Fachkräftemangel als Wachstumsbremse: Handlungsbedarf für die neue Bundesregierung

Deutschland steht vor einer doppelten Herausforderung: Der Fachkräftemangel bremst das Wachstum und die Innovationskraft vieler Unternehmen, während strukturelle Probleme wie mangelnde Digitalisierung und übermäßige Bürokratie die Situation weiter verschärfen. Daher fordern die Industrie- und Handelskammern gezielte wirtschaftspolitische Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene.
Die deutsche Wirtschaft ächzt unter einem akuten ­Arbeits- und Fachkräftemangel. Viele Betriebe finden keine passenden Mitarbeitenden, weil es durch die niedrigen Geburtenraten der letzten Jahrzehnte weniger Arbeitskräfte gibt. Zudem entscheiden sich immer mehr junge Menschen für ein Studium anstelle einer dualen Berufsausbildung, was zu einem Personalmangel in technischen und handwerklichen Berufen führt. Gleichzeitig gibt es oft ein Missverhältnis zwischen den Anforderungen der Unternehmen und den unzureichenden Qualifikationen der Bewerbenden. Hinzu kommen bürokratische Hürden bei der Zuwanderung von ausländischen Fachkräften.

Strukturprobleme als Verstärker

43 Prozent der Firmen können derzeit offene Stellen nicht besetzen. Das ist das Ergebnis des aktuellen Fachkräftereports der Deutschen Industrie- und Handelskammer, der auf den Angaben von rund 23 000 Unternehmen aller Größen und Branchen basiert. Lange vernachlässigte Probleme in Deutschland, wie hohe Energiepreise, mangelnde Digitalisierung, Innovationsstau oder eine übermäßige Bürokratie, machen den Betrieben zusätzlich zu schaffen. Sie sind dadurch am Standort Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig und zum Abbau von Arbeitsplätzen gezwungen. „Fachkräftemangel trifft auf Strukturprobleme – das ist für viele eine enorme Herausforderung und für unsere Wirtschaft eine doppelte Wachstumsbremse“, sagt Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer. „Hohe Energiekosten, wirtschaftspolitische Unsicherheiten, die sich auf Investitionsentscheidungen auswirken, sowie ein intensiver internationaler Wettbewerb stellen viele vor große Herausforderungen.“

Berufliche Bildung stärken

Die DIHK fordert von der neuen Bundesregierung ein umfassendes Maßnahmenpaket, um dem Fachkräftemangel langfristig zu begegnen. Dabei geht es auch um die Stärkung der dualen Berufsausbildung. Seit Jahrzehnten ist sie ein Garant für qualifizierte Arbeitskräfte. Dennoch fehlen den Betrieben zunehmend geeignete Bewerberinnen und Bewerber: Fast jedes zweite Unternehmen in Industrie und Handel konnte nicht alle Ausbildungsplätze für das Ausbildungsjahr 2023/2024 besetzen, wie die DIHK-Ausbildungsumfrage 2024 zeigt. Diese anhaltende Herausforderung führt zu einer zusätzlichen Wachstumsbremse für die deutsche Wirtschaft. Die IHKs sehen es daher als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, die berufliche Bildung weiterzuentwickeln. „Wir müssen die Aus- und Weiterbildung so gestalten, dass sie auch unter den sich schnell ändernden Rahmenbedingungen zum Bedarf passt und für junge Menschen attraktiv bleibt“, so Dercks. Bund und Länder sowie die zentralen Partner in der Ausbildung sollten aus Sicht der DIHK dafür sorgen, dass Berufsschulen leistungs- und zukunftsfähiger werden. Dafür brauche es Investitionen in eine gute Ausstattung der Schulgebäude, moderne Lehrmittel und ausreichend qualifizierte Lehrkräfte sowie eine frühzeitige, praxisnahe Berufsorientierung an Schulen und die Förderung von Praktika.
Auch Fremdsprachen und interkulturelle Kompetenzen werden in der Arbeitswelt immer wichtiger. Lernaufenthalte im Ausland tragen nicht nur zur fachlichen, sondern auch zur persönlichen Entwicklung junger Menschen bei. Daher sollte die Möglichkeit, praktische Erfahrungen im Ausland zu sammeln – etwa über das Erasmus+-Programm – in der beruflichen Bildung weiter ausgebaut und finanziell stärker unterstützt werden. Die DIHK plädiert außerdem dafür, die Antragsverfahren für Auslandsaufenthalte mit Erasmus+ weiter zu entbürokratisieren, damit KMUs diese noch flexibler nutzen können.
Auch die Weiterbildungsmöglichkeiten sollten ausgebaut und gezielt auf die Bedarfe der Firmen abgestimmt werden – von digitalen Grundkompetenzen bis hin zu Deutsch als Berufssprache. Hier sieht sich die DIHK gemeinsam mit Verbänden und Arbeitsagenturen in der Verantwortung. Begleitend dazu könnte der Staat durch Prämien oder Gutscheine Anreize für Arbeitnehmende schaffen, sich weiterzubilden. Darüber hinaus muss die akademische Bildung aus Sicht der DIHK von Seiten der Hochschulen praxisnäher gestaltet werden, um Absolventen möglichst optimal auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten.

