Unternehmen & Märkte

Wir sind Unternehmer

Ein Unternehmen bewältigt den Generationswechsel mit einer außergewöhnlichen Gesellschaftskonstruktion. Ein Nachfolgemodell für manche, aber nicht für alle.  (von Ingrid Haarbeck) 
Was tun, wenn die Unternehmensgründer in Rente gehen? – Zum Beispiel das Unternehmen an die Mitarbeiter verkaufen. Klingt wie eine sozialistische Forderung, ist aber das Modell, das die IT-Unternehmensberatung viadee in Münster gewählt hat.
Eine „coole Idee“, findet Vorstand Dr. Volker Oshege, und kann sich gut vorstellen, dass die Idee auch für andere Unternehmen funktionieren könnte. Er und seine Mit- Vorständin Rita Helter mussten aber auch die rechtlichen und steuerlichen Fallstricke auf dem Weg dorthin erkennen.
Dr. Volker Oshege
© viadee
Gegründet wurde das Unternehmen 1994 von gleich acht Gründerinnen und Gründern – allein das ist schon bemerkenswert. Die erste Geschäftsführerriege kannte sich aus der Beratungstätigkeit in einem anderen Unternehmen und war sich einig: „So wollen wir unser Unternehmen nicht führen.“ Sie haben, wie es Helter formuliert: „den Umgang untereinander dort und auch die Beratungsethik als defizitär empfunden“. Also schufen sie ein Unternehmen, das sich von Anfang an stark an den Mitarbeitenden orientierte. Ebenso bemerkenswert wie die Gründung des Unternehmens lief auch der Ausstieg der Gründergeneration. „ Sie wollten nicht, dass hier irgendwann acht Greise sitzen und die Geschäftsführung gängeln“, verdeutlicht es Oshege. Die Zielvorstellung war eher: Das Unternehmen als mitarbeitergesteuerte Gesellschaft erhalten, und zwar dauerhaft.
 
viadee Unternehmensberatung AG
Gegründet 1994 in Münster, Niederlassungen in Köln und Dortmund
2018 Umwandlung in AG
Vorstand: Rita Helter und Dr. Volker Oshege
Mitarbeitende: 205
Umsatz 2022: 32,4 Millionen Euro
Schwerpunkte:  Individuelle Softwareentwicklung, agile Arbeitsmethoden, IT-Sicherheit, Data Science, Java & Architektur, Robotic Process Automation
Mehrfach ausgezeichnet als „Great Place to Work“, zuletzt 2018, 2020 und 2022.
Eine Vorstellung, die übrigens nicht als sozialromantisch verkannt werden darf: „Wir wollen hier Gewinne machen, und das machen wir, weil wir so arbeiten, wie wir arbeiten, nicht trotzdem“, stellt Oshege klar. Der Weg hin zur Mitarbeiterkapitalbeteiligung war allerdings dann doch wesentlich steiniger, als zunächst vermutet – und vor allem wenig ausgetreten, denn Vorbilder gab es dafür nicht. Helter, die sich als Vorständin für Personal und Finanzen intensiv mit dem Prozess auseinandergesetzt hat, macht keinen Hehl aus der enormen Lernkurve, die auch die viadee- Geschäftsleitung durchlaufen musste. Die Umwandlung in eine AG war da noch der einfache Teil. Zum einen konnte das Unternehmen nicht einfach aus jedem Mitarbeitendem einen Aktionär machen. Das Arbeitsrecht schützt Mitarbeitende vor ihrer eigenen, vermuteten Unwissenheit. Also musste eine GbR her, die Anteile an der viadee hält. Aus steuerrechtlichen Gründen müssen immer wieder neue GbRs gegründet werden, damit nicht bei jeder neuen Beteiligung eines Mitarbeiters der fiktive Gewinn bei den einzelnen Gesellschaftern versteuert werden muss.

