Digitalisierung als Chance

"Deutsche Unternehmer tun zu wenig!"

Jede Branche, jeder Unternehmensbereich ist von der digitalen Transformation betroffen. Die Prognose des Internetexperten Tim Cole: Wer sich ihr nicht stellt, stirbt - wer sich anpasst, profitiert. Im Gespräch mit der Wirtschaft erläutert der Bestsellerautor, auf welche Veränderungen sich die mittelständische Wirtschaft einstellen muss.
Wirtschaft: Die deutsche Wirtschaft verschläft die digitale Transformation, so die Kernaussage Ihres neuen Buchs. Woran liegt das?
Tim Cole: Deutsche Unternehmer reden viel über Digitalisierung und Vernetzung, tun aber zu wenig. Das ist zum Teil der typischen "deutschen Angst" vor dem Versagen geschuldet. Auch hängen deutsche Unternehmer und Manager an ihren bewährten Prozessen. Amerikaner und Asiaten sind da mutiger.
Wirtschaft: Auf welche Veränderungen müssen sich Unternehmen einstellen?
Cole: Vor allem wird das Verhältnis zwischen Kunde und Anbieter auf den Kopf gestellt. Waren Unternehmen gewohnt, die Botschaften, die nach draußen gingen, selbst zu formulieren, gibt heute der Kunde die Themen vor. Er ist heute wirklich König, und zwar ein mächtiger Despot. Er diskutiert auf Facebook oder per Twitter über Unternehmen und ihre Produkte, informiert sich bei Bloggern oder auf Empfehlungsportalen. Nur wer es schafft, sich zu seinem Hoflieferanten zu machen, wird künftig zum Zug kommen. Das setzt tiefes Wissen über jeden Kunden voraus und die Fähigkeit, dieses Wissen schnell in maßgeschneiderte Produkte umzusetzen. Der beste Weg ist, den Kunden dort abzuholen, wo er sich ohnehin ständig aufhält - im Social Web. Aber viel zu viele deutsche Mittelständler halten zum Beispiel Facebook für Zeitverschwendung. Sie verpassen damit die Riesenchance, Marktforschung zum Nulltarif zu bekommen.
Wirtschaft: Was wird sich im Arbeitsalltag verändern?
Cole: 75 Prozent der Deutschen sind heute sogenannte Wissensarbeiter. Für sie wäre es möglich, sich Ort und Zeitpunkt auszusuchen, wo sie arbeiten wollen. Aber leider verlangen laut einer Studie des IT-Verbands Bitkom immer noch 75 Prozent aller Arbeitgeber unbedingte Präsenzpflicht. Das offenbart einen Abgrund an Argwohn der Chefs. Homeoffice oder flexible Arbeitszeitmodelle scheitern also an einer veralteten Führungskultur. Ein Chef, der sein Team auf ein bestimmtes Ergebnis einschwören kann, sodass jeder genau weiß, was bis wann von ihm erwartet wird, kann seine Mitarbeiter auch in die Selbstbestimmung entlassen. Diese Freiheit hat für Arbeitnehmer aber auch einen Preis: Der vernetzte Mitarbeiter hat selten Feierabend, er liest und beantwortet selbstverständlich auch abends noch E-Mails. Die "Generation Y", also die 20- bis 30-Jährigen, können das gut, weil sie in einer Welt aufgewachsen sind, in der ständig kommuniziert und interagiert wird. Wir Alten tun uns halt schwer. Talentierte junge Menschen werden sich in Zukunft ihren Arbeitgeber aussuchen können - weil es viel zu wenige von ihnen gibt.
Wirtschaft: Wer profitiert von der Digitalisierung? Arbeitnehmer oder Arbeitgeber?
Cole: Alle. Der Unternehmer, weil sein Laden besser läuft. Der Mitarbeiter, weil er sich seine Arbeitsumgebung selbst gestalten kann. Beide, weil durch die digitale Transformation Wachstum und Wohlstand geschaffen werden.
Wirtschaft: Welche Schritte sollten Unternehmen jetzt einleiten?
Cole: Sie müssen ihre Prozesse auf den Prüfstand stellen und erkennen, wo digitale Lücken klaffen. Ein Beispiel: Wo müssen Informationen aus einem System erst ausgedruckt und dann von Hand in ein anderes System zur Weiternutzung eingetippt werden? Glauben Sie mir, das gibt es in jedem Unternehmen. Oder nehmen Sie den stationären Handel. Der Umsatz von E-Commerce wächst seit mehr als einem Jahrzehnt ungebrochen. Die Botschaft ist klar: Wer wachsen will, muss ein hybrides Geschäftsmodell fahren. Ein Händler, der seinen Kunden anbietet, Waren online zu bestellen und beim Heimfahren im Ladengeschäft abzuholen, kann mit Mehrumsatz rechnen - weil dem Kunden beim Abholen einfällt, dass er noch etwas vergessen hat. Das setzt aber voraus, Kunden nahtlos online oder offline zu bedienen. Deutschland muss die angefangene Vernetzung endlich zu Ende führen, sonst wird sich das Versprechen, das die IT uns seit Jahren gibt, unerfüllt bleiben: die richtige Information zur richtigen Zeit am richtigen Ort!
Wirtschaft: Welche politischen Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden?
Cole: Der Staat muss den Wust von teilweise vorsintflutlichen Regularien ausmisten. Wenn ich im Zug meinen Laptop aufklappe, verstoße ich ja bereits gegen die Bildschirmrichtlinie, weil der Abstand zum Vordersitz nicht groß genug ist. Die Sofas bei Starbucks entsprechen nicht der deutschen Arbeitsstättenverordnung, aber dort sitzen viele vor allem junge Leute und arbeiten stundenlang. Der Arbeitstag in Deutschland hat maximal acht Stunden, weil sich Gewerkschaften und Arbeitgeber nicht auf Wochenarbeitszeitkonten einigen können. Und Deutschland ist unter den Industrienationen das absolute Schlusslicht in Sachen Glasfaser-Breitbandausbau. Wenn schon die digitale Infrastruktur fehlt, wie sollen Unternehmen da den Anschluss an die Konkurrenz im Ausland halten?
Zur Person
Der Journalist, Bestsellerautor, TV-Moderator und Referent Tim Cole, Jahrgang 1950, ist Experte für Themen rund um Internet, E-Business, Social Web und IT-Security. Seit 1999 hat er drei Bücher verfasst, in denen er sich mit dem Erfolgsfaktor Internet und den damit einhergehenden Veränderungen für die Wirtschaft auseinandersetzt. Von 1998 bis 2002 war Cole Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins "Net Investor".
Andrea Scheffler
Veröffentlicht am 5. Januar 2016