Magazin Wirtschaft

Unternehmensnachfolge: Damit es weitergeht

Zu den einschneidendsten Ereignissen im Leben der meisten Menschen gehört sicher der Start ins Berufsleben und der Eintritt in den Ruhestand. Das ist schon für normale Arbeitnehmer so. Um wieviel mehr für Selbstständige! Denn wer ein Unternehmen abgibt oder eines übernimmt, für den ändert sich das Leben auf der ganzen Linie: das eigene Selbstverständnis, die Rolle in der Familie, die finanziellen Gegebenheiten, vielleicht sogar der Wohnort und natürlich die beruflichen Herausforderungen. Entsprechend emotional ist das Thema besetzt. Wir haben uns in der Region umgeschaut, wie Unternehmer damit umgehen.

Nachfolgefähige Strukturen frühzeitig entwickeln

Zum Beispiel Andreas Urbez und Wolfgang Schwenger. Die beiden sind Geschäftsführer der Carl Stahl GmbH in Süßen. Das Familienunternehmen in fünfter Generation ist ein weltweit tätiger Spezialist für das Heben von Lasten nebst dazugehörigen Dienstleistungen. Vor drei Jahren haben die beiden Schwager mit der Gestaltung des Nachfolgeprozesses begonnen. Damals waren sie erst 50 beziehungsweise 54 Jahre alt. „Wir wollten nicht in die Falle tappen wie so viele und unkoordiniert übergeben“, erklärt Urbez. Die Initialzündung gab der Werbeflyer einer Unternehmensberatung, die ein Seminar zum Thema „Nachfolgefähige ­Strukturen“ anbot. „Die Eltern leben noch, in unserer Generation sind wir drei Gesellschafter, in der nächsten sogar zehn“, begründet Schwenger, warum genau dieser Ansatz ins Schwarze traf.
Wir wollten nicht in die Falle tappen wie so viele und unkoordiniert übergeben

Andreas Urbez, Geschäftsführer der Carl Stahl GmbH in Süßen

Können die Jungen nicht einfach in die Fußstapfen ihrer Väter treten? „Theoretisch schon, aber wir wissen nicht, ob wir das wollen“, meint Urbez. Sie beide seien in das Unternehmen hineingewachsen, das mittlerweile 66 Standorte in neun Beteiligungen hat. „So easy“ sei es heute nicht mehr, einzusteigen, ergänzt Schwenger. Die Aufgaben seien nicht so leicht zu definieren. Und überhaupt: Wo sollte der Einstieg erfolgen? An der Werkbank oder gleich ganz oben? Die operative Nachfolge steht allerdings aktuell auch gar nicht auf der Agenda. Schließlich haben beide noch an die zehn Jahre bis zum Ruhestand. „Jetzt geht es erst einmal um die Struktur als Familienunternehmen. Und da sollen sich alle gleichberechtigt engagieren, alle an einem Strang ziehen“, erklärt Urbez.
Die mittlere Generation hat den Prozess initiiert. Dazu gab es in sechswöchigem Abstand eineinhalbtägige Treffen. Dabei habe es auch immer mal wieder geknallt. „Ohne Moderator hätte das auch schwierig ausgehen können“, ist Urbez überzeugt. Auf einem Familientag wurden schließlich die Eltern und deren Enkel mit ins Boot geholt. „Vorher haben wir uns nur zu Festen gesehen, und einige von uns wohnen auch gar nicht in der Region“, sagt Schwenger. Nun sei man in ganz anderen Rollen zusammengekommen.

Eine Familienverfassung legt die Regeln fest

Am Ende dieses Prozesses steht eine Familienverfassung, die jeder Einzelne unterschreiben muss. „Die enthält nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten“, erzählt Schwenger und nennt es ein „geliehenes Erbe“. Eine der Pflichten ist die Fortbildung in betriebswirtschaftlichen Fragen, damit die Gesellschafter sich qualifiziert einbringen können. Auch zu den Unternehmenswerten muss man sich ausdrücklich bekennen, also zu Leistung, Toleranz, Bodenständigkeit, Verantwortung und Zusammenhalt. Verlangt wird zudem, dass alle finanziell auf eigenen Beinen stehen und nicht auf eventuelle Ausschüttung angewiesen sind.
Auch strukturell hat die Unternehmerfamilie Hand angelegt. Eine neue Dachgesellschaft sichert den Inhabern weiterhin ausreichend Einfluss zu, ohne jedoch den Spielraum des operativen Managements einzuschränken. Als verbindende Schnittstelle wird bei der Carl Stahl Holding GmbH, der Dachgesellschaft aller unternehmerischen Beteiligungen, ein Beirat etabliert, in dem die Expertise familienfremder Dritter aus strategisch wichtigen Disziplinen hinzugezogen wird.
Wie die beiden Schwager vom Übergabeprozess erzählen, so ­ruhig und relaxed, aber auch so sicher und entschieden – das überrascht auf den ersten Blick. Tut es denn gar nicht weh, nach 24 beziehungsweise 30 Jahren als Entscheider Macht abzugeben? Schwenger knabbert noch etwas. Für Urbez hingegen ist es „Luxus pur“, das Thema rechtzeitig und damit ohne jeglichen Zeitdruck angegangen zu sein.

