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Nr. 6519336
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Drittstaatenhändler
Billigpäckchen aus Fernost
Die Shoppingplattformen Temu und SHEIN sind mit fragwürdigen Schnäppchenangeboten enorm erfolgreich. Während die Politik Sanktionen und Schutzmaßnahmen plant, sollte sich der hiesige Einzelhandel selbst stark machen. | Text: Melanie Rübartsch
Berger, der auch Vorsitzender des IHK-Handelsausschusses ist, ärgert das sehr: „Der günstige Preis kommt zustande, weil die Unternehmen systematisch Zoll- und Steuergesetze umgehen und nicht sichergestellt ist, dass sie europäische Standards in Sachen Produktsicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz einhalten.“ Das habe absolut nichts mit fairem Wettbewerb zu tun. Ob und wie stark sein Umsatz unmittelbar unter der Billigkonkurrenz tatsächlich leidet, kann er nicht wirklich messen. „Es reicht aber schon, dass diese Unternehmen die Preiswahrnehmung unserer Kunden verändern. Man erwartet inzwischen einfach, dass Sachen billig sein müssen“, so die Beobachtungen des Händlers.
Der günstige Preis kommt zustande, weil die Unternehmen systematisch Zoll- und Steuergesetze umgehen.
Christoph Berger
Die Konkurrenz aus Fernost hat sich binnen kürzester Zeit zu beachtlicher Größe in Deutschland entwickelt. Während SHEIN vor allem billige Klamotten und Accessoires ins Land spült, ist Temu so eine Art Gemischtwarenladen der Schnäppchenkultur. Temu ist eine Tochterfirma des Digitalriesen PDD aus Shanghai, SHEIN wurde in China gegründet und agiert mittlerweile von Singapur aus. Nach Zahlen des Bundesverband E-Commerce und Versandhandel e.V. entfielen 2024 bereits fast sechs Prozent aller Onlinekäufe auf Plattformen mit Ursprung in der Volksrepublik. Nach Erhebungen des Forschungsinstituts ibi research an der Universität Regensburg GmbH hat Temu inzwischen monatlich 75 Millionen aktive Nutzer in der EU, SHEIN 108 Millionen und AliExpress 149 Millionen. Circa 400.000 Sendungen kommen täglich über diese Direktvertriebsmodelle nach Deutschland. „Der Absatzerfolg basiert auf der einen Seite auf innovativen, datenbasierten Geschäfts- und Logistikmodellen. Auf der anderen Seite aber eben auch auf dreistem Umgehen hiesiger Zoll- und Verbraucherschutzvorschriften“, fasst Jens von Lengerke, Abteilungsleiter Handel bei der IHK Nord Westfalen, zusammen. Längst stehen die Anbieter daher im Fokus von Politik und Wirtschaftsverbänden. Doch bis gesetzgeberische Maßnahmen wirken, wird es dauern. „Hiesige Einzelhändler müssen daher gut überlegen, wie sie sich in der Zwischenzeit gut von dieser Konkurrenz absetzen“, sagt der Experte.
Die Strategie der Anbieter hat ibi research im Auftrag des Handelsverband Deutschland (HDE) im Herbst 2024 detailliert analysiert. Der Erfolg basiere vor allem auf dem Einsatz intelligenter Daten, einem omnipräsenten Social-Media-Marketing sowie einer agilen Lieferkette. Temu und SHEIN selbst sind Vermittler, die in Fernost produzierte Waren ohne weiteren Zwischenhändler direkt vom Hersteller zum Endkunden bringen. Ihr Geld verdienen sie weniger mit der Transaktion, sondern mit der Vermarktung der Produkte.
Produktlinien extrem schnell anpassen
Dabei praktizieren sie das so genannte Consumer-to-Manufacturer-Modell (C2M). Mithilfe von Algorithmen analysieren sie in Echtzeit Verbrauchertrends und können die Produktlinien extrem schnell anpassen. Nach dem Prinzip „small order, quick reorder“ werden zunächst nur kleine Mengen hergestellt und später nach – wiederum in Echtzeit ermitteltem – Bedarf passgenau nachproduziert.
Die Plattformen pumpen zugleich milliardenschwere Marketingbudgets in Google-Ads und Social-Media-Kampagnen. „Die Anzeigenpreise bei Google haben sich dadurch allein von 2023 bis 2024 mehr als verdoppelt“, musste Christoph Berger feststellen. Nicht selten hinterlegen Temu und Co. bei ihren Online-Anzeigen zudem direkt alle möglichen Städtenamen als Keyword, sodass sie auch als regionaler Platzhirsch auftauchen.
Auf den Seiten der Verkaufsplattformen selbst kommt Psychologie ins Spiel: Durchlaufende Banner, animierte Bilder oder Hinweise auf zeitlich begrenzte Rabatte erzeugen Kauflust und -druck. Hinzu kommt der Einsatz von Gamification, also die Integration von spielerischen Elementen im Shoppingprozess. So bietet etwa Temu immer wieder Aktionen an, bei denen sich die Kunden über Glücksräder Rabatte erspielen können.
