Lateinamerika

Das EU-Mercosur Abkommen: Zum Greifen nah

Es könnte jetzt alles ganz schnell gehen. Die Ratifikation des EU-Mercosur-Abkommen ist so greifbar wie schon Jahre nicht mehr. Und davon gab es viele. Mehr als 20 Jahre verhandelt die Europäische Union mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay über ein Abkommen, das derzeit das größte Freihandelsabkommen der Welt bedeuten würde. Mal intensiver, mal weniger intensiv – unter der Führung des früheren brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro so gut wie gar nicht mehr. Mit der Wahl von Lula da Silva hält Deutschland das Abkommen jetzt aber für ratifizierungsreif: Bei einer öffentlichen Anhörung im Wirtschaftsausschuss zum EU-Mercosur-Handelsabkommen am 19. April 2023 sprach sich die Mehrheit der Sachverständigen im deutschen Bundestag für eine zügige Ratifizierung des Abkommens aus.
Dass für Zusatzvereinbarungen und Nachverhandlungen, die kritische Stimmen des Abkommens fordern, keine Zeit ist, denken viele Fachleute in Europa. Noch hat die Europäische Union einen strategischen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Ländern und Regionen: Das Abkommen liegt verhandelt auf dem Tisch und bietet Europa einen Zeitvorsprung gegenüber anderen Ländern und Regionen, mit denen der Mercosur derzeit verhandelt. Diesen nicht zu nutzen wäre fatal, würde nicht nur an der Glaubwürdigkeit Europas als verlässlicher Handelspartner kratzen und First-Mover-Vorteile in wichtigen Wirtschaftsbereichen verspielen, sondern könnte – bei einem späteren Unterzeichnen – den Zwang zur Annahme von standardisierten Handelsklausen bedeuten, die insbesondere im Umwelt-, Arbeits- und Sozialbereich nicht den europäischen Interessen entsprechen könnten.
Mit einem Markt von über 700 Millionen Menschen würde das Abkommen die größte Freihandelszone der Welt versprechen. Vier Länder mit zu Deutschland komplementären Wirtschaftsstrukturen, Rohstoffen, Energie, 265 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten – das sind Chancen. Das bedeutet Unternehmenssicherung im Inland – knapp eine Viertel Million der Arbeitsplätze hierzulande gehen bereits heute auf Exporte in den Mercosur zurück – und Unternehmenswachstum im Ausland.
Im Jahr 2021 betrug das deutsche Handelsvolumen mit den Mercosur-Staaten über 21 Milliarden Euro, davon über 13 Milliarden Exporte. Deutsche Direktinvestitionen in den Mercosur-Staaten waren 2020 im Bestand mit über 22 Milliarden Euro zu bewerten. Über 8500 deutsche Betriebe exportieren in den Mercosur-Raum, 74 Prozent sollen nach Angaben der Europäischen Kommission kleine und mittlere Unternehmen sein. Und das werden in Zukunft – glaubt man den Ergebnissen der bundesweite Umfrage „Going International 2023“ – in Zukunft mehr werden: Jedes fünfte Unternehmen, von den rund 2400 auslandsaktiven mit Sitz in Deutschland befragten Betrieben gibt an, dass Süd- und Mittelamerika für ihr Auslandsgeschäft an Bedeutung gewinnt. 
Die Frage nach den Marktchancen für die deutsche Wirtschaft in der Mercosur-Region ist suggestiv.  Die sind groß und vielfältig – in manchen Branchen, wie dem Maschinenbau, der Automobil- und Ernährungsindustrie oder dem Bereich Industrie 4.0 vielleicht größer als in anderen Sektoren, dem Einzelhandel oder Bildungssektor vermutlich, aber im Durchschnitt gibt es in beinahe allen Branchen und Geschäftsfeldern etwas zu tun. Suggestiv ist auch die Frage nach der Notwendigkeit neuer Absatzmärkte: Corona-Pandemie, Ukraine-Russland-Konflikt, die Spannungen zwischen China und den USA sowie in und zwischen anderen Regionen dieser Welt, fordern ein Potpourri an Handelspartnerschaften, fordern die Diversifizierung von Lieferketten.
