22. Juli 2023

MoVe35: Wirtschaft bleibt gesprächsbereit

Die Mehrheit der Marburger Stadtverordnetenversammlung hat am Freitag (21. Juli 2023) das Mobilitäts- und Verkehrskonzept Move35 verabschiedet und damit den Weg für Zwangsmaßnahmen wie Einbahnstraßen, Straßensperrungen und den Rückbau von Parkplätzen geebnet. Diese sollen dabei helfen, den motorisierten Individualverkehr zu verlangsamen und zu einem großen Teil aus der Stadt zu drängen.
„Wir bedauern diese Entscheidung zutiefst und befürchten nachhaltige Schäden vor allem für kleine und mittlere Unternehmen. Viele von ihnen sind durch diesen politischen Beschluss im höchsten Maße verunsichert“, sagt Udo Diehl, Vorsitzender der Marburger Regionalversammlung der Industrie- und Handelskammer (IHK) Kassel-Marburg. „Aus unserer Sicht lässt sich die Mobilität der Zukunft – und damit auch die von der Politik äußerst ambitioniert gesetzten ökologischen Ziele – nur gemeinsam mit der regionalen Wirtschaft gestalten und erreichen, und nicht gegen sie.“ Der Beschluss für MoVe35 gefährdet die Attraktivität und die Substanz des Wirtschafts- und Einzelhandelsstandorts Marburg, er bedroht Arbeitsplätze und Gewerbesteuereinnahmen.  
Ein wesentlicher Knackpunkt: Das Verkehrs- und Mobilitätskonzept unterscheidet nicht zwischen Fahrzeugen mit einem Verbrenner- und einem Elektromotor – und dass, obwohl Bund und EU die Antriebswende hin zur E-Mobilität forcieren und fördern. Der Vorschlag von Wirtschaftsvertretern im MoVe35-Beirat, als Zielgröße die Kfz-Emissionen zu verringern und damit als Maßstab den Ausstoß und nicht die Kfz-Stückzahl zu nutzen, wurde als „Einzelmeinung“ deklariert. Darüber hinaus widerspricht MoVe35 nun offen dem Ziel- und Leitsystem, das die Marburger Stadtverordnetenversammlung im Spätherbst 2021 selbst verabschiedet hatte und ebenfalls Teil des Endberichts ist: Die Kfz-Mengen seien anreizbasiert zu verringern, und nicht durch Zwangsmaßnahmen. Dafür sollten attraktive Alternativen ausgebaut werden – die auch für die rund 29.000 Beschäftigten äußerst interessant sein dürften, die täglich mit dem Auto in die Stadt pendeln, da keine leistungsfähige ÖPNV-Alternative existiert.  
Das bestehende Ziel- und Leitsystem ignorierend, sieht MoVe35 nun unter anderem vor, die Parkplätze in den ersten drei Jahren um insgesamt zehn Prozent zu verringern, anschließend um weitere zehn Prozent pro Jahr, sowie für wichtige Hauptverkehrsachsen wie Firmaneiplatz/Deutschhausstraße und Biegenstraße eine Einbahnstraßenregelung einzuführen. In der Folge verdichten sich Knotenpunkte wie Schwanallee, Universitätsstraße und Bahnhofstraße weiter, Staus nehmen zu, Verkehre weichen aus, Umweltbelastungen und Emissionen erhöhen sich.       
Bis zuletzt hatte die IHK in Marburg versucht, die politischen Entscheiderinnen und Entscheider davon zu überzeugen, einen tragfähigen Kompromiss mit der Wirtschaft vor Ort zu finden. MoVe35 enthalte durchaus begrüßens- und unterstützungswerte Stellschrauben. Beim Thema Verkehr gehe es bei MoVe35 aber um Verdrängung, weniger um Lösung, hatten die Unternehmerinnen und Unternehmer der IHK-Regionalversammlung bereits im Vorfeld deutlich gemacht. Zugleich bekräftigten sie erneut, dass die regionale Wirtschaft an der Seite der Stadt und ihrem Vorhaben steht, bis 2035 eine zukunftsorientierte, klimafreundliche und vielfältige Mobilität zu erreichen. Allerdings fanden im Ergebnis die Interessen eines großen Teils der in Marburg ansässigen Unternehmen kaum Berücksichtigung – viele der stationären Händler und Dienstleistungsunternehmen haben täglich ihre Sorgen mitgeteilt, zum Teil fühlen sie sich in ihrer Existenz bedroht.  
 „Allein der Hinweis, dass sowohl Kunden als auch Arbeits- und Fachkräfte mit ihrem Auto in Marburg nicht willkommen sind, führt bereits zu einem Standortschaden“, kritisiert der Vorstand der IHK-Regionalversammlung, bestehend aus Udo Diehl (Udo Diehl Reisen GmbH & Co. KG, Wetter), Andreas W. Ditze (tripuls media innovations gmbh, Marburg) und Karl-Heinz Feußner (Ferrero OHG mbh, Stadtallendorf). „Hier wird der zweite Schritt vor dem ersten gemacht: Ausreichende und konkurrenzfähige Alternativen zum motorisierten Individualverkehr sind nicht vorhanden.“ Hierzu zählen sie unter anderem den grundlegenden Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) mit einer deutlich höheren Taktung und gegebenenfalls neuen Linien, das Einführen einer städtischen Mitfahrer-App nach dem Vorbild einer vergleichbaren App am Standort Behringwerke sowie kostenlose attraktive Park+Ride-Plätze mit gut getakteten kostenlosen Shuttle-Bussen in die Kernstadt.  
„Die Priorität sollte auch in Zukunft darauf liegen, eine funktionierende und attraktive alternative Erreichbarkeit aus dem Umland und den Ortsteilen aufzubauen und nicht darauf, den motorisierten Individualverkehr durch Fahrverbote oder Parkplatzrückbau zu benachteiligen“, resümieren Diehl, Ditze und Feußner. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass Handel, Dienstleister und Industrie ihrem Versorgungsauftrag nicht mehr nachkommen können und dass sich starke und innovative Unternehmen mittelfristig von Marburg abwenden, indem sie sich zum Beispiel in Umlandgemeinden ansiedeln.  
Die IHK Kassel-Marburg setzt auch künftig auf Dialog und die Suche nach dem besten Kompromiss, der die Interessen und die Bedeutung der lokalen Wirtschaft angemessen berücksichtigt. Oskar Edelmann, stellvertretender IHK-Hauptgeschäftsführer und Leiter der Geschäftsstelle Marburg, betont: „Wir unterstützen die Stadt Marburg weiterhin fachlich konstruktiv bei der großen Herausforderung, das Gleichgewicht zwischen ökologischen und ökonomischen Zielen zu finden, um gemeinsam eine bessere Zukunft zu gestalten.“