Vorhandendes Potenzial besser nutzen

Daneben setzt die DIHK auf eine intensivere Nutzung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials: Erwerbstätigkeit von Eltern und pflegenden Angehörigen sollte durch bessere Kinderbetreuung und flexiblere Arbeitsmodelle gestärkt werden. Ältere Arbeitnehmende könnten mit Anreizen länger im Berufsleben gehalten werden, was zugleich die Rentenversicherung entlastet. Zudem fordert die DIHK vereinfachte Zuwanderungs- und Integrationsprozesse für internationale Fachkräfte, darunter schnellere Verwaltungsverfahren, unbürokratischen Zugang zu Sprachkursen sowie rasche Unterstützung bei der Anerkennung von Qualifikationen.
In diesem Zusammenhang betont die DIHK, wie wichtig es ist, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemeinsam an einem koordinierten Vorgehen arbeiten, um die EU zu einem attraktiven Standort für internationale Arbeitskräfte zu machen. Eine zentrale Forderung ist eine einheitliche und effiziente Regelung der Arbeitsmarktzuwanderung auf EU-Ebene, insbesondere im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU. Diese ermöglicht es EU-Bürgern, in jedem anderen EU-Mitgliedstaat zu arbeiten, ohne dass sie eine spezielle Arbeitserlaubnis oder gar ein Visum benötigen. Auch für die Integration Geflüchteter braucht es aus Sicht der DIHK einheitliche EU-Regulierungen.

Entlastung durch Reform der Sozialversicherung

Um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu sichern und dem Fachkräftemangel nachhaltig entgegenzuwirken, sind umfassende Reformen der Sozialversicherung unerlässlich. Eine stabile Begrenzung der Sozialversicherungsbeiträge bei maximal 40 Prozent wäre aus Sicht der DIHK wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Denn infolge des demografischen Wandels wächst die Zahl der älteren Menschen, die Sozialversicherungsleistungen empfangen. Gleichzeitig gibt es weniger junge Menschen, die in das System einzahlen, wodurch die Sozialversicherungsbeiträge und damit auch die Arbeitskosten der Betriebe steigen. Darüber hinaus plädiert die DIHK auch für eine neue ­Finanzierungsstruktur für die Kranken- und Pflegeversicherung und eine flexiblere Rentenregelung.
Achim Dercks: „Die neue Bundesregierung muss in vielen Bereichen sehr schnell handeln. Unsere Unternehmen brauchen spürbare Entlastungen. Hohe Standortkosten bremsen die Wirtschaft aus und machen sie international weniger wettbewerbsfähig. Eine mangelnde Digitalisierung und eine übermäßige Bürokratie sind nicht nur Gift für die Betriebe, sondern machen Deutschland auch für dringend benötigte Fachkräfte zunehmend unattraktiv. Daher muss hier dringend gegengesteuert werden.“
Quelle: Mascha Dinter, freie Journalistin
Die IHKs positionieren sich

„Bildung und Fachkräfte“ ist eines von neun Clustern der „Wirtschaftspolitischen Positionen“ der 79 Industrie- und Handelskammern. Die „WiPos“ der IHK-Organisation beschreiben die wichtigsten Themen der Bundes- und Europapolitik aus Sicht der gewerblichen Wirtschaft und bilden zugleich die inhaltliche Basis für die wirtschaftspolitische Arbeit sowie für Äußerungen und Stellungnahmen der Deutschen Industrie- und Handelskammer. Abrufbar sind diese Positionierungen auf der DIHK-Website unter www.dihk.de/de/wirtschaftspolitische-positionen.
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