Lateinamerika

Brasilien: Viele Vorschusslorbeeren. Große Erwartungen. Was kommt jetzt?

Präsident Luiz Inácio Lula da Silva regiert Brasilien nun seit mehr als 100 Tagen. Für die deutsche Bundesregierung ist Brasilien seitdem zurück auf der Weltbühne. „Ihr habt gefehlt, lieber Lula“, äußerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz in Brasilia im Januar. Alle waren sie seitdem da. Steinmeier, Habeck, Özdemir. Sie alle wollen ein neues Kapitel in den deutsch-brasilianischen Wirtschaftsbeziehungen.

Viel Stoff für ein gutes Kapitel

Vieles spricht dafür, dass es ein gutes Kapitel werden wird. Nach dem Ukraine-Schock sucht Deutschland nach neuen, besseren und verlässlichen Partnern. Nach Partnern, deren Volkswirtschaften komplementär zu der deutschen sind, Partnern mit wichtigen Rohstoffen und Märkten, auf denen deutsche Produkte Absatz finden können. Partner, die es erlauben, die Abhängigkeit von China zu reduzieren, Lieferketten zu diversifizieren und eine am Klimaschutz ausgerichtete und vor allem faire und freie Handelspolitik zu betreiben. Partner, die „Freunde“ sind und die deutschen Vorstellungen von Demokratie, Recht und Umweltschutz teilen. Brasilien könnte also ein solcher Partner sein: Brasilien ist demokratisch. Die Beziehungen zu Deutschland fußen auf einem langen Fundament. Und obwohl Lula in seinen ersten beiden Amtszeiten zwar nicht unbedingt als Grüner von sich reden machte, soll der Schutz des Amazonas und eine nachhaltige Umwelt- und Klimapolitik nun Priorität in seiner Regierungsführung haben. Für handelspolitische Abkommen mit der Europäischen Union und freie Märkte spricht er sich ebenfalls aus. Und über Brasiliens Eigenschaften als Lieferant von strategisch wichtigen Rohstoffen und sauberen erneuerbaren Energien muss eigentlich gar nicht diskutiert werden – hier ist das südamerikanische Land so stark aufgestellt, wie heute wenig andere Länder in der Welt. Und nicht zuletzt geht es hier um einen potenziellen Partner, der mit mehr als 210 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas stellt. Doch wird dieser Stoff reichen, um ein gutes Kapitel in den deutsch-brasilianischen Wirtschaftsbeziehungen zu schreiben?

Von der Ersatzbank in die Pole-Position?

In der Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel steht Brasilien derzeit auf Platz 24: Waren im Wert von knapp 13 Milliarden Euro wurden im letzten Jahr exportiert. Importiert wird etwas mehr 9 Milliarden – machte Platz 31 auf der Liste im Jahr 2022. Niedergelassen sind in Brasilien mehr als 1.600 deutsche Unternehmen. Vieles was Rang und Namen hat: VW, BASF, Daimler, Enercon, Hamburg Süd, Siemens, Bayer… einige von ihnen schon mehr als 100 Jahre. Etwa zehn Prozent sollen sie zum industriellen Bruttoinlandsprodukt Brasiliens beitragen; im Bundesstaat São Paulo etwa 250.000 Mitarbeitende beschäftigen.
Die Zeiten, in denen Brasilien allerdings als aufstrebende Kraft galt, sind lange vorbei. Vielleicht zeugt São Paulo noch vom Glanz der Zeiten, in denen deutsche Automobilisten hier einen Zukunftsmarkt sahen. Zu den wichtigsten Industriestandorten deutscher Betriebe im Ausland gehört Brasilien aber schon lange nicht mehr. Deutsche Unternehmen haben sich hier und auch in anderen Branchen in den letzten Jahren merklich zurückgezogen. Manche haderten vielleicht mit dem konjunkturellen Auf und Ab, dem magerem Wirtschaftswachstum und den verhaltenen Wachstumsprognosen. Andere schreckten vermutlich die hohen Zölle, das komplexe Steuerwesen und die extreme Bürokratie ab. An Anreizen für Investitionen hat es vielen gefehlt. Korruption ist ein Thema. Die marode Infrastruktur, mangelnde Rechtssicherheit, das fehlende Doppelbesteuerungsabkommen andere. Auf der politischen Bühne erntete Lulas Vorgänger, Jair Bolsonaro, in den letzten Jahren hauptsächlich Negativschlagzeilen, den Imageverlust des gesamten Landes in Kaufnehmend. Auf ein Foto mit ihm konnten deutsche Politiker scheinbar verzichten – mit dem nun amtierenden Präsidenten wollen sie nun aber eines haben. Oder auch mehrere. Lula ist dem deutschen Interesse gegenüber nicht abgeneigt. Aber Lula soll auch Pragmatiker zu sein und nimmt als jener auch die Signale anderer Handelspartner wahr: 80 Milliarden Dollar haben ausländische Konzerne im letzten Jahr in Brasilien investiert. Damit stand Brasilien auf Platz vier der Weltrangliste. Für viele von ihnen ist Brasilien eine neue Alternative zu China. Für China selbst ist Brasilien wiederrum nicht neu. Brasilien steht in regem Austausch mit China und die Chinesen sind in der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas mehr als nur präsent. Selbst wenn es Lula also gelingt, Brasilien als Standort für deutsche Unternehmen wieder attraktiver zu machen, sind deutsche Unternehmen angesichts des weltweit hohen Interesses und der vielen Nebenbuhler überhaupt konkurrenzfähig?
Ein Thema ist Brasilien für sie auf jeden Fall. Nicht nur für die, die schon dort sind. Sie glauben an Brasilien – haben es eigentlich immer getan. Und jetzt erst recht, wie die Ergebnisse einer aktuellen Konjunkturumfrage, die die Deutschen Auslandshandelskammern in Brasilien unter deutschen Betrieben mit brasilianischen Standorten durchgeführt haben, belegen: Die Mehrheit der befragten Unternehmen rechnet in diesem Jahr mit einer Verbesserung der Geschäfte: Mehr Wachstum, mehr Umsatz, mehr Investitionen und mehr Personal. Die, die noch nicht da sind, erkundigen sich jetzt. Bei den Deutschen Auslandshandelskammern in Brasilien zum Beispiel. Bei den Exportkreditversicherern. Bei Playern in der Entwicklungszusammenarbeit und vielen anderen Expertinnen und Experten. Denn die Zeit abzuwarten, ist vorbei.

