Mittel- und Südamerika

Lateinamerika – viel attraktiver als gedacht

Lateinamerika steht mehr denn je im Fokus der deutschen Wirtschaftspolitik. Corona-Pandemie, Ukraine-Konflikt, Klimawende – mit der veränderten weltpolitischen Lage ist die Region für Europa wichtiger geworden: Hier geht nun das Kapital aus Unternehmen, Branchen oder Regionen, die durch den Krieg oder die Auswirkungen der Sanktionen gegen russische Unternehmen negativ betroffen sind hin. Hier finden sich exponierte Lieferanten von Nahrungsmitteln, die seit Ausbruch des Russland-Ukraine-Konflikts anderswo fehlen. Hier gibt es Energie, vor allem nachhaltig gewonnene Energie, die für die Klimapolitik Deutschlands so immens wichtig ist, Rohstoffe, die für die Entwicklung deutscher Zukunftstechnologien unerlässlich sind, interessante Märkte, die Unternehmen die Diversifizierung ihrer Lieferketten erlauben und die für die deutsche Forschungs- und Innovationspolitik eine strategische wichtige Rolle spielen.
Kurz um: Um Lateinamerika kommt Deutschland in Zukunft nicht mehr herum. Will man auch gar nicht.
Natürlich sind die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in vielen lateinamerikanischen Ländern nicht von der Hand zu weisen: Währungsverfall, Staatsschulden, enorme Teuerungen – das ist Geschichte und Alltag von Argentinien. Spricht man über Venezuela fällt viel zu oft im gleichem Atemzug  „organisierte Kriminalität“. Umweltpolitik in Brasilien? Unter dem ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro nicht vorhanden.
Dennoch weisen fast alle Länder in der Region Lateinamerika politische Demokratien vor. Politische Demokratien, die auch in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen eine erstaunliche Belastbarkeit an den Tag legen. So werden Uruguay oder Chile beispielsweise von der Economist Intelligence Unit (EIU) deutlich demokratischer beurteilt als Belgien, Italien oder die USA. Teuerungen gibt es auch in anderen Ländern. Soziale Unruhen und umweltpolitische Desaster ebenfalls. Verbesserungen sind gewünscht – und Europa wird dabei – laut einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegeben Studie sehr viel eher als die USA oder China als Partner wahrgenommen, um diese normativen und sozialen Herausforderungen in den lateinamerikanischen Ländern zu lösen. Gute Voraussetzungen für Deutschland, das traditionell auf sehr enge Beziehungen zu Lateinamerika verweisen kann, um neue Partner in der Region Lateinamerika zu finden.
Dass die Zeit eilt, zeigen allerdings die jüngsten Reisen und vielen Gespräche hiesiger Politiker und Politikerinnen und Wirtschaftsdelegationen in die Region. Deutschland hat Lateinamerika – aller Wertschätzung und Potenziale zu Trotz – lange Zeit vernachlässigt. Handels- oder Technologieabkommen mit der Region wurden ebenso wie Wissenschafts- und Innovationstransfers nur sehr schwerfällig abgeschlossen. Wenn überhaupt. Die Investitionen und Exporte deutscher Unternehmen waren im Vergleich zu den USA, China und anderen Ländern sehr verhalten. Vielleicht waren manchen Unternehmen die Wachstumsraten nicht hoch genug. Dass es darauf in Lateinamerika aber gar nicht mal ankommt, zeigt eine vom Lateinamerika-Ausschuss in Auftrag gegebene Studie von McKinsey & Company: Gewinnspannen in Lateinamerika und der Karibik sind stark und stabil; Unternehmen aller Branchen in dieser Region sind sogar tendenziell profitabler als in anderen Entwicklungsländern, auch in Asien. Anderen Betrieben waren die Rahmenbedingungen für Markteintritt und Marktbearbeitung vielleicht zu unsicher und damit zu aufwendig in ihrer Absicherung.
Für das Abwarten auf sicherere oder bequemere Rahmenbedingungen ist jetzt allerdings keine Zeit mehr. Die großen Konzerne und namenhafte Unternehmen schreiten voran, schließen strategische Partnerschaften, sichern sich Investitionsstandorte oder suchen nach Fachkräften. 
Lateinamerika ist allerdings nicht nur eine Sache der Großen. Auch kleine und mittlere Unternehmen können und sollten mit ihrem Engagement in der Region nicht mehr hinter dem Berg halten. Andernfalls wird es – angesichts der Prominenz dieses Hotspots – vielleicht zu spät sein, hier noch einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Stand: 07.03.2024