Schule-Wirtschaft tagt. Auch hier steht die Frage ganz oben auf der Agenda, wie man Schülern noch trans­parenter macht, wie ein Arbeitsalltag konkret aussieht.
Eine Idee wird bereits seit drei Jahren umgesetzt: ein Insta­gram-Account, der Einblicke in den Alltag geben soll. Ein Team von fünf bis zehn Azubis organisiert alles eigenständig - ­textet, dreht und schneidet. Jana Zuber schaut vor dem Posten nur kurz drüber. Erst gab es viel Skepsis im Unternehmen und es war viel Vorbereitungszeit nötig. Aber jetzt hätten alle viel Spaß und tolle Ideen, erzählt sie. Was sie immer wieder begeistert: dass man geradezu zuschauen könne, wie sich die jungen Leute weiterentwickeln.

Drohnenflüge und Eigengewächse

Reels über das Arbeitsleben und wie eine Ausbildung aussieht, darauf setzt auch Martin Schoenwitz, Ausbildungsleiter der Wilhelm Bahmüller Maschinenbau Präzisionswerkzeuge GmbH in Plüderhausen. Ideen gibt es genug. So steht schon eine Drohne bereit, mit der zwei Azubis einen Imagefilm von der Lehrwerkstatt drehen.
Wenn man mit Schoenwitz über das weitläufige ­Firmengelände in Plüderhausen geht, wundert man sich, dass er überhaupt Werbung für seine Lehrstellen machen muss: So viele junge Gesichter! Kaum einer der Mitarbeiter scheint auch nur das „schwäbische Alter“ von 40 erreicht zu haben. Und fast jeden stellt Schoenwitz als „Eigengewächs“ vor.
Tatsächlich sind 60 bis 70 Prozent der rund 400 Mitarbeiter aus der eigenen Lehrwerkstatt hervorgegangen. „Fast alle, die in den letzten zehn Jahren ihre Ausbildung hier gemacht ­haben, sind auch noch hier“, erzählt er nicht ohne Stolz. Ein Schlüssel dafür ist nach seiner Einschätzung die frühe Bindung potenzieller Azubis. So besuchen in Kooperation mit der örtlichen Realschule bereits Achtklässler im Rahmen ihres Technikunterrichts die Lehrwerkstatt. Dort löten sie LED-Würfel oder bauen kleine Schreibtische – und erleben den Beruf hautnah. „Sie gucken nicht nur zu, sondern machen jeden Schritt selber und probieren so alle Anwendungen aus, die zu dem Beruf gehören“, erzählt Schoenwitz. Später bewerben sich nicht wenige von ihnen um einen Ausbildungsplatz – mit dem Vorteil, dass man sich bereits kennt.

Werkstatt statt Klassenzimmer – so lockt man Azubis

Auch Schnupperpraktika gehören zur Strategie: Rund 40 Praktikanten durchlaufen jährlich die Werkstatt, betreut von den aktuellen Azubis. Dazu kommen Schülerferienprogramme unter dem Motto „Faszination Technik“ und der Girls‘ Day, bei dem immerhin sechs Mädchen im Haus waren.
Dass sich das alles lohnt, beweisen die Zahlen: schon Mitte April sind zwölf der 13 Ausbildungsplätze für Industriemechaniker und Elektroniker besetzt. Von den knapp 40 Azubis sind drei junge Frauen – in gewerblichen Berufen nicht selbstverständlich. Überhaupt: Bahmüller kann sich seinen Nachwuchs aussuchen: Es gibt immer mehr Bewerber als Plätze.
Doch eine Unterschrift unter dem Ausbildungsvertrag heißt schon lange nicht mehr, dass der junge Mensch am 1. September vor der Tür steht. Und auch nicht, dass er tatsächlich an Bord bleibt. Schließlich steigt fast ein Drittel der Azubis vor der Facharbeiterprüfung wieder aus. In Plüderhausen setzt man deshalb auf ein wertschätzendes und motivierendes Ausbildungsklima.