Spätestens mit 60 sollte alles in trockenen Tüchern sein

Carl Stahl hat 1700 Mitarbeiter, Mize 15. Aber auch Mize-­Gründer Joachim Kurrle wollte noch eine „5“ vorn haben, wenn er seine Nachfolge in trockene Tücher bringt. Und auch er stammt aus einer Unternehmerfamilie: Kurrle Senior betrieb im Fellbacher Altort das größte Bürofachgeschäft weit und breit. Sohn Joachim lernte dort ­Büromaschinenmechaniker und war eigentlich für die Nachfolge vorgesehen.
Doch ausgerechnet eine Idee des Vaters brachte den Sohn auf eine ganz andere Schiene. „1994 ­fragte Vater mich, ob ich während des Fellbacher Herbstes mit meinem Bruder den Kuchenverkauf vorm Geschäft übernehmen könnte.“ Daraus wurde „s‘Höfle bei Jo und Stefan“. Das machte so viel Spaß, dass die Brüder daraus ein blühendes Catering machten – neben­beruflich. „Doch Vater wollte, dass ich die „Tässlesvermietung“ aufgab. So nannte er das, weil ich auch Geschirr vermietete, das die ­Kunden samstags im Laden abholten“, erinnert sich Joachim Kurrle. Er entschied sich für sein eigenes Geschäft. „Stinksauer“ sei der ­Vater damals gewesen.

Regel Nummer Eins: Respekt für  die Lebensplanungen des Nachwuchses

Das Bürogeschäft gibt es heute nicht mehr. Aus Mize hingegen, wie Kurrle seine Vermietung von Veranstaltungszelten inklusive Komplettzubehör nannte, ist ein Unternehmen geworden, dessen Logo an fast keinem Event in der Region fehlt. Kurrle ist Jahrgang 1964. Wie sein Vater hat er vier Kinder. Wenn er eines davon als Nachfolger gewinnen will, das war ihm klar, ist Respekt für die Interessen und die Lebensplanungen des Nachwuchses Regel Nummer Eins. Also das Gegenteil von Sprüchen wie von der „Tässlesvermietung“.
Zu seiner Freude signalisierte Sohn Jacques Interesse an Mize. Nachdem der heute 27-Jährige einige Zeit mit großen Kähnen um die Welt gefahren war, schloss er eine zweite Lehre im elterlichen Betrieb an und arbeitet seither Hand in Hand mit dem Vater und dessen Frau Birthe. Als alles reibungslos lief, beschloss Joachim Kurrle, ein paar Wochen auf seinem Boot auf der Ostsee zu verbringen und die beiden „zu Hause mal allein wurschteln“ zu lassen. Erfreut stellte er fest, „die können das ohne mich“. Das war der Startschuss für den Übergabeprozess. Beraten von der IHK und einer Unternehmensberaterin wurde geklärt, wie die Zukunft von Mize aussehen wird.
Die beiden volljährigen Kinder, die längst gute Berufe haben, und die Ehefrau mussten eine Verzichtserklärung beim Notar unterschreiben. Auch für Jacques gibt es feste Regeln, zum Beispiel dass er nicht ohne Ehevertrag heiraten darf. „Das war für alle eine knallharte Entscheidung, aber nur wenn alles Geld in der Firma bleibt, hat sie eine Zukunft“, ist Kurrle überzeugt. Den härtesten Brocken musste er ohnehin selbst schlucken: Aus der Mize e.K. wurde eine oHG, an der er nur noch die Hälfte besitzt. „Mit Ende 50 sitze ich nun nicht mehr sozu­sagen auf dem Thron und kann alles ansagen. Ich wollte aber unbedingt, dass wir Partner auf Augenhöhe sind und kann das nur jedem Kollegen in ähnlicher Situation empfehlen“, sagt er.
Mit Ende 50 sitze ich nun nicht mehr sozu­sagen auf dem Thron

