Editorial Magazin Wirtschaft

Europa ist nicht perfekt, aber lebenswichtig

„Europa ist so selbstverständlich geworden, dass die meisten Leute gar nicht merken, dass es dieses Europa gibt.“ Dieses Zitat des kürzlich verstorbenen Publizisten Alfred Grosser passt zur Europawahl im Juni 2024. Allzu oft sind die Wahlen zum europäischen Parlament als Frustventil oder Denkzettelwahl missbraucht worden. Das hat viel damit zu tun, dass wir die Errungenschaften der europäischen Einigung kaum noch wahrnehmen, obwohl wir täglich von ihnen profitieren.
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Claus Paal, Präsident der IHK Region Stuttgart

Welche Vorteile die EU gerade der regionalen Wirtschaft bringt, muss man keinem Unternehmer und keiner Unternehmerin erklären. Sie garantiert friedliches Zusammenleben und weitgehende politische Stabilität im größten einheitlichen Binnenmarkt der Welt mit einem gemeinsamen Rechts- und Währungsraum. Durch Handelsabkommen mit anderen Nationen fördert die EU die internationalen Wirtschaftsbeziehungen weit über ihre Grenzen hinaus. Die Erfolgsgeschichte der exportorientierten Unternehmen in Baden-Württemberg und der Region wäre ohne den Rahmen der Europäischen Union in diesem Umfang nicht vorstellbar.
An all dies sollten wir uns erinnern, wenn aus Bequemlichkeit oder demagogischem Interesse wieder einmal auf „Brüssel“ verbal eingedroschen wird. Wer ernsthaft glaubt, man könne den globalen Herausforderungen dadurch begegnen, dass man Europa politisch schwächt oder zurückfährt, dem ist nicht zu helfen. Nicht zuletzt das verheerende Beispiel des Brexit dürfte dies einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler bewusst gemacht haben. Wir dürfen also hoffen, dass diese Europawahl nicht erneut benutzt wird, um Denkzettel auszuteilen, sondern dass sie als Gelegenheit erkannt wird, mit dem Stimmzettel direkt auf die Gestaltung der wirtschaftlichen und politischen Landschaft der EU Einfluss zu nehmen.
Dies ist dringend notwendig, denn trotz aller Verdienste ist die politische Praxis der EU alles andere als perfekt. Grund zur Sorge bietet vor allem die ausufernde Tendenz, jeder Herausforderung mit einem eigenen Gesetz oder Regelwerk entgegenzutreten. Wenn für einen abgeschafften Rechtsakt mittlerweile vier neue in Kraft gesetzt werden, bleibt Bürokratieabbau ein Lippenbekenntnis.
Diese Entwicklung droht bereits jetzt, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum abzuwürgen. Laut DIHK-Unternehmensbarometer zur Europawahl sind 56 Prozent der Unternehmen der Ansicht, die Attraktivität der EU als Unternehmensstandort habe sich in den vergangenen Jahren verschlechtert, nur sieben Prozent geben an, sie habe sich verbessert. Sage und schreibe 95 Prozent finden, der Bürokratieabbau müsse für die EU oberste Priorität haben.
jede Stimme bei der Europawahl ist ein Beitrag zur Gestaltung der wirtschaftlichen Zukunft Europas
Im Guten wie im Schlechten: Die EU-Gesetzgebung wirkt sich direkt auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und in der Region aus. Eine aktive Beteiligung an dieser Gestaltung ist daher essenziell. Die Europawahl im Juni ist somit nicht nur eine Abstimmung über Personen und Parteien, sondern auch über die wirtschaftliche Ausrichtung der EU. Sie ermöglicht es, auf eine EU hinzuarbeiten, die flexibler, unternehmerfreundlicher und weniger bürokratisch ist.
Kurz gesagt, jede Stimme bei der Europawahl ist ein Beitrag zur Gestaltung der wirtschaftlichen Zukunft Europas. Nutzen wir diese Chance, um an einem Europa zu arbeiten, das seine Wirtschaft fördert, indem es Unternehmen die Freiheit gibt, zu wachsen und innovativ erfolgreich zu sein.