Alte Maschinen, neue Ideen

Das beginnt bei der Ausstattung: Pausenraum und Lehrwerkstatt sind nagelneu beziehungsweise top in Schuss. „Da haben wir viel Geld investiert in die Ausstattung“, erklärt der Ausbildungsleiter. Natürlich sind auch die ­Maschinen auf dem neuesten Stand. „Man kann junge Leute nicht mit veralteter Technik begeistern“, weiß Schoenwitz. Aber alte Technik auf den Stand von heute zu bringen, das funktioniert schon eher. Der Beweis dafür ist die NC-Bohrmaschine, die eigentlich schon 40 Jahre auf dem Buckel hat. Die Azubis haben sie komplett überholt und mit moderner Steuerung und Touchscreen ausgestattet. Jetzt ist sie technisch auf Augenhöhe mit einem 2025er-Modell.

Jeder fühlt sich gesehen

Damit sich der Nachwuchs zu Hause und, heutzutage ganz wichtig, „gesehen“ fühlt, hat jeder seinen persönlichen Arbeitsplatz mit Namensschild und eigenem Werkzeug, für das jeder selbst verantwortlich ist. Jeder Jahrgang hat zudem seine eigene Tisch-Insel. Jahr für Jahr rücken die Azubis einen Tisch weiter nach hinten: Weg vom Ausbilderbüro mit der Glasscheibe hin zur Selbstständigkeit.
Ein weiteres Merkmal der Bahmüller-Ausbildung: Die enge Kooperation zwischen den Fachrichtungen. Mechaniker und Elektroniker arbeiten schon in der Ausbildung gemeinsam an Maschinenprojekten – unter Anleitung eines erfahrenen Meisters. „So lernen sie früh, was später im Alltag zählt: interdisziplinäre Zusammenarbeit“, erklärt Schoenwitz.
Sie sind dann auch dabei, wenn diese Teile in der Produktionshalle in die Anlage eingebaut werden. „Zu sehen, dass ihre Arbeit wirklich gebraucht wird, das macht stolz“, stellt Schoenwitz immer wieder fest. Deswegen sorgt er dafür, dass jeder mal die Möglichkeit hat, mit zum Kunden zur Montage zu fahren.
Auch Projekte mit gesellschaftlichem Mehrwert gehören zum Konzept: Etwa ein Aufrollgerät für Sicherungsleinen für die Feuerwehr. Den ersten Platz beim Wettbewerb „Helfende Hand“ des Bundesinnenministeriums belegte der Bahmüller-Nachwuchs gemeinsam mit der Kreisjugendfeuerwehr Rems-Murr damit. Weitere Projekte entstanden in Zusammenarbeit mit Gemeinde und Bauhof – praxisnah, sinnstiftend und motivierend.
Und was macht man, damit die Leute nach der Abschlussprüfung bleiben? „Wir bilden bedarfsgerecht aus und übernehmen 99 Prozent“, erklärt Schoenwitz. Wobei jeder seine Abteilungspräferenz möglichst erfüllt bekommt. „Und wer dann doch lieber ins Büro will, dem ermöglichen wir eine Fortbildung zum Fachwirt.“

Lehrlinge zaubern Sterne-Menü

Viel Arbeit und viel Engagement steckt hinter so ­einem Ausbildungsprogramm. Da denkt sich sicher mancher: „Ach, wenn man sich seine Azubis doch zaubern könnte!“ Vielleicht sollten wir mal bei „Der Zauberlehrling“ nachfragen. Da müsste man doch wissen, wie das geht.
Der Zauberlehrling, das ist ein Restaurant in der Stuttgarter Rosenstraße, in zweiter Generation geführt von den Geschwistern Maxine, ­Valentin und Fabian Heldmann.
Unterhält man sich mit Maxine Heldmann, wird allerdings schnell klar, zaubern kann man sich die Azubis auch hier nicht. Dafür bringt man den jungen Leuten hier bei, wie man das perfekte Gasterlebnis zaubert. Und einmal im Jahr dürfen sie das Gelernte eigenständig unter Beweis stellen. Dann übernehmen sie das Gourmet-Restaurant für zwei Wochen komplett.

