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„Totgesagte leben länger“
Diskussionsfreudig zeigte sich der regionale Wirtschaftsausschuss Peine der IHK Braunschweig am Nachmittag des 29. März bei seinem Besuch des Steinkohlekraftwerks in Mehrum. Kein Wunder, treibt das Thema Energie die Unternehmen seit den Preissprüngen des vergangenen Jahres besonders um. Der Strombedarf ist riesig und er wächst mit der Transformation von Industrie und Mobilitätsangeboten beständig weiter. Noch kann die Nachfrage nicht allein mit erneuerbaren Energien gedeckt werden.
1979 ging das Steinkohlekraftwerk in Betrieb.
© Tim Jauernig/IHK Braunschweig
„Mehrum rettet uns im Augenblick“, sagte Jan Radmacher, Ausschussvorsitzender und Geschäftsführer des Kalksandsteinwerkes Wendeburg Radmacher GmbH & Co. KG, bei seiner Begrüßung. Eigentlich waren die Tage für das Kraftwerk bereits gezählt. Im ersten Halbjahr 2020 wurde mit dem Kohleverstromungsbeendigungsgesetz das Ende eingeläutet. Das Kohlekraftwerk Mehrum bekam einen Zuschlag in der zweiten Stilllegungsauktion, voraussichtliches Betriebsende: 8. Dezember 2021. Netzbetreiber TenneT meldete jedoch ein Bauvorhaben an, für welches das Kraftwerk betriebsbereit sein sollte. Ende 2021 wurde dann planmäßig heruntergefahren, mit der Aussicht während der Bauarbeiten wieder ans Netz zu gehen. Neues, geplantes Enddatum war der März 2023.
Torsten Habekost und Kathrin Voelkner (Mitte) führten durch das Kraftwerk.
© Tim Jauernig/IHK Braunschweig
Dann folgte der russische Angriff auf die Ukraine. Schnell erließ die Bundesregierung das sogenannte Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz. Alle Kraftwerke, die zu dem Zeitpunkt im Zustand der Netzreserve waren, durften nicht stillgelegt werden – dazu zählte auch das Kraftwerk Mehrum. Als im Laufe des Jahres das Gas knapper wurde, kam die Verordnung, wieder Strom zu erzeugen. „Als erstes Kraftwerk aus der Reserve waren wir wieder am Netz“, erzählte Kraftwerksprokuristin Kathrin Voelkner.
Keine Stilllegung bis März 2024
Zwar wurde in Mehrum noch nichts demontiert, dennoch sei der schnelle Wiedereintritt in die Produktion eine enorme Herausforderung im vergangenen Jahr gewesen. Kurzfristig mussten Stellen wiederbesetzt und neues Material beschafft werden. „Einige Zulieferbetriebe hatten ihr Angebot bereits auf das Ende der Kohleverstromung hin angepasst“, skizzierte Voelkner die Herausforderung.
Wir sind überzeugt, dass wir spätestens zum Ende des Sommers wieder am Netz sein werden.Kathrin Voelkner
Aktuell ist das Kraftwerk weiterhin im Marktbetrieb und wird in Abhängigkeit von den Preisen an der Strombörse eingesetzt. „Wir sind überzeugt, dass wir spätestens zum Ende des Sommers wieder am Netz sein werden“, blickte die Prokuristin voraus. Es habe sich in Deutschland schlussendlich noch nicht genug geändert, damit die Kohlekraft verzichtbar wäre. Der Betrieb des Kraftwerks soll noch bis März 2024 weitergehen. Ob dies noch einmal verlängert wird? Laut Voelkner ist das durchaus vorstellbar: „Wir sind ein klassisches Beispiel für das Sprichwort: Totgesagte leben länger.“
Zukunft mit Gas und Wasserstoff
Die Unsicherheiten am Energiemarkt haben bereits 2017 dazu geführt, dass sich die alten Gesellschafter, die Stadtwerke Hannover und die Braunschweiger Versorgungs AG & Co. KG, zurückzogen und ihre Anteile an die tschechische Energetický a průmyslový holding a.s. (EPH) verkauft haben – eines der größten Energieversorgungsunternehmen Europas. Für den Standort in Mehrum ist inzwischen geplant, dass, wenn das Kohlekraftwerk endgültig ausgedient hat, ein Gaskraftwerk gebaut werden soll. „Das ist dann auch direkt H²-ready“, erklärte Produktionsleiter Torsten Habekost. Perspektivisch solle ein Kraftwerk entstehen, welches mit grünem Wasserstoff betrieben werde, Gas sei dabei als Übergangstechnologie jedoch nicht zu ersetzen.
Der regionale Wirtschaftsausschuss Peine besuchte das Kohlekraftwerk Mehrum.
© Tim Jauernig/IHK Braunschweig
Wenn alles ideal laufe, sämtliche Genehmigungen rechtzeitig vorliegen und die Baumaßnahmen planmäßig stattfinden, könne das neue Gaskraftwerk Anfang 2028 einsatzbereit sein, ergänzte Voelkner. Besonders schmerzhaft bei all den Unwägbarkeiten sei die ungewisse Zukunft für die rund 130 Mitarbeitenden. In den Phasen des Rückbaus des alten und Bau des neuen Kraftwerks, so Voelkner, sei es unmöglich, alle Kolleginnen und Kollegen zu halten.
Diskussion um Bürokratie und Erneuerbare
Nach den bewegenden Ausführungen von Voelkner und Habekost zu den letzten Jahren des Kraftwerks Mehrum hatten die Ausschussmitglieder reichlich Diskussionsbedarf. Mit Blick auf die langwierigen Genehmigungsverfahren und hohen bürokratischen Anforderungen erscheine es schwer vorstellbar, wie in Deutschland die Energiewende in den kommenden Jahren gelingen solle. Die erneuerbaren Energien böten zwar inzwischen große Erzeugungskapazitäten, diese reichen jedoch bei Weitem noch nicht aus, um den Strombedarf zu decken. Besondere Schwierigkeiten, so wurde es in der Diskussion deutlich, bereiten die Fragen, wie der Strom aus den grünen Energiequellen gespeichert und transportiert werden soll. Auch das politische Ziel, eine wasserstofffähige Energieinfrastruktur, die zunächst mit Gas betrieben werden soll, aufzubauen, sorgte in der Runde des Ausschusses für Skepsis. Der Tenor dazu lässt sich zusammenfassen: Die Genehmigungsprozesse dauern in Deutschland zu lange.
Der Blick in den Kessel: Wird Kohle verbrannt, herrschen hier 1200 Grad.
© Tim Jauernig/IHK Braunschweig
1200 Grad im Kessel
Zum Abschluss der Sitzung nahm Produktionsleiter Habekost die Unternehmerinnen und Unternehmer aus dem Peiner Wirtschaftsausschuss mit auf einen Rundgang durch das Kraftwerk. Dabei kam es ausnahmsweise einmal gelegen, dass aktuell keine Kohle verbrannt wird. So konnte Habekost einen Blick von unten empor in den Heizkessel gewähren. „Beim Betrieb haben wir hier 1200 Grad“, erklärte er, als seine Gäste die Köpfe in den Nacken streckten, um durch einen schmalen Spalt nach oben in die riesige Anlage zu schauen.
Neben dem Kesselhaus stehen direkt nebenan der 250 Meter hohe Schornstein und der 130 Meter hohe Kühlturm. „Vielleicht kann der Kühlturm für das neue Gaskraftwerk sogar weiterhin genutzt werden“, sagte Habekost. Bei diesem Gedanken machte sich bei allen Anwesenden auf dem Rückweg fast etwas Wehmut breit.
tj