Sicherheit als Wirtschaftsfaktor
Unternehmen entdecken Verteidigung als neues Geschäftsfeld
Die geopolitischen Spannungen infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und des anhaltenden Nahostkonflikts haben die sicherheitspolitische Lage weltweit verändert – mit spürbaren Folgen auch für die deutsche Wirtschaft. Während viele Branchen unter der schwachen Konjunktur und dem Druck der Transformation leiden, rückt die Verteidigungsindustrie in den Fokus.
Am 2. Juli diskutierten im IHK-Haus Stuttgart über 300 Vertreterinnen und Vertreter aus Industrie, Bauwirtschaft und Dienstleistungssektor über die Chancen und Herausforderungen, die sich aus dem gestiegenen Bedarf an Rüstungsgütern und sicherheitsrelevanten Dienstleistungen ergeben. Die Veranstaltung „Aufträge rund um Sicherheit und Verteidigung“ der IHK-Auftragsberatungsstelle Baden-Württemberg mit Unterstützung des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus des Landes Baden-Württemberg, des Verbands Unternehmer Baden-Württemberg und des Enterprise Europe Networks, bot Einblicke in ein Marktsegment, das lange Zeit als politisch sensibel und wirtschaftlich schwer zugänglich galt.
Milliardenmarkt im Aufbau
Die Zahlen sind eindeutig: Die Bundesregierung plant, die Verteidigungsausgaben von derzeit rund 75 Milliarden Euro auf 170 Milliarden Euro bis ins Jahr 2029 zu steigern. Möglich wird dies durch das Sondervermögen Bundeswehr und die Aussetzung der Schuldenbremse für sicherheitsrelevante Investitionen. Auch auf internationaler Ebene wächst der Druck: Die NATO-Mitgliedsstaaten haben sich verpflichtet, bis 2035 fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aufzuwenden.
Für Unternehmen bedeutet das: Ein wachsender Markt mit langfristiger Perspektive – aber auch mit hohen Einstiegshürden. Neben ethischen Fragen stehen vor allem strategische Überlegungen im Vordergrund: Passt das eigene Produkt- oder Dienstleistungsportfolio zu den Anforderungen von Bundeswehr, NATO oder der Europäischen Verteidigungsagentur?
Zwischen Bürokratie und Bedarf

Claus Paal, Präsident der IHK Region Stuttgart sagte in seiner Begrüßungsrede, dass Sicherheit und Verteidigung zu zentralen Themen geworden seien. „Die Themen Sicherheit und Verteidigung sind einerseits eine Notwendigkeit, um Deutschland so schnell wie möglich verteidigungsfähig aufzustellen, sie bieten aber auf der anderen Seite Unternehmen die Chance neue Kunden und Märkte aufzubauen. Die IHK wird mithelfen, dass der Prozess schnell in Gang gesetzt wird.“
Holger Triebsch, Leiter der Abteilung Industrie, Innovation und Infrastruktur der IHK Region Stuttgart betonte in seiner Begrüßung die Notwendigkeit, militärische Investitionen mit zivilgesellschaftlichem Nutzen zu verknüpfen. Als Beispiele nannte er Investitionen in Infrastruktur und Katastrophenschutz.
Dass das Angebot der IHK-Organisation in Sachen Gesamtverteidigung beziehungsweise zivil-militärische-Zusammenarbeit auch Aspekte wie die Stärkung der Resilienz in den Unternehmen abdecke, erläuterte Tim Bartsch, Referent für Security und Defence bei der IHK-Bodensee-Oberschwaben, die das Thema für die baden-württembergischen IHKs koordiniert.