Mize-Gründer Joachim Kurrle über die Teilung der Geschäftsführung mit seinem Sohn

Die Unternehmensberaterin, die Kurrles beriet, heißt ­Bettina Daser. Die promovierte Sozioökonomin aus Kernen begleitet Unternehmens­familien bei der Übergabe. Dazu hat sie einen strukturierten Prozess entwickelt, der zunächst die Motivlagen der einzelnen Beteiligten klärt. Die Fragen, die sie dazu stellt, haben es in sich. Zum Beispiel „Können Sie noch schlafen, wenn Sie wissen, dass Sie gerade einen Millionenkredit aufgenommen haben?“ oder „Wollen Sie wirklich den Rest Ihres Berufslebens an Ihrem Kindheitsort wohnen?“ Kurz: Alle Fragen, die illusionslos klären, was Unternehmertum für das eigene Leben, für Partner und Kinder bedeutet. Schließlich sei nicht nur die Eignung wichtig, sondern auch die Mentalität.
Daser vor einer Glastür
Mehr als 70 Übernehmensübergaben hat Dr. Bettina Daser begleitet. Das Wichtigste aus ihrer Sicht: Dass sich potenzielle Nachfolger illusionslos klar machen, was die Unternehmerrolle für ihr Leben bedeutet. © Silicya Roth
Um die bestmögliche Lösung zu finden, geht Daser mit jedem einzelnen Shareholder konkret durch, was die möglichen Entscheidungen für sein Leben bedeuten. „Da gibt es bittere Pillen zu schlucken und Enttäuschungen zu verkraften, denn mancher Traum findet ein jähes Ende“, hat sie festgestellt. Es werde aber auch Respekt geweckt: für die Lebensleistung der vorangehenden Generation und für die Verantwortung, die mit der Übernahme einhergeht. Damit eine dauerhaft tragfähige Lösung herauskommt, die sowohl für das Unternehmen gut ist als auch für den Familienfrieden, holt Daser alle Beteiligten an einen Tisch, wenn möglich einschließlich ­ihrer Partner: „Wenn nur ein Gesellschafter die Nachfolgelösung nicht mitträgt, dann ist Sand im Getriebe, egal wie groß dessen Anteil ist“, weiß sie aus Erfahrung.
Wenn nur ein Gesellschafter die Nachfolgelösung nicht mitträgt, dann ist Sand im Getriebe, egal wie groß dessen Anteil ist

Nachfolgeberaterin ­Bettina Daser

Nicht selten sind die Fronten verhärtet, wenn Dasers Vermittlungsarbeit beginnt. „Bei uns ist der Hass grenzenlos“, raunte ihr einmal ein Familienmitglied zu. Gerade darum sei es wichtig, dass im Plenum erörtert werde, wie die Werte, aber auch die Zukunftspläne des Unternehmens sind und wie die der Familie. „Dabei dürfen alle mitreden, und alle sind gefragt, wenn es darum geht, die beste Lösung zu finden.“  Von jedem dieser Treffen gibt es ein Arbeitsprotokoll, das alle freigeben müssen. „Damit committen sie sich“, weiß Daser. Am Ende des Prozesses steht idealerweise die Klärung der Gesellschafterverhältnisse und eine Familie, die sich noch gern zum Sonntagskaffee einlädt.
Daser, die selbst Gesellschafterin im elterlichen Betrieb ist, hat schon mehr als 70 Unternehmensübergaben begleitet. In der Zeit hat sich einiges geändert: „Seit circa zehn Jahren beobachte ich, dass nicht mehr die Alten den Jungen Bedingungen stellen, sondern umgekehrt.“ Und früher sei sie meist von verzweifelten Müttern beauftragt worden, denen der Familienzwist an die Nieren ging. Heute riefen eher die Chefs oder die potenziellen Nachfolger an.
Und wie sieht die Unternehmensübergabe aus Sicht der jungen Generation aus? Geht man mit Ann-Cathrin Keller durch die Werkshallen der Keller Lufttechnik in Kirchheim/Teck, hat das Grüßen gar kein Ende. Man merkt gleich, die junge Frau ist hier zu Hause. Tatsächlich ist sie auf dem Firmengelände aufgewachsen. Schon als kleines Mädchen wollte sie in die Fußstapfen ihres Vaters Horst Keller treten, der das über 120 Jahre alte Unternehmen in der vierten Generation zusammen mit seinem Bruder Frank leitet.
Papa kam abends immer so zufrieden nach Hause. Das habe ich bei den Eltern meiner Freunde nie erlebt