Eine Million Päckchen aus China täglich
Die Masse macht’s. Auch beim Versand. Der belgische Regionalflughafen Lüttich ist für Temu und Co. mittlerweile einer der größten Luftfrachtumschlagplätze Europas. Täglich landen hier mehr als eine Million kleine Päckchen aus China. Der Zoll in Lüttich kommt kaum noch nach. Müsste er aber. Denn für Pakete über einem Warenwert von 150 Euro muss bei der Einfuhr nach Europa Zoll entrichtet werden. Die meisten chinesischen Lieferungen sind indes – oft schlicht falsch – als günstigere Päckchen deklariert. Die EU-Kommission geht davon aus, dass der Warenwert allein im Jahr 2023 in zwei Milliarden Fällen über 150 Euro lag. Lax gehen die Plattformen auch mit der Produktsicherheit um. Die für die Online-Marktüberwachung zuständige Bundesnetzagentur spürt regelmäßig Produkte auf, die gar keine Freigabe für den europäischen Markt haben – mangels CE-Kennzeichen, mangels Konformitätsunterlagen, mangels nachgewiesener Sicherheit.
Forderungen der DIHK
Hiesige Wirtschaftsorganisationen sind alarmiert. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) hat wie der HDE, die Deutsche Steuer-Gewerkschaft e.V. und der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. mittlerweile klare Forderungen an Legislative und Exekutive veröffentlicht. Gefordert werden unter anderem eine konsequente Umsetzung europäischer Standards gegenüber Handelsunternehmen aus Drittstaaten, effizientere Kontrollmöglichkeiten der Zollbehörden auch durch Aufstockung des Personals oder eine Abschaffung der 150-Euro-Zollfreigrenze. Mittlerweile hat die EU-Kommission offizielle Untersuchungen gegen Temu und SHEIN eingeleitet. Es sollen Verstöße gegen den Verbraucherschutz sowie gegen das Gesetz über digitale Dienste (DSA) geprüft werden. Zudem plant die Kommission, eine generelle Bearbeitungsgebühr für Pakete von Onlinehändlern wie Temu und SHEIN einzuführen. Europaparlament und EU-Staaten müssen dem Vorhaben noch zustimmen.
Was können Händler tun?
Es ist also einiges in Bewegung geraten. Aber wie können Händler ihr Geschäft in der Zwischenzeit absichern? „Mit Blick auf den Preiskampf sollten sie eine absolute Vergleichbarkeit ihres Angebots mit der Palette von Temu und Co. vermeiden“, rät IHK-Experte von Lengerke. Für alle, die zum Beispiel das klassische weiße T-Shirt, einfache Dekoartikel oder Solarlampen für den Garten online anbieten, seien die Lager- und Logistikkosten einfach zu teuer. Wer hingegen Besonderes im Sortiment hat, müsse das genau so verkaufen und anpreisen. „Das kann ein spezielles Produkt sein, aber auch eine besondere Qualität oder Services“, so von Lengerke. Kundenfreundlichkeit, kurze Lieferzeiten, echte und erreichbare Ansprechpartner, einfaches und günstiges Retourenmanagement, nachhaltige, nicht auf den schnellen Wegwerfkonsum und Ultra-Fast-Fashionausgerichtete Geschäftsmodelle – mit all dem können hiesige Händler gegenüber den chinesischen Herausforderern punkten. „Es gibt inzwischen schließlich genügend deutsche Kunden, die schlechte Erfahrungen mit den Plattformen gemacht haben“, sagt von Lengerke.
Das erstandene Produkt sollte am Ende die Trophäe der erlebten Geschichte sein.
Christoph Berger
Christoph Berger warnt indes davor, die SHEINS dieser Welt einfach aussitzen zu wollen, in der Hoffnung, dass sich Kunden irgendwann entnervt abwenden. „Die Unternehmen sind so aufgestellt, dass sie Absatzzahlen blitzschnell analysieren und ihre Geschäftsmodelle darauf einstellen können“, meint er. Umso wichtiger sei es, dass auch hiesige Händler fortschrittlich denken. Christoph Berger etwa setzt bereits seit Längerem ebenfalls KI ein. Zum Beispiel zu einer passgenaueren Ermittlung der Kundenbedarfe, einem vorausschauenden Einkauf oder intelligenter Lagerhaltung.
Auch Gamification hat er im Auge. „Dabei denke ich aber nicht an eine permanente Befeuerung mit Glücksspielen, sondern an gut gemachte Kundenbindungsprogramme und den Aufbau von Kundencommunities.“ Auch die App des Modehauses Ebbers bietet manchmal Gewinnspiele, oder es kann mal ein Coupon im Laden gescannt werden, um an einem Gewinnspiel teilzunehmen.
Aus Bergers Sicht muss das Shoppingerlebnis als solches wieder stärker in den Mittelpunkt. „Das erstandene Produkt sollte am Ende die Trophäe der erlebten Geschichte sein“, beschreibt er es. Zum Beispiel die Tasche mit austauschbaren Klappen.