Verkehrswende „mobilisiert“ Unternehmen

Kaum eine Woche vergeht ohne neue Nachrichten zu Klima und Verkehr. Jüngstes Beispiel ist die Diskussion um den absoluten Vorrang des Schienenverkehrs gegenüber der Straße. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) möchte stattdessen Straße und Schiene parallel ausbauen, dabei aber den Straßenverkehr stärker als bisher geplant elektrifizieren. Der Vorstoß hat zu dem erwarteten Protest der Koalitionspartner geführt.
Ungeachtet politischer Debatten ist das Thema Verkehrswende in der Gesellschaft und in den Unternehmen angekommen. Dabei geht es nicht nur um die CO2-