Fahren auf Sicht

„Stellen Sie sich vor, Sie möchten Ihr Auto am 8. Dezember auf den Schrott schieben. Da wechseln Sie auf den letzten Metern doch nicht mehr die Reifen, lassen auch die kaputte Windschutzscheibe wie sie ist und die durchgesessenen Sitze entlocken Ihnen höchstens noch ein: was soll’s“, erzählt Armin Fieber. Eigentlich. Denn der Geschäftsführer der Kraftwerk Mehrum GmbH hat – um im Bild zu bleiben – besagtes Auto nicht nur wieder fahrbereit gemacht, er hat es sogar nochmal vollgetankt. Wie es dazu kam, dass das Steinkohlekraftwerk im Landkreis Peine nun wieder am Netz ist, hat er im Rahmen von IHK vor Ort erklärt.
Fieber hangelt sich beim Erzählen stringent entlang der Zeitachse. Bereits Anfang 2021 habe man an einer Auktion des Bundeswirtschaftsministeriums teilgenommen und im April den Zuschlag erhalten, die mehr als 40 Jahre im Betrieb befindliche Anlage stilllegen zu dürfen. Geplantes Ende des kommerziellen Einsatzes: der Dezember desselben Jahres. „Die Bundesnetzagentur fragt bei den Übertragungsnetzbetreibern ein weiteres Mal nach, ob das wirklich geht oder die Anlage nicht doch noch gebraucht wird. In unserem Fall hat sie sich zur Beantwortung dieser Frage allerdings sechs Monate Zeit genommen“, skizziert der Geschäftsführer und fährt mit dem Zeigefinger einmal über den Grundriss der Karte in seiner Präsentation. „Letztlich war es die Firma TenneT, die gesagt hat: das geht nicht. In diesem Bereich befindet sich die von ihr betriebene Baustelle, wo eine Schaltanlage mit 380 Kilovolt entsteht. Da geht es um den Netzausbau, um eine Erweiterung der Kapazitäten, was mit dem Kraftwerk an sich erstmal nichts zu tun hat. Irgendwann aber muss diese Baustelle ja ins Netz eingebunden werden.“

Keine Stilllegung bis März 2024

Aus der für September dieses Jahres vorgesehenen endgültigen Stilllegung des Mehrumer Kraftwerks ist durch die Verkettung mehrerer Umstände nun ein politisch geforderter Stand-by-Betrieb geworden. „Wir haben am 8. Dezember 2021 zwar wie geplant abgeschaltet, wussten aber, dass wir für die Baustelle nochmal hochfahren müssen. Wir waren netzrelevant und haben dementsprechend gewartet, bis ­TenneT mit der Baustelle fertig ist. Und in genau dieser Phase hat Putin die Ukraine überfallen“, blickt Fieber zurück. Schon kurze Zeit später sei durch das Bundeswirtschaftsministerium verfügt worden, das Kraftwerk bis März 2024 nicht stilllegen zu dürfen. Eine die Wiederaufnahme der Produktion erlaubende Verordnung folgte auf dem Fuße. „Das haben wir dann auch gemacht, seit dem 1. August haben wir die Anlage wieder angefahren. Dadurch, dass wir noch nichts demontiert hatten, ging das relativ schnell.“
Wie herausfordernd die Lage für den spontanen Einsatz aufgrund der relativ kurzfristigen Ressourcenbeschaffung gewesen sei, möchte Alexander ­Gündermann, Abteilungsleiter Wirtschaft bei der IHK Braunschweig, wissen. Dadurch, dass man schon Ende des vergangenen Jahres in Kenntnis über den Einsatz für die TenneT-Baustelle gewesen sei, seien mit dem Unternehmen sowohl die Rahmenbedingungen als auch die Bedarfe bilateral abgeklärt worden. Im Anschluss habe man sich entsprechend eindecken können. „140 000 Tonnen Kohle und sämtliche Betriebsstoffe wurden abgesichert und teilweise sogar beschafft. Die Kohle lagert direkt am Mittellandkanal. Da haben wir 500 000 Tonnen Gesamtkapazität“, erklärt Fieber. Im Normalbetrieb mit einem Verbrauch von etwa 4000 Tonnen Steinkohle als Tagesdurchschnittswert habe das Lager zweimal pro Jahr gefüllt werden müssen. Wenn dementsprechend drei bis vier Schiffsladungen täglich nötig seien, um den laufenden Betrieb unter Volllast aufrechterhalten zu können: Waren dann die erforderlichen Transportkapazitäten angesichts teilweise nicht schiffbarer Wasserwege überhaupt die gesamte Zeit hindurch verfügbar, fragt Nikolas Lange, stellvertretender IHK-Hauptgeschäftsführer, nach.