Wo und für wen spielt die Musik?

Viele Töne gibt es auf Wirtschaftsforum „Comeback in Lateinamerika“ am 4. Mai in der IHK Hannover. Diese Plattform bietet interessierten Unternehmerinnen und Unternehmen eine Chance, sich bei Experten und Expertinnen aus Brasilien persönlich zu erkundigen. Fragen zum Markt, dem Vertrieb, Recht oder der Finanzierung und Absicherung von Geschäften in Brasilien werden hier genauso beantwortet, wie über Projekte aus der Praxis, der Entwicklungszusammenarbeit und anderen Partnerschaften berichtet wird. Interesse? Agenda und Anmeldung hier.
Besonders laute Töne werden künftig wohl insbesondere in den Bereichen Agrobusiness und Erneuerbare Energien zu hören sein. Etwas verhaltener, aber dennoch hörbar auch in der Informationstechnik, dem Dienstleistungssektor, dem Bergbau und mineralischen Rohstoffen sowie dem Gesundheitssektor. Gut sind auch die Rahmenbedingungen für die Start-Up Branche. Und auch bei den Themen Bildung und Automatisierung und im Medizinsektor können deutsche Betriebe sicherlich auch ein paar Akkorde zimmern.
Agrobusiness
Brasilien ist weltweit zweitgrößter und bezüglich des Ausfuhrwertes fünftgrößter Exporteuer von verarbeiteten Nahrungsmitteln, gehört bei Soja, Rindfleisch und Zucker überhaupt zu den größten Exporteuren auf der Welt. Die Region liefert Nahrungsmittel in die ganze Welt. Knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung kann mit ihnen laut Berechnungen der staatlichen Forschungsagentur Embrapa zufolge versorgt werden. Und die Ausfuhren wachsen; nach Europa schneller als nach China, dem derzeit wichtigsten Absatzmarkt Brasiliens. Vierzig Prozent mehr sollen es 2022 gegenüber dem Vorjahr gewesen sein. Die Ukraine-Krise hat Brasiliens Wichtigkeit als Lebensmittellieferant befeuert. Lulas Versprechen, Brasilien zum Powerhose für nachhaltige Landwirtschaft zu machen, ist ein weiterer Aspekt, der darauf hindeuten lässt, dass beim Thema Agrobusiness wirklich die Musik spielen wird.

Erneuerbare Energien
Lange sprechen kann man in Brasilien beim Thema Erneuerbaren Energien. Wasserkraftwerden, Solar- oder Windparks – die Region Rio Grande do Norte soll eines der größten Windpotenziale der Welt haben – Biostrom aus Zuckerraffinerien oder Methangas aus der Landwirtschaft: Brasilien produziert bereits heute seine Energie zu mehr als 80 Prozent aus erneuerbaren Quellen. Für grünen Wasserstoff ist Brasilien prädestiniert – einzelne Bundesstaaten haben bereits eigene Strategien aufgestellt, um erste Wasserstoffprojekte zu fördern. Beim Thema Dekarbonisierung wird Brasilien also künftig sicherlich mehr als nur ein Wort mitreden. Für Deutschland ist Brasilien als Lieferant von sauberer erneuerbarer Energie also unheimlich interessant: Vierzig Prozent des deutschen Energiebedarfs könnten aus Brasilien gedeckt werden. Eine „grüne Brücke“ nach Europa – bis es so weit ist, sind allerdings noch viele Fragen zu klären. Logistische vor allem. Aber auch soziale.  

