Mittelstand 4.0

Digitalisierung ist Chefsache

Die digitale Transformation ist eine große Chance für die Wirtschaft, gerade auch in Schleswig- Holstein. Gleichzeitig wirft sie vor allem im Mittelstand Fragen und Zweifel auf. Die Digitalisierung umfasst weit mehr als nur die Technologie: Sie beginnt im Kopf und ändert unsere Denk- und Arbeitsweisen. Neue und innovative Ansätze bieten kleinen und mittleren Unternehmen viele Chancen, auch morgen erfolgreich zu sein. 
"In Deutschland haben aktuell so viele Menschen Arbeit wie nie zuvor. Und zwar nicht trotz, sondern wegen der Digitalisierung", sagt Thorsten Dirks, Präsident des IT-Branchenverbands Bitkom. Die digitale Transformation ist der wichtigste Wachstumstreiber Deutschlands. Übten sich in den vergangenen Jahren viele Unternehmen noch in Zurückhaltung, sehen laut einer aktuellen Bitkom-Studie mehr als 90 Prozent aller Betriebe eine Chance in der Digitalisierung, ganze 76 Prozent haben mittlerweile eine digitale Strategie. Und doch steht Deutschland im europäischen Vergleich nur auf Platz elf, heißt es im aktuellen EU-Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft - die Bundesrepublik hat zwei Plätze zum Vorjahr verloren und steht teilweise unterdurchschnittlich da. Gerade der Mittelstand liegt noch in der Entwicklung zurück - etwa aufgrund der Unschärfe des Begriffs und der unüberschaubaren Möglichkeiten. "Die Digitalisierung verändert und modernisiert Geschäftsmodelle, aber stellt sie oft auch komplett infrage. Gerade im Mittelstand, wo es häufig auf das intelligente Zusammenspiel zwischen Hard- und Software ankommt, zum Beispiel im Maschinenbau und in der Informationstechnik, ändern sich die Marktanforderungen enorm", sagt Martin Lochte-Holtgreven, Geschäftsführer der Kieler Consist Software Solutions GmbH. Doch die Chancen sind vielfältig: Neben Kosteneinsparungen und der Nähe zum Kunden winken neue Märkte und Innovationen. Doch wo anfangen? Ulrich Bähr, Leiter der Fachgruppe "Digitalisierung der Wissensgesellschaft" des Clustermanagements Digitale Wirtschaft Schleswig-Holstein (DiWiSH) und des Projekts DigitalChampions_ SH, ist überzeugt: "Gerade beim Mittelstand fängt die Digitalisierung nicht bei der Technologie an. Es geht darum, die Denk- und Arbeitsweisen zu ändern."
Wie nutzt Ihr Unternehmen die Digitalisierung?
Zuerst (re-)organisiert punker alle Unternehmensprozesse mit dem Fokus auf dem Kunden.
Dr. Henning Bähren
Die optimalen Prozesse sind selbstregelnde. Dann nutzen wir die Digitalisierung, um diese schlanken Prozesse zu unterstützen. Dazu setzen wir Digitalisierung in der Produktentwicklung ein und planen und steuern unsere Prozesse. Das betrifft digitalisierte Produktionsanlagen, aber auch Handmontagen mit einem voll integrierten ERP-System einschließlich Dokumenten-Management-System. Dieses System passen wir mit unseren Erkenntnissen kontinuierlich weiter an unsere Bedürfnisse an.
Dr. Henning Bähren, Geschäftsführer der punker GmbH in Eckernförde
Agiles Arbeiten 
Mit der Digitalisierung ändern sich Arbeitsabläufe, manche Tätigkeiten fallen weg, neue Freiheiten entstehen. Eine zentrale Herausforderung dabei ist, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Bitkom zufolge benötigen fast 80 Prozent aller Betriebe mehr Personal mit Digitalkompetenz. Einerseits können gerade Berufseinsteiger profitieren und sich im Arbeitsmarkt positionieren. Andererseits müssen ältere, manuell arbeitende Mitarbeiter mitgenommen werden und können durch Umschulungen verstärkt steuernde und kontrollierende Tätigkeiten ausführen. "Der Trend geht zu mobilen Arbeitsplätzen, flexiblen Arbeitszeiten und einer selbstbestimmten Arbeitsorganisation. Im Vordergrund steht ein agiles Arbeiten in selbst organisierten Teams, die mehr Verantwortung übernehmen. Die bestehende Hierarchiepyramide löst sich auf", sagt Bähr. Für einen digitalen Wandel sind zunächst die Chefetagen gefragt - das ist häufig ein Problem. Viele mittelständische Geschäftsführer stehen kurz vor dem Ruhestand, bringen nicht das Wissen mit und wollen eine Umstrukturierung ihren Nachfolgern überlassen. Das weiß auch Heinz Rohde, Leiter des Projekts Mittelstand 4.0 Agentur Kommunikation bei der