Für Michael Kleiner, Amtschef im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg, ist klar: „Ohne Sicherheit keine stabile Wertschöpfung, aber ohne stabile Wertschöpfung keine Sicherheit.“ Deswegen sei eine gute Mischung kleinerer, mittlerer und größerer Unternehmen, die zudem aus der Region kommen, wichtig für die Stabilität. Die Landesregierung unterstütze die baden-württembergischen Unternehmen auf ihrem Weg der Transformation.
Professor Dr. Michael Eßig von der Universität der Bundeswehr in München unterstrich in seiner Keynote die Bedeutung strategischer Beschaffung. Die öffentliche Hand müsse sich von einem rein administrativen Verständnis lösen und stärker auf Marktkenntnis und differenzierte Strategien setzen.

„Da stecken eine ganze Menge Chancen drin, Unternehmen müssen jedoch die Besonderheiten der Märkte verstehen und beachten. Die Bundeswehr hat besondere Anforderungen, die es schwieriger machen als in der Privatwirtschaft.“ Umso mehr würde sich Professor Eßig freuen, wenn sich innovative Unternehmen für öffentliche Aufträge bewerben.
Götz Witzel, unterstützt als langjähriger Berater Unternehmen bei der Geschäftsanbahnung und Geschäftsentwicklung mit Bundeswehr, NATO und EU. „Wir sind bereits in einer hybriden Auseinandersetzung – wir sind schon lange nicht mehr im Frieden.“ Witzel führte aus, dass durch Cyberangriffe und ähnliches im letzten Jahr 266,6 Milliarden Euro volkswirtschaftlicher Schaden entstanden sei. Er betonte, dass wir uns in der Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie von anderen Ländern unabhängig machen müssten. „Unsere Unternehmen haben da was zu bieten,“ ist sich Witzel sicher.

Chancen auch für den Mittelstand
Dass der Einstieg in die Wehrtechnik nicht nur Großunternehmen vorbehalten ist, machten Vertreterinnen und Vertreter der Bundeswehr deutlich. So stammen rund 88.000 der 100.000 Einzelteile eines Schützenpanzers vom Typ „Puma“ von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Nur 12 Prozent der Komponenten werden von Großkonzernen geliefert.
Auch im Bereich Dienstleistungen gibt es Bedarf: Die Bundeswehr unterhält rund 1.500 Liegenschaften mit über 33.000 Gebäuden – vom Gebäudemanagement bis zur IT-Infrastruktur. Wer hier erfolgreich sein will, muss nicht nur über technisches Know-how verfügen, sondern auch über die nötigen Zertifizierungen.
Nur wenig bekannt ist, dass die NATO über eigene Beschaffungsorganisationen wie die NATO Support and Procurement Agency (NSPA) verfügt, die im Auftrag ihrer Mitglieder, der NATO-Staaten, projektbezogene Beschaffungen durchführt. Ein Vertreter der NSPA ermunterte interessierte Unternehmen, sich direkt mit ihrem Portfolio auf der Homepage der NSPA zu registrieren.
Langfristige Strategie gefragt
Einigkeit herrschte unter den Referierenden darüber, dass der Verteidigungsmarkt ein langfristiges Geschäftsfeld sei. Unternehmen, die sich engagieren wollen, müssen strategisch und dauerhaft planen – auch mit Blick auf Geheimschutz, Spionageabwehr und personelle Ressourcen. Nur dann lohnen sich die Investitionen in ein Feld, das zunehmend an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung gewinnt.
Hintergrundinformation:
Die bei der IHK Region Stuttgart angesiedelte IHK-Auftragsberatungsstelle Baden-Württemberg ist die zentrale Serviceeinrichtung der Industrie- und Handelskammern im Bundesland Baden-Württemberg für Unternehmen, die mit der öffentlichen Hand ins Geschäft kommen wollen. Sie bietet Praxistipps von A wie Ausschreibung bis Z wie Zuschlag sowie Veranstaltungen zum Vergaberecht mit erfahrenen Praktikern.
Darüber hinaus berät sie öffentliche Auftraggeber im Land praxisnah rund um alle Fragen öffentlicher Ausschreibungen im Liefer- und Dienstleistungsbereich und unterstützt dabei, geeignete Bieterunternehmen zu finden.
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Holger Triebsch