Magazin Wirtschaft

Ludwig Erhard, die Sechstagewoche und der Südweststaat

Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Ein positiver Wendepunkt in der Geschichte unseres Landes und seiner Menschen. Aber was hat eigentlich die Unternehmen damals im Mai 1949 umgetrieben? Ein Blick in alte Ausgaben des IHK-Magazins offenbart Überraschendes.
Titelseite des IHK-Magazins von 1949
Ganz vergilbt und randvoll mit Schrift: Die Ausgabe des Industrie- und Handelsblattes vom 15. Mai 1949 © IHK
Dick und holzig fühlt sich das Papier an und ganz gelb sind die Seiten geworden: man sieht dem „Industrie- und Handelsblatt“ vom Mai 1949 an, wie schlecht die Zeiten waren. Zweiter Eindruck: eine Bleiwüste: keine Bilder und winzige Buchstaben, dicht gedrängt und nur 16 Seiten. Kein Zweifel, Papier war nicht nur schlecht, sondern auch noch Mangelware.

Ludwig Erhard spricht über „aktuelle Wirtschaftsprobleme“

Trotzdem ließ es sich die Redaktion nicht nehmen, eine halbe Seite zu „opfern“, um auf ein ganz besonderes Highlight hinzuweisen: den Vortrag von Professor Dr. Ludwig Erhard am 7. Mai 1949. Erhard, später erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik und als Personifizierung des deutschen Wirtschaftswunders im kollektiven Gedächtnis verankert, wurde damals noch vorgestellt als „Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, Frankfurt a. M. Der Vortrag über „Aktuelle Wirtschaftsprobleme“ fand im Festsaal des Furtbachhauses statt – damals eines der wenigen unzerstörten Versammlungsorte. Karten gabs für 3 Mark in der Liederhalle zu kaufen.

10 Monatsgehälter und 45-48 Wochenstunden für einen VW Käfer

Viel Geld, wenn man weiter hinten in der Ausgabe vom 1. Mai liest, dass 600 Mark die Grenze zum Geringverdienst ausmachten. Denn ein Jobticket, das es damals tatsächlich auch schon gab, erhielten all diejenigen vergünstigt, die weniger verdienten. Auch wenn man die niedrigeren Lebenshaltungskosten bedenkt, ist das wenig. Das Käfer-Standardmodell (der mit dem Brezelfenster) kostet mit 5.050 Mark annähernd zehn Monatsgehälter.
1949Militärreg
Die US-Militärregierung überträgt am 30. Juni 1945 die Geschäfte des Wirtschaftsreferenten auf die IHK Stuttgart, damals noch in der Gerokstraße 4
600 Euro, das sind circa drei Mark pro Stunde, denn – so wird weiter hinten berichtet - die Arbeitszeiten waren im Vorjahr wieder „auf den ursprünglichen Stand, d.h. 45 oder 48 Wochenstunden“ erhöht worden, wie man ein paar Seiten weiter liest. Dies wertet das „Industrie- und Handelsblatt“, so die Kurzform des Namens, als Beweis für die „langsame, stetige Aufwärtsentwicklung unseres Wirtschaftslebens“. Eine Tabelle zeigt, dass gleichzeitig der Urlaub um einen Tag reduziert wurden. Bis zum 25. Lebensjahr standen jungen Leuten gerade einmal zwölf Werktage zu, ab 31 waren es 15. Wobei das Wort „Werktage“ wichtig ist, denn gearbeitet wurde auch samstags.


Seit der Währungsreform müssen Chefs auch sonntags ran

Und in den Chefetagen sogar sonntags: Die IHK setzte sich (vergeblich) für die sonntägliche Briefzustellung ein, weil „die durch den Währungsschnitt ausgelöste Beschleunigung der Arbeitsvorgänge die Geschäftsleistungen immer mehr veranlasst, den Sonntag zur Arbeitsdisposition für die kommende Woche zu benutzen“, wie es an anderer Stelle heißt.
Ausführlich widmet sich die Maiausgabe 1949 der „Wirtschaftslage im Kammerbezirk“. Bekannt kommen dem heutigen Leser die Probleme mit der Lieferkette vor. Allerdings sind es ganz andere Dinge, die fehlen: Dynamoblechen, Walzmaterial, Ziegelwaren, Bimserzeugnissen, Textilrohstoff, Kohle und Öl. Immerhin, die Stromversorgung habe sich „deutlich gebessert“. Auch die Zurückhaltung der Kunden ist ein Thema, im Gegensatz zu heute aber trotz „des großen ungedeckten Bedarfs“. Als Grund wird Geldmangel vermutet, der „zu vorsichtigeren Einkaufsdispositionen“ führe. Auffällig übrigens, welch große Rolle die Lederindustrie im Konjunkturbericht spielt – damals noch ein wichtiger Produktionszweig in der Region, dessen Abschwung sich aber schon andeutet.