Bisher unterliegen allerdings 85 Prozent der europäischen Ausfuhren in den Mercosur zum Teil beträchtlichen Zöllen. Auf Chemikalien zum Beispiel. Pharmaprodukte, Maschinen, Textilien, Autos, Schokolade, Elektronikgeräte und Spirituosen. Der Zugang zum Beschaffungsmärkten, den Finanz- und Postdienstleistungen oder auch dem Transport- und Telekommunikationsbereich ist restriktiv.
Die im Juni 2019 erzielte politische Einigung über den Handelsteil des Abkommens setzt hier an: Zollsenkungen unter anderem für die Importe von Chemikalien, Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotor und Kraftfahrzeugteilen in die Mercosur-Staaten auf der einen Seite und für Einfuhren von Rindfleisch, Geflügel, Futtersoja, Zucker und Ethanol in die Europäische Union auf der anderen Seite. Damit würden etwa 93 Prozent der bisher bestehenden Zölle zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur fallen, Local-content-Regeln und Exportsteuern würden beseitigt, Gesundheits- und Hygienevorschriften liberalisiert werden. Aufwand und Kosten deutscher Unternehmen, die sich in der Region engagieren, würden erheblich sinken.
Für die deutsche und europäische Wirtschaft könnte das Abkommen also eine immense Bedeutung haben. Aus geostrategischen Gesichtspunkten, rohstoffpolitischen Aspekten, ökonomischen sowie einem außen- und nachhaltigkeitspolitischen Blickwinkel wäre der schnelle Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens logisch. Doch es gibt auch die berühmte zweite Seite der Medaille. Das Verschwinden von Ex-Präsident Jair Bolsonaro von der politischen Weltbühne, dessen Umgang mit Klima, Umwelt, Arbeits- und Menschenrechten, die Ratifizierung des Abkommens in weite Ferne haben rücken lassen, hat manche kritische Stimmen vielleicht leiser aber längst nicht verstummen lassen. Mehr als 450 Organisationen auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans haben ihre Probleme mit dem Abkommen. Manche lehnen das Abkommen völlig ab – sehen katastrophale Konsequenzen für die Natur, Gemeinschaft, Artenvielfalt und kleinbäuerliche Landwirtschaft. „Noch mehr billiges Rindfleisch und Futtersoja im Tausch gegen profitable Exporte von Pestiziden, Verbrennerautos und Autoteile“, reklamieren Umweltorganisationen. Andere wollen das Paket noch einmal aufschnüren – Zusatzvereinbarungen in denen Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards und die Rechte der indigenen Bevölkerung festgehalten werden. Ihnen geht es um einen „fairen Welthandel“ mit eindeutigen und einklagbaren sozialen und ökologischen Standards.
Präsident Lula da Silva hat sich zwar schon im Wahlkampf für eine Fortsetzung der Verhandlungen des Abkommens mit der Europäischen Union ausgesprochen und Bundeskanzler Scholz „große Flexibilität“ der Mercosur-Staaten versprochen, forderte diese aber auch von der Europäischen Union ein. Was auch immer er darunter verstehen mag – Korrekturen in Bezug auf die geistigen Eigentumsrechte sowie einige umwelt-, klima- und industriepolitische Maßnahmen gehören in jedem Fall dazu. Auch sein Nachbar, der argentinische Präsident Alberto Fernández, grundsätzlich ebenfalls ein Befürworter des Abkommens, hat Probleme mit der derzeitigen Fassung – empfindet die Asymmetrien zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur in dem aktuellen Text nicht genügend berücksichtigt

Wirtschaftsforum „Comeback in Lateinamerika“ am 4. Mai in der IHK Hannover

Wird der Plan der EU-Kommission, bis zum kommenden Juli eine politische Vereinbarung über das größte Freihandelsabkommen der Welt zu erreichen aufgehen? Ist ein Freihandelsabkommen in den aktuellen Zeiten besser als gar kein Freihandelsabkommen? Darüber diskutieren angesehene Expertinnen und Experten mit Unternehmen beim Wirtschaftsforum „Comeback in Lateinamerika“. Interessierten Unternehmen steht die Anmeldung noch offen.
Stand: 30.10.2023