Ann-Cathrin Keller über ihre Entscheidung, in die Familienfirma einzusteigen

Woher der Wunsch kam, daran erinnert sie sich noch ganz genau: „Papa kam abends immer so zufrieden nach Hause. Das habe ich bei den Eltern meiner Freunde nie erlebt“, erzählt die 33-Jährige. Freilich habe sie damals noch nicht gewusst, was genau der Vater tagsüber so macht. Das verstand sie erst, als sie in der Oberstufe Wirtschaft als Pilotfach wählte. Ab da war klar, wie es weitergehen würde: Duales Studium, dann International Business in München und Australien. Seit sechs Jahren ist sie nun in dem Unternehmen tätig, das ihr Ururgroßvater gründete: zunächst als Assistentin des kaufmännischen Leiters, heute als Direktorin kaufmännische Dienste, After-Sales-Service und Marketing. 2025 wird sie den CEO-Posten von ihrem Vater übernehmen.
Ann-Cathrin Keller steht zwischen Vater und Onkel
Schon als kleines Mädchen wollte Ann-Cathrin Keller (M.), in die Fußstapfen ihres Vater Horst (l.) treten, der das Familienunternehmen Keller Lufttechnik gemeinsam mit ihrem Onkel Frank (r.) führt. In zwei Jahren soll es schließlich soweit sein. © Keller
Das sind fast zehn Jahre „Überlappung“. „Ideal“ findet Ann-Cathrin Keller das. Weil sie so in die Aufgabe hineinwachsen konnte. Rumpelt es nicht öfter mal, wenn man sozusagen Mitarbeiterin des eigenen Vaters ist? „Man muss klar trennen: die private Beziehung in der Familie und die auf geschäftlicher Ebene als Kollegen“, erzählt sie, „vor allem in Konfliktsituationen“. Dazu müsse man authentisch kommunizieren, sowie Feedback und Kritik annehmen. Das helfe zu vermeiden, dass das Private belastet werde. Wichtig ist das auch deshalb, weil die Brüder Keller je zwei Kinder haben. Ann-Cathrin Keller hat eine Schwester, eine Cousine und einen Cousin. Alle vier sind zusammen mit der Vätergeneration Gesellschafter. Allerdings gehen Schwester und Cousin eigene berufliche Wege. Nur die zehn Jahre jüngere Cousine könnte sich eine Zukunft im Unternehmen vorstellen.

Ein Beirat sorgt für das Zusammenspiel zwischen den Gesellschaftern

Damit das Zusammenspiel zwischen geschäftsführenden und stillen Gesellschaftern klappt, gibt es einen Beirat und einen externen Coach, mit dem sich alle zusammen mehrmals jährlich austauschen. Hilfreich sei auch, dass beide Familien auf dem Firmengelände wohnen, quasi Haustür an Haustür. „Wir sind eine richtige Familie. Wir feiern Geburtstage, dazu Weihnachten und Ostern zusammen und überhaupt führen wir alle Traditionen gemeinsam fort“, erzählt die junge Frau.
Keller hat ihre Masterarbeit über die „Entwicklung eines strategischen Konzepts zur Steigerung der Innovationsfähigkeit eines mittelständischen Familienunternehmens“ geschrieben, also wie Tradition und Innovation zusammenpassen. Ergebnis: die strukturellen Prozesse müssen neu sortiert werden, ohne dass die Werte, für die ein Familienunternehmen steht, aufgegeben werden. Konkret bedeutet das, dass ein bisschen ­Start­up-Mentalität ins Haus kommt, dass beispielsweise alle Mitarbeiter und nicht nur die Forschungsabteilung Ideen einbringen. Das erste Produkt gibt es schon: eine Luftreinigungswand, die statt Stellfläche weg­zunehmen, als beweglicher Raumteiler dient.