Wirtschaftsförderung und Technologietransfer Schleswig-Holstein GmbH: "Digitalisierung ist Chefsache und beginnt im Kopf." Laut Rohde können am Anfang recht einfache Schritte helfen: "Ich rate Unternehmern, sich erst einmal Zeit zu nehmen und Geschäftsabläufe kritisch zu hinterfragen. Biete ich Produkte und Dienstleistungen an, die aktuell nachgefragt werden? Kommuniziere ich auf zeitgemäße Weise mit meinen Kunden? Ist das nicht der Fall, muss hier nach einer Lösung gesucht werden - neben vielen anderen Maßnahmen kann das auch der Einsatz digitaler Technologien sein. An dieser Stelle sind wir gerne Ansprechpartner für Unternehmen in Schleswig-Holstein."
Wie beeinflusst die Digitalisierung Ihr Geschäft?
Kerstin Tomberger
Im Vergleich mit einigen weitgehend papierlosen Büros nutzen wir noch recht viel Papier. Doch bei genauem Hinsehen ist auch mein Betrieb stark digitalisiert. Wir lagern Ware hauptsächlich in einem Kommissionier-Automaten ein. Vom Einkauf über die Lagerkontrolle - Verfall, Ladenhüter, Bestand - bis zum Verkauf erfolgt alles per PC. Das klassische Zum-Schrank-Laufen gibt es kaum noch. Selbstverständlich haben wir, auch an den Kassen, Internet für schnelle Recherchen oder Kontakt zum Großhändler. Übrigens ist die positive Einstellung gegenüber digitalen Medien keine Frage des Alters, wie ich immer wieder feststelle, sondern eine Frage der Aufgeschlossenheit und des Interesses.
Kerstin Tomberger, Inhaberin der Flensburger St. Michael Apotheke Am Ochsenmarkt und im Citti-Park
Big Data
Laut Bitkom hat bereits jedes zweites Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen angepasst. Aber gerade für kleinere Betriebe ist das eine Herausforderung: "Sie haben das Problem, dass Kunden aus dem privaten Alltag eine fortgeschrittene Digitalisierung gewohnt sind und das auch von KMU erwarten - etwa einen schnellen Onlineservice", sagt Bähr. Möglichkeiten, auch mit kleinem Budget Geschäftsprozesse schneller und effektiver zu machen, gebe es genug, sagt Jan Meißner, Digital Consultant bei der Office Alpha GmbH aus Barsbüttel. "Der Trend geht zum mobilen Büro: Außendienstmitarbeiter können auf Tablets Rechnungen direkt beim Kunden schreiben und via PayPal bezahlen lassen. So kann ein ganzer Bürotag überflüssig werden." Auch im Einzelhandel gebe es viele Potenziale: "Ladenbesitzer können ohne großen Aufwand einen Onlineshop eröffnen, indem sie den bestehenden Laden- und Lagerbetrieb in die Software des Onlineshops integrieren. So eine Multichannel-Lösung nimmt die Hürde, zwei Systeme parallel betreiben zu müssen", sagt Meißner. Auch Big-Data-Analysen sind interessant. Durch die Auswertung von Daten lassen sich die Vorlieben der Kunden ermitteln. "Durch die Analysemöglichkeiten des Social- Media-Marketings können Betriebe sehen, wer ihre Zielgruppe ist und wer sich bereits für ihre Produkte interessiert - und bessere Werbung durch Daten generieren", so Meißner. Sogenannte Smart-Data-Lösungen lohnen sich auch im produzierenden Gewerbe, wie Lochte-Holtgreven weiß: "Viele Unternehmen überwachen ihre Maschinen durch Sensordaten im Live- Betrieb und können schauen, wann zustandsbedingte Wartungen nötig sind." Genau wie im Marketing bietet ein datenbasierter Informationsvorsprung einen klaren Wettbewerbsvorteil. Klar ist auch: Unternehmen machen sich durch vernetzte Geräte angreifbar. Sie werden sich stärker mit Datenschutz und Cyberkriminalität auseinandersetzen und in IT-Sicherheit und die Schulung von Mitarbeitern investieren müssen.  
Was raten Sie Mittelständlern, die die Digitalisierung angehen wollen?
Christiane Harthun-Kollbaum

Entscheidend für mittelständische Unternehmen ist, dass Sie zunächst genau prüfen, wie die Prozessabläufe im Unternehmen sind. Eine Digitalisierung kann nur erfolgen, wenn vorher alle Arbeitsabläufe auf den Prüfstand kommen und optimiert beziehungsweise angepasst werden. Und: Die betroffenen Unternehmen sollten genau prüfen, wie viel Digitalisierung notwendig ist und was zum Unternehmen passt. Ich empfehle daher, sich vorher kompetent beraten zu lassen.
Christiane Harthun-Kollbaum, Leiterin Prozessmanagement der H. F. Meyer GmbH & Co KG 
Benjamin Tietjen
Veröffentlicht am 2. Juni 2017