Restriktionen im Logistikprozess

Das sei schon eine große Herausforderung gewesen, gibt Fieber zu – allerdings bei weitem nicht die einzige. Es gebe inzwischen eine ganze Reihe an Restriktionen im Logistikprozess, die den Betrieb grundsätzlich erschwerten. Zum einen komme die Kohle aus sehr fernen Ecken der Welt, beispielsweise aus Kolumbien. Da sei der Weg aus Russland früher doch ein wenig kürzer gewesen. „Letztlich müssen Sie die Schiffe immer dort haben, wo die Kohle aufs Überseeschiff geladen wird. Die Häfen müssen wiederum ausgelegt sein zur Be- und Entladung dieser Schiffe mit bis zu 70 000 Tonnen. Diese Logistikketten insgesamt wieder anzuschieben, ist schon das Hauptproblem gewesen. Zumal eine gewisse Gleichmäßigkeit im Prozess, wenn er denn wieder läuft, unbedingt gehalten werden sollte“, so der Kraftwerk-Geschäftsführer.
Das ist auch aus technischer Sicht sinnvoll. Häufiges An- und Abstellen der Anlage hat durch die entstehenden Wärmespannungen eine höhere Schadensanzahl zur Folge. Risse entstünden hauptsächlich bei thermisch hoch belasteten Teilen wie den Kesselwänden. Damit einhergehende Reparaturen schränkten den Betrieb der Anlage entsprechend ein. Aus dem Kaltzustand würden daher rund acht Stunden benötigt, um wieder am Netz sein zu können. Aktuell (Anmerkung: der Besuch fand am 19. Oktober statt) stehe das Kraftwerk still, weil die Preise am Strommarkt ein wirtschaftliches Betreiben schlicht nicht zuließen.

Day-Ahead-Produktion für den Spotmarkt

Ob die gegenwärtige Dynamik der Märkte ein flexibles Reagieren überhaupt zuließen, erkundigt sich Nikolas Lange. Das sei so eine Sache. Wenn die Anlage warm sei, erreiche sie Laständerungsgradienten von etwa 15 Megawatt pro Minute. Soweit könne man hoch- oder runterregeln, was ein durchaus passabler Wert sei. Einen prinzipiell denkbaren, separaten Heizkreislauf zum Halten einer Mindesttemperatur betreibe man schon aus Kostengründen nicht, so Armin Fieber. Der vom Bundeswirtschaftsministerium verlangte Stand-by-Betrieb sei schon herausfordernd genug. Im Mai 2023 sei eine TÜV-Prüfung vorgeschrieben, wobei allein die rund einstündige Kesseldruckprobe vier bis fünf Wochen Vorbereitungszeit erfordere und damit zum Terminführer werde. „Die gesamte Revision wird sechs bis acht Wochen andauern. Mit der Druckprüfung allein ist es schließlich nicht getan. Wir haben eine ganze Reihe an Verschleißteilen. Da sind wir gerade dabei, mit den Lieferzeiten kämpfend, Leistungen zu vergeben.“
Im Termingeschäft für das Buchen von Grundlasten werde das Kraftwerk nicht eingesetzt. Wird in Mehrum Strom produziert, dann gelange er in den sogenannten Day-Ahead-Handel (Spotmarkt) an der Börse. „Was wir dort im Abgleich zwischen Bedarf und Angebot realisieren, ist das, was bei Ihnen als Erzeugerpreis einen Teil der Stromrechnung ausmacht. Dabei hat sich die prozentuale Verteilung bei der Zusammensetzung nicht wesentlich geändert. Nur die Erzeugerpreise an sich sind einfach dramatisch gestiegen“, seufzt Fieber. „Unsere letzten Produktionszahlen von vor zwei Jahren haben an der Börse Preise zwischen 40 und 50 Euro erzielt. Der Preis war auch mal bei 30 Euro oder 60. Das ist der Preis, der runtergerechnet auf die Kilowattstunde auf Ihrer Rechnung auftaucht. Heute liegt der Strompreis bei 150 Euro. In den vergangenen Wochen war er bei bis zu 600 Euro.“