Übernahme von jetzt auf gleich

Die Möglichkeit, Startup und Familienbetrieb zusammenzubringen, das hat Lisa und Moritz Bittner geholfen, den elterlichen Betrieb dauerhaft zu übernehmen. Anders als bei Kellers gab es aber kein Hineinwachsen, sondern eine Übernahme Hals über Kopf. Vater Roland Bittner erkrankte nämlich 2016 schwer. Damals war er noch keine 60, und die Nachfolge in dem kleinen Unternehmen für Thermoforming und Verpackungstechnik in Backnang war noch völlig ungeregelt. „Ein bisschen war das auch unsere Schuld, denn wir wollten uns noch nicht festlegen“, räumt Lisa Bittner ein. Wie ihr Bruder Moritz hatte sie BWL studiert. Er startete danach als Investmentbanker ins Berufsleben, Lisa in verschiedenen Startups. Sie arbeiteten in angesagten Städten, mit „High Performern“ ihres Alters in bunten Teams – und das gefiel ihnen sehr.
Als nun die Hiobsbotschaft kam, eilten sie den Eltern zu Hilfe. „Erst einmal stand die Gesundheit unseres ­Vaters im Fokus und der Gedanke, alles am Laufen zu halten, bis er zurückkehrt“, erinnert sich die Tochter. Doch 2017 starb Roland Bittner. Mitten in der Trauer mussten sie nun eine Entscheidung fällen, die den Rest ihres Lebens prägen würde. Schließlich siegte die Loyalität zu Eltern und Mitarbeitern und der unbedingte Wille, „nicht das Handtuch zu schmeißen“.
Tatsächlich mussten wir erst einmal so eine Art Maschinenbaustudium light absolvieren

Moritz Bittner über seinen Start nach der Erkrankung des Vaters

Einen Notfallplan gab es nicht, keine Prozessbeschreibungen, nichts, was ­ihnen die Einarbeitung erleichtert ­hätte. Schließlich waren die Eltern nach der ­Firmengründung Mitte der 80er in ihre Aufgaben hineingewachsen, kannten ­Kunden und Lieferanten. Bei ihnen ­liefen alle Fäden zusammen. „Das kann man nicht delegieren“, waren sie überzeugt. Von jetzt auf gleich dies alles zu übernehmen, das war eine riesige Herausforderung – auch fachlich. „Tatsächlich mussten wir erst einmal so eine Art Maschinenbaustudium light absolvieren“, lächelt Moritz. Aber nicht nur die neue Pflicht war gewöhnungsbedürftig, sondern auch die Zusammenarbeit unter den Geschwistern. „Die emotionale Komponente darf man nicht unterschätzen. Schließlich weiß der andere seit Kindesbeinen, wie er einen triggern kann“, meint Lisa Bittner. Andererseits sei die Komplexität geringer, wenn man dem Geschäftspartner blind vertrauen könne. Dies umso mehr, als beide erst noch ihr altes Leben abwickeln mussten und sich deshalb zunächst selten sahen.
Nach zwei Jahren hatten die beiden das Geschäft im Griff. Doch „einfach weiter jedes Jahr um ein paar Prozentpunkte wachsen und so in Backnang alt zu werden – das dann doch nicht“, ­erklärt Lisa, die damals noch nicht einmal 30 war. Ein Artikel im Magazin Wirtschaft bestätigte sie in der Idee, eine Art „Booking.com“ für Thermoforming zu gründen: ­Formary. Auf der Plattform können Kunden ihre ­Wünsche in Sachen Kunststoffformung eingeben. Das müssen keine CAD-Dateien sein, Lastenhefte reichen. Formary ­kalkuliert zukünftig mittels künstlicher Intelligenz den Preis und „matcht“ mit dem geeignetsten ­Lieferanten.

Das Corporate Startup zieht junge Mitarbeiter an

Die Bittner GmbH mit ihren 900 ­Kunden läuft weiter, denn Formary ist ein ­Corporate Startup. Inzwischen hat das Unternehmen 25 Mitarbeiter. Auch junge, die der neue „Spirit“ anlockt. Wäre das so auch möglich gewesen, wenn der Vater noch leben würde? „Ich glaube, Papa wäre das alles suspekt gewesen“, sind die Geschwister überzeugt. Bei der Mutter hingegen überwiege die Dankbarkeit, dass ihre beiden wieder zurück in Backnang sind und ihr Lebenswerk fortführen.
Unsere Beispiele zeigen: Irgendwann kommt der Tag X, an dem der Wechsel stattfinden muss. Verständlich, dass das gerade Selbständigen schwerfällt, die ihr ganzes Leben lang gewöhnt sind, das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Aber genau deshalb sollten sie dafür ­sorgen, dass es bis zur entscheidenden Unterschrift so bleibt. Denn so sichern sie ihr Lebenswerk und den Familienfrieden.
Dr. Annja Maga für Magazin Wirtschaft Sonderheft Nachfolge