Rohstoffe
Auch als Rohstofflieferant ist Brasilien für deutsche Industrie höchst attraktiv. Neben Eisenerz, Bauxit und Niob verfügt Brasilien nämlich über viele spezielle Metalle und Industriemineralien, die für die Entwicklung von Zukunftstechnologien vor allem in den Bereichen Energie und Elektromobilität unerlässlich sind. Nickel, Zinn, Tantal, Vanadium, Kupfer und Grafit zum Beispiel. Auch das Potenzial an Kobalt, Lithium und seltenen Erden soll hier gewaltig sein.
Digitalisierung
Brasiliens Digitalwirtschaft ist sicherlich nicht mit China oder Indien zu vergleichen. Doch die Entwicklung prescht voran. Ende 2021 vergab Brasilien 5G-Linzenzen. Im letzten Jahr stimulierte der 5G-Ausbau die Investitionen in die IT-Infrastruktur und die digitale Transformation der Wirtschaft. Der Markt ist groß; die Affinität für digitale Technologien vorhanden. Start-Ups sind nicht mehr nur willkommen, sondern müssen sich inzwischen einem starken Wettbewerb stellten. Das gilt insbesondere im Bereich Smart Farming. Die Voraussetzungen für eine intensive Beteiligung deutscher Unternehmen am digitalen Wandel Brasiliens stimmen also.

Infrastruktur
Häfen, Flughäfen, Schiene und Autobahnen, Abwasserentsorgung und -aufbereitung. Hier bieten diverse Vorhaben insbesondere deutschen Betrieben hervorragende Geschäftsmöglichkeiten, da es ihre Technologien, Produkte und Dienstleistungen sind, die im Infrastrukturbereich einen sehr guten Ruf genießen.

Aber was braucht es, um diese Potenziale zu schöpfen? 

Das EU-Mercosur-Abkommen zum Beispiel.
Seit 1999 verhandelt die Europäische Union mit dem Mercosur, zu dem neben Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay gehören, über ein Freihandelsabkommen, mit dem eine der größten Freihandelszonen der Welt mit mehr als 700 Millionen Menschen entstehen würde. Nach zwei Jahrzehnten mühsamer Verhandlungen wurde der Vertrag unterschrieben, blieb dann aber hängen, nicht zuletzt, weil Europa die Zerstörung des Regenwaldes bei der vermutlichen Ausweitung der Landwirtschaft nicht mitansehen wollte. Unter Lulas Vorgänger, Jair Bolsonaro, konnte die Europäische Union sich also EU nicht dazu durchringen, das Abkommen zu ratifizieren. Nun – mit Lula und seinen Versprechen – sieht das Bild anders aus. Nicht wenige glauben daran, dass 2023 hier ein Durchbruch erzielt werden könnte. Damit ließen sich 85 Prozent der europäischen Ausfuhrzölle in die Region und damit jährlich mehrere Milliarden Euro Abgaben für Unternehmen vermeiden. Mehr Flexibilität im Im- und Export, harmonisierte Normen und Standards, eine höhere Rechtssicherheit – das Abkommen würde Brasiliens Attraktivität als Investitionsstandort in deutschen Unternehmenskreisen erheblich steigern. Brasiliens Industrie würde hingegen von den verbilligten Importen an Kapitalgütern profitieren und damit Lulas Aufgabe, Brasilien zu einem modernen Industriestandort zu machen, erheblich erleichtern.
Ein Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Deutschland und Brasilien wäre gewinnbringend.
An einem Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Brasilien und Deutschland fehlt es seit 2005. Das macht den Import von Waren und Dienstleistungen teurer; den Aufwand Mitarbeitende zu entsenden größer.
Ein neuen Anstrich
Die deutsche Wirtschaft wird heute nicht einfach an dem Punkt wieder ansetzen können, wo sie vor einigen Jahren in Brasilien verlassen hat. Dazu ist die Konkurrenz, die weiter ihre Fäden im Land gesponnen hat, inzwischen zu groß. Dazu ist das aktuelle Interesse an Brasilien zu hoch. Und dazu ist letztendlich auch die Notwendigkeit Brasilien als Freund und Partner, als Land mit wichtigen Rohstoffen und Märkten, auf denen deutsche Produkte Absatz finden können, als Möglichkeit die Abhängigkeit von China zu reduzieren, Lieferketten zu diversifizieren und eine am Klimaschutz ausgerichtete und vor allem faire und freie Handelspolitik zu betreiben, zu hoch. Deutschlands Angebote müssen sich also deutlich von denen der Nebenbuhlenden unterscheiden. Es geht um Abkommen und Verträge, die Rohstoffpolitik, Nachhaltigkeitsvorsorge, lokale und regionale Wertschöpfung eng miteinander verknüpfen. Und es geht darum schnell zu sein. 
Stand: 30.10.2023