So liest sich das Zauber-Menu

Dieses Jahr verzauberten sie die Gäste mit:
• Buttermakrele, Ananas, Shiso
• Zander, schwarzer Rettich, Sauce Hollandaise
• Nduja, Fenchel, Basilikum
• Lamm, Topinambur, Pflaume
• Kaiserschmarrn, Vanille, Gin
Dabei haben die Azubis aus Küche und Service nicht nur alles selbständig zubereitet und serviert, sondern sie haben zuvor die Rezepte ausgetüftelt, die passende Getränkebegleitung ausgesucht, den Wareneinsatz errechnet, den Preis kalkuliert und schließlich alle Zutaten eingekauft. Außerdem stellten sie den Dienstplan auf und dekorierten die Tische.
Zaubern sie ihren Chefs so wenigstens zwei entspannte Wochen? „Oh nein“, lacht Maxine Heldmann, „es macht sogar mehr Arbeit als normal“, ergänzt sie und zählt auf: „Wir müssen Aufgeregte beruhigen und Zweifelnde bestärken. Außerdem nachfragen, ob an wirklich alles gedacht ist und überhaupt schauen, dass alles klappt.“ Und natürlich steht den Auszubildenden während der gesamten Zeit immer eine erfahrene Fachkraft zur Seite. Dabei bestehe die Kunst darin, sich nicht zu viel einzumischen, dabei aber sicherzustellen, dass die Gäste zufrieden sind. Und natürlich müsse vorher die Basis gelegt sein, damit die zwölf Azubis aus drei Lehrjahren die Gäste auf dem hohen Niveau verwöhnen können, das diese erwarten.

Von der Rezeptidee bis zum Candlelight-Dinner

Schon im Januar beginnt das Planen und Ausprobieren: „Samstags gibt es immer ein Candlelight-Dinner mit festem Menu. Da durften wir unseren Gang ausprobieren. Dann haben wir immer weiter am Rezept gefeilt“, berichtet Marlies Dietzel. Sie ist Koch-Azubine im ersten Lehrjahr. Voller Begeisterung zählt die 25-Jährige auf, welchen Aufwand sie mit den einzelnen Zutaten getrieben hat, damit ihr Gang mit der kalabrischen Nduja-Wurst ein Geschmackserlebnis wird.
Schon seit ein paar Jahren überlässt das Familienunternehmen dem Nachwuchs die Kochtöpfe für zwei Frühjahrs­wochen. Es habe sich gezeigt, was für eine tolle Motivation und auch Prüfungsvorbereitung das für die jungen Leute ist: „In unserer Branche ist das nicht zu unterschätzen!“, erklärt die Hotelfachfrau mit einem Master in Hospitality Management.
Teil des Erfolgsrezeptes ist es, dass alle mitmachen – vom ersten bis zum dritten Lehrjahr. So können die „alten Hasen“ die Jüngeren unterstützen. So wachsen alle jedes Jahr in eine neue Rollen hinein und werden dabei immer selbständiger.