Bauindustrie schwächelt, dabei ist der Wiederaufbau längst nicht abgeschlossen

Vor allem mittlere und kleine Betriebe kämen so weit in Bedrängnis, dass „Entlassungen vereinzelt vorgenommen werden mussten“. Überraschend angesichts der Kriegszerstörungen: vor allem die Bauindustrie war betroffen. Und trotzdem „an tüchtigen Facharbeitern besteht weiterhin ein Mangel“. Doch die gefragten Berufe waren ganz andere als heute: „Der Bedarf an Schmieden, Gießereiarbeitern, Druckern, aber auch an Spinnerinnen und Weberinnen (man beachte die geschlechtliche Zuordnung) konnte nicht gedeckt werden“.   
Auch im Export scheinen die Aussichten bedrückt, und die Begründung weist durchaus Parallelen zu heute auf:  Viele frühere Absatzländer hätten inzwischen qualitativ aufgeholt. Aber auch die Bürokratie im Außenhandel wird beklagt sowie der ungünstige Wechselkurs: für eine Mark bekam man 30 US-Cents. Exportiert wurde aber durchaus, wie die einzige Anzeige in der Ausgabe vom 1. Mai zeigt: Darin wirbt die internationalen Spedition Heinrich von Wirth, die es bis heute gibt, nicht nur mit „Tägliche Lastzugverladung nach Rheinland-Westfalen“ und anderen westdeutschen Regionen, sondern - fett gedruckt – auch mit „Export=Verkehr“.
Die Schlussbemerkung könnte fast so auch heute unter einem Konjunkturbericht stehen: „Für die weitere Entwicklung der Wirtschaft wird von entscheidender Bedeutung sein, ob es u.a. gelingt, den Baumarkt … wieder zu beleben, ausländische Rohstoffe preiswert und in ausreichender Menge zu beziehen und eine Übereinstimmung der steuerlichen Belastung mit den Erfordernissen der Wirtschaft… durchzuführen.“

IHK-Aufgaben: von A wie Ausbildung bis Z wie Zollfragen

Bronzebüste auf Sockel
Franz Mittelbach war Präsident der IHK Stuttgart vom Dezember 1945 bis zum 29. Juni 1953. © IHK
Die IHK setzt sich auch für weitere wirtschaftsrelevante Themen ein, und manche der Aufgaben haben sich zumindest nominal bis heute nicht geändert und finden damals wie heute ihren Niederschlag im IHK-Magazin. Zollfragen zum Beispiel, natürlich die Berufsausbildung oder die Schlichtungsstelle zur Beilegung von Streitigkeiten. Nicht fehlen durfte auch die „Jubiläumstafel“. Die Württembergische Eisenbahngesellschaft, die damals ihren 50. Geburtstag feierte, gibt es heute noch, wenn auch als Teil der Transdev GmbH. Selbst eine wärmewirtschaftliche Überprüfung wurde angeboten. Allerdings ging es nicht wie bei heutigen ähnlichen Projekten um die Umwelt, sondern darum, kostbare Kohle einzusparen.
Auch die Kooperationsbörse, die die IHKs bis heute deutschlandweit pflegen, gab es schon. So suchte beispielsweise ein Münchener Anbieter für Büstenhalter und modische Damenwäsche einen Vertreter, und einen Wickelei aus Stuttgart übernahm „das Bewickeln von Magnetspulen, Relais-Spulen, Drosselspulen für alle Zwecke, Kupferlackdraht wird gestellt“.

Bundesrepublik? Fehlanzeige - Baden-Württemberg: unbedingt!

Nur eines vermisst man aus heutiger Sicht: das Grundgesetz wird nirgends erwähnt – wohl weil die Menschen andere Sorgen hatten? Stattdessen ist von „bizonalen Arbeitsgemeinschaften“ die Rede oder von „den drei Westzonen“. Nur ganz versteckt findet sich ein Hinweis, dass „die Gouverneure der beiden Besatzungsmächte geäußert haben, dass … die Neuregelung der Ländergrenzen Sache des Bundes sein wird“.
Schwarz-weiß Foto von Adenauer bei Unterschreiben
Am 23. Mai 1949 unterzeichnete der spätere erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, unser Grundgesetz. © DPA
Dabei geht es um die Gründung Baden-Württembergs und die ist der IHK so wichtig, dass die Entschließung dazu eine Viertelseite einnimmt: zusammen mit den damals noch existierenden Schwester-IHKs in Esslingen, Nürtingen, Heidenheim, Heilbronn, Ulm und Ludwigsburg spricht sich die IHK Stuttgart „dringlich für die baldige Gründung eines Südweststaates“ aus. 
Dr. Annja Maga, Redakteurin Magazin Wirtschaft