Ein ständiges Zittern und Bangen

Diese durch Marktunsicherheiten geprägte Gemengelage spiegele sich in Mehrum deutlich. Ein Prozess, der freilich schon vor Jahren begann. 2017 zogen sich die alten Gesellschafter des Kraftwerks – die Stadtwerke Hannover (83,3 Prozent) und die Braunschweiger Versorgungs AG & Co. KG (16,7 Prozent) – aus dem Geschäft zurück und verkauften ihre Anteile jeweils an die tschechische Energetický a průmyslový holding a.s. (EPH), die bis heute alleinige Eigentümerin ist. Seither fahre man sozusagen auf Jahressicht, betont Kathrin ­Voelkner, Prokuristin des Kraftwerk Mehrum: „Es ist natürlich ein ständiges Zittern und Bangen, wie lange es hier noch weitergeht. Das begleitet uns und unsere Belegschaft, was naturgemäß anstrengend ist.“ Unter den gegebenen Bedingungen sei der personelle Aderlass relativ überschaubar. Darauf seien sie vor Ort schon ein bisschen stolz. Auch darauf, dass man Nachbesetzungen ohne das Schalten einer einzigen Stellenanzeige erreicht habe, nur durch direkte Mund-zu-Mund-Informationen.
Wir wissen eben nicht gesichert, was als nächstes passiert. und das zermürbt die Mannschaft natürlich ohne Ende.

Armin Fieber

40 Leute habe man seit Anfang 2021 aus Altersgründen verloren. Gekündigt wurde aufgrund der gegebenen Netzrelevanz niemandem. Aktuell umfasse die Belegschaft 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Kommt es zu Vakanzen, stünden Schichtleute (weitergebildete Kraftwerksmeister) meist ganz oben auf der Wunschliste. Aber auch Schlosser, Elektriker und Kranfahrer (weil man am Hafen aufstocken musste) seien gefragt.

Das Ende ist nicht genau absehbar

Ob noch Berufsausbildung auf dem Programm stehe, möchte Mario Schlömann, bei der IHK Braunschweig Referent für den Bereich Innovation, Umwelt und Energie, wissen. Kathrin Voelkner atmet tief ein und aus. „Die letzten Auszubildenden waren 2021 fertig. Anschließend haben wir schweren Herzens aufgehört, weil es grob fahrlässig wäre in Anbetracht unseres nicht absehbaren Endes. Es tat uns aber sehr weh!“, schildert sie das Dilemma.
Aktuell gehe man davon aus, dass die letzte Betriebsstunde im März 2024 erfolgt und das Kraftwerk im Anschluss umgehend abgerissen wird. „Wir haben schon den Vertrag, wissen genau, wer das machen wird. Wir brauchen ein halbes Jahr nach der Außerbetriebnahme, um wirklich stillzulegen: Alles spannungslos machen, so dass auf keinem Kabel mehr Strom ist, alle Behälter entleeren und reinigen, damit gefahrlos der Rückbau beginnen kann“, sagt Armin ­Fieber. Dann könne die Anlage übergeben werden.
Der Geschäftsführer geht davon aus, dass sich das Thema „Gasnotlage“ perspektivisch lösen lässt. Dementsprechend treibe sein Unternehmen die Planungen in Richtung Bau eines Gaskraftwerks voran. Die dafür nötige langjährige Vorlaufzeit werde aktuell für die Erstellung eines entsprechenden Konzeptes genutzt, gemeinsam mit einem Braunschweiger Ingenieurbüro.
„Gesetzt den Fall, die Gasproblematik wäre einigermaßen zeitnah geklärt, könnten Sie ein neu entstehendes Werk denn überhaupt mit der bestehenden Firma betreiben?“, fragt der Autor dieses Artikels abschließend. Armin Fieber wiegt den Kopf hin und her: „So wie Sie die Frage stellen, würde ich sie grundsätzlich mit ‚ja‘ beantworten. Das Problem ist der Zeitversatz. Die Truppen zusammenzuhalten, die man bräuchte, um die Anlage über die Bauphase hinaus zu betreiben, ist schwierig. Wenn jetzt alles so kommt wie geplant, dann liegen hier zwischen dem absoluten Ende, dem abgeschlossenen Rückbau und der neuen Anlage mindestens zwei, wahrscheinlich aber eher drei Jahre. Aber wir wissen eben nicht gesichert, was als nächstes passiert. Das ist die Situation, in der wir seit Jahren hängen – und das zermürbt die Mannschaft natürlich ohne Ende.“
pau