“Nächstes Jahr bin ich bestimmt eine ganz andere Köchin als jetzt”

Marlies Dietzel ist dafür das beste Beispiel. „Nächstes Jahr bin ich bestimmt eine ganz andere Köchin als jetzt“, ist sie überzeugt und schildert voller Begeisterungen, was sie dann kochen wird. Auf jeden Fall soll es wieder etwas mit ­Auberginen sein, deren Möglichkeiten sie faszinierend findet.
Als die 25-Jährige aus Darmstadt letztes Jahr eine Lehrstelle als Köchin suchte, war die Auswahl groß. Dass sie sich für den Zauberlehrling entschied, dafür gab die Möglichkeit des selbständigen Arbeitens den Ausschlag. „Schon als ich zum Probearbeiten hier war, durfte ich direkt in der Küche mitmachen“, erinnert sie sich.
Die junge Frau ist die Ruhe selbst. Dabei werden in wenigen Stunden über 20 hungrige Gäste an den liebevoll gedeckten Tischen Platz nehmen und erwartungsvoll die Menükarte entrollen, die die Service-Azubis, mit einem silbernen Band zusammengebunden, in den Weingläsern drapiert haben. Keine Nervosität? „Nein, ich bin ganz positiv gestimmt, dass wir das hinkriegen, weil wir ein gutes ­Niveau haben und jeder weiß, was zu tun ist“, gibt sie sich gelassen.
A propos, die Gäste werden bei der Reservierung informiert, dass Azubis den Kochlöffel schwingen. Viele kommen inzwischen sogar extra deswegen. „Für die zwei Wochen haben wir aktuell noch genau einen freien Tisch“, freut sich Heldmann.

Vom Graffiti zur Key-Account-Karriere

Um zu zeigen, welchen Stellenwert die Ausbildung bei der Aug. Hedinger GmbH & Co. KG genießt, hat sich Andrea Keck extra von der Eigentümerfamilie ein ­Fotoalbum ausgeliehen. Mehrere Bilder darin zeigen, wie sich die Azubis im vorletzten Jahrhundert im Stammgebäude in Stuttgart verewigten: mit dem, was man heute Graffiti nennt.
Das Gebäude in der Hauptstätter Straße steht nicht mehr, aber auch an der neuen Adresse in Stuttgart-Wangen spielt das Thema Ausbildung eine Schlüsselrolle. Deswegen sind gleich drei Generationen von (ehemaligen) Auszubildenden zum Gespräch erschienen.
Und alle drei können den Tag ihres Ausbildungsbeginns bei Hedinger wie aus der Pistole geschossen benennen: Bei Key- Account-Managerin und Ausbilderin Andrea Keck war es der 1. September 1984, bei Janina Weinle, Ausbilderin und Betriebswirtin (IHK), der 1. September 2011 und für Kim Kirchner, die im Projektmanagement arbeitet, der 1. September 2022.

Vor 40 Jahren ging es in der Ausbildung noch rustikaler zu

Eine gute Gelegenheit, die Erfahrungen aus 40 Jahre zu vergleichen: „Bei uns ging es noch deutlich rustikaler zu“, lächelt Keck, und kann sich nur mühsam den Spruch von den Lehrjahren, die keine Herrenjahre sind, verkneifen. Aber auch Weinle sieht eine deutliche Entwicklung – in der Ausbildung aber auch bei den Azubis.
Ein schöner Indikator dafür sind die ­Bewertungsbögen, mit denen die jungen Leute und die jeweils durchlaufene Abteilung sich gegenseitig bewerten. Bis vor kurzem wurden sie noch mit Fließtext gefüllt, heute wird hauptsächlich angekreuzt. Traut man sich, da auch mal schlechte ­Noten zu vergeben? „Auf jeden Fall“, sagt Kim Kircher selbstbewusst: „Solange es konstruktiv ist, wird das gut aufgenommen.“ Und Keck, die in ihrer Lehrzeit von solchen Chef-Bewertungen wahrscheinlich noch nicht einmal zu träumen wagte, erklärt: „Schließlich müssen wir immer wieder lernen, mit der jeweils neuen Azubi-Generation umzugehen, denn nur so werden sie einmal gute Mitarbeiter.“
Auch inhaltlich hat sich die Ausbildung entwickelt. Heute sind die vierzehntägigen „Lehrgespräche“ Standard, bei denen der Nachwuchs mit den Produkten von Hedinger, ihrer Entstehung und den aufwendigen aber notwendigen Qualitäts­vorkehrungen vertraut gemacht werden. Schließlich verdankt das Unternehmen seinen weltweiten Erfolg der Perfektion, mit der die Ausgangsstoffe für die Life-Science-Industrie und für Apotheken, die Produkte für die chemotechnische Industrie und die Lehrmittel für den Chemie- und Biologie­unterricht hergestellt und vertrieben werden.