Insgesamt gibt es drei Beteiligungsformen bei der viadee: Die Beteiligung über Aktien, über eine GbR oder eine stille Beteiligung.
Die Belegschaft der viadee ist offensichtlich überzeugt vom Erfolg der eigenen Firma: Bei 205 Mitarbeitenden gibt es 18 direkte Aktionäre, 47 Mitarbeitende mit einer GbR-Beteiligung und 102 mit einer stillen Beteiligung. Seit der ersten Runde sind die Aktien überzeichnet, ein deutlicher Vertrauensbeweis. Der Preis der Aktien wird nach einer festgelegten Formel bestimmt, der die Gründerriege zugestimmt hat. Ebenso hatte sie sich in einem LOI verpflichtet, von 2018
Rita Helter
© viadee
bis 2023 jedes Jahr Aktienpakete in signifikanter Höhe zu verkaufen. Im kommenden Jahr werden so 40 Prozent des Unternehmens in Mitarbeiterhand sein. Im nächsten Schritt wird darüber gesprochen, in welcher Höhe Anteile in den kommenden Jahren verkauft werden. „Diese Bereitschaft ist wesentliche Voraussetzung für das Gelingen dieses Modells“, weiß Oshege. Denn in den renditestarken Corona-Jahren hätte ein gewinnorientierter Gründer rechtlich gesehen auch durchaus seine Anteile halten und auf die guten Dividenden warten können, schließlich sind die Zusagen der Gründer nicht rechtsverbindlich. Genau hier sieht er auch die Beschränkung dieses Modells für andere Unternehmen. „Die Partizipation der Belegschaft an den Unternehmensgewinnen über Tantiemen hinaus wird bisher noch in vielen Unternehmen ausgeblendet – aber für alle, die so wie wir in ihrem Duktus als Mitarbeiter-Unternehmen einen Gewinn sehen, ist das eine sehr gute Möglichkeit.“ 
Helter und Oshege sehen in der Mitarbeiterkapitalbeteiligung ausdrücklich nicht vorrangig ein Instrument der Fachkräftegewinnung. „In den Bewerbungsgesprächen fragen zwar manche nach Tantiemen, weil sie das von anderen Unternehmen kennen, aber das Thema der Mitarbeiterkapitalbeteiligung spielt nur eine untergeordnete Rolle“, hat Helter beobachtet. Überhaupt gewinnt die viadee ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hauptsächlich als Praktikanten oder Werkstudenten. „Wir haben hier einen Mitarbeiter, der hieß lange Zeit intern nur der Diplomator, weil er im Laufe der Zeit die Abschlussarbeiten von über 100 Studierenden betreut hatte“, erinnert sich Helter. Der Mitarbeiter hat inzwischen ein anderes Aufgabengebiet, aber immer noch sind dutzende der von ihm Betreuten im Unternehmen tätig. Abschlussarbeiten mit einem praktischen Bezug zur Arbeit der viadee betreuen inzwischen gleich drei viadee-Mitarbeiter.
Helter freut sich über die so in das Unternehmen „gewachsenen“ Mitarbeiter besonders, weil sie von Anfang an in die Unternehmenskultur passen. Wenn sie Neue einstellt, die aus anderen Unternehmensberatungen kommen, erleben die meist erst einmal eine Art Realitätsschock. Viele Unternehmensberatungen sind dafür bekannt, ihre Mitarbeiter für rund um die Uhr verfügbar zu halten und sie auf reichlich Dienstreisen zu schicken. „Bei uns arbeitet vielleicht auch mal jemand 50 oder 60 Stunden in der Woche, aber dann nur, weil er oder sie gerade an einem Projekt oder einer Idee arbeitet und die unbedingt voranbringen möchte“, versichert Oshege. „Unser Gehaltsmodell ist auf 40 Stunden ausgelegt“, erläutert Helter, „Überstunden werden bei uns, anders als bei den meisten Beratungen, bezahlt – mit Aufschlag.“ Arbeitet jemand deutlich zu viel, wird nachgefragt, ob derjenige einfach gerade fieberhaft an einer Idee arbeitet oder aber Unterstützung braucht. Ihre Mitarbeiter, weiß Helter, sind schon „ besonders“, weil sie mit hoher intrinsischer Motivation arbeiten. „Viele Unternehmen behaupten ja von sich, besonders cool zu sein, aber hier sind die Neuen manchmal überrascht, dass es bei uns noch viel cooler ist, als sie es sich vorgestellt haben“, freut sich Oshege.

Vom Realitätsschock blieb auch der Vorstand selbst nicht verschont. Oshege kam von einer Unternehmenskultur, in der der Wert eines Mitarbeiters anhand seines Dienstwagens und der Anzahl der Fenster im Büro beziffert wurde. „Das Miteinander hier hat mich erst einmal verwirrt – ich bin zwei Jahre lang durchs Unternehmen gelaufen und habe unter jeden Teppich geschaut, bis ich verstanden habe, dass viadee nicht trotz, sondern wegen der starken Mitarbeiterorientierung so erfolgreich ist.“
Einen fest vereinbarten Zeitpunkt, zu dem die Anteile der AG komplett an die Mitarbeiter übergegangen sein werden, gibt es nicht. Vielmehr sehen Helter und Oshege den Übergang als einen Prozess, ein rollierendes System, mit dem sichergestellt wird, dass das Unternehmen und sein Erfolg in den Händen der Belegschaft sind. Denn jeder, der Aktien zeichne, habe aufgrund der Unternehmenskultur Einfluss auf den Erfolg des Unternehmens. Und das, so bekräftigt Helter, sei der Grundgedanke des Übergabeprozesses der Gründerriege gewesen: „Das Unternehmen soll weiterhin denjenigen gehören, die es tagtäglich gestalten.“.