Jedem ein iPad zum Start

Und natürlich ist alles, wo immer möglich digital geworden: das Berichtsheft zum Beispiel oder der Willkommensordner, der wichtige Infos enthält, etwa wie man sich krank meldet oder wer für was der richtige Ansprechpartner ist oder was der Koch diese Woche in der hauseigenen Kantine frisch zubereitet. Damit die neuen Azubis alle auf demselben Ausstattungslevel starten, bekommt jeder gleich am ersten Tag ein iPad. Mit dem kann er sich auch jederzeit in die ­digitale Lernplattform einloggen, für die Hedinger den Zugang bezahlt.
Auch die gelungenste duale Ausbildung ist aber nur dann für junge Leute ­attraktiv, wenn sie damit etwas werden können: etwas, das Spaß macht, wo man etwas bewegen kann und wo man sich weiterbilden und auch aufsteigen kann. Dass das bei Hedinger gelingt, dafür ­stehen die drei Frauen – Keck als Key-Account-Managerin mit vielen internationalen Kunden, Janina Weinle, heute Ausbilderin und Teil des Rechnungs­wesens. Und für Kirchner wurde sogar eigens eine Stelle geschaffen.

100 Azubis seit 1976

Auch sonst sprechen die Zahlen für sich: „Wir haben mal nachgerechnet: Seit 1976 hatten wir 100 Azubis, jedes Jahr bis zu drei“, erzählt Keck, „von denen sind 21 noch da“. Bezieht man sich nur auf die Stellen im kaufmännischen und administrativen Bereich, sind fast 50 Prozent der 165 Mitarbeiter des Familienunternehmens langjährige Eigengewächse. Keck findet es total wichtig, „junge ­Erwachsene ans Berufsleben heranzuführen - das sehen wir auch als unsere gesellschaftliche Aufgabe“. Deswegen sind die Ausbilder auch sehr stolz auf die gelungene Integration eines eritreischen Flüchtlings – erst Praktikum, dann Einstiegsqualifizierung und erfolgreiche Ausbildung – und heute ist er Mitarbeiter des Hedinger-Teams Logistik.
Der Wunsch, etwas für den Zusammenhalt der Gesellschaft zu tun, ist auch der Grund dafür, dass Keck schon seit Jahren Prüferin ist, „und Janine Weinle habe ich es auch schon empfohlen“, lächelt sie.
Vier Beispiele, vier engagierte Ausbildungsbetriebe! Aber sie zeigen auch, es gibt keine Zaubertricks, kein Patent­rezept. Es ist eher wie in der Anekdote vom Londoner Gärtner. Als er gefragt wird, wie der sprichwörtliche englische Rasen so schön wird, antwortet er: „Regelmäßig gießen, düngen und schneiden – aber das 100 Jahre lang.“

Ausbildung braucht langen Atem

Eine Ausbildung dauert zum Glück keine 100 Jahre, aber auch hier geht es darum, sich zu kümmern, anzuleiten und die Richtung vorzugeben und dabei die jeweiligen Bedürfnisse der jungen Leute zu respektieren. Keine Frage, das ist nicht immer leicht. Aber dann hilft es, sich klar zu machen, was Janina Weinle so auf den Punkt bringt: „Am meisten fasziniert mich als Ausbilderin immer wieder, wie sich die jungen Leute in den zweieinhalb Jahren bei uns weiterent­wickeln.“
Dr. Annja Maga für Magazin Wirtschaft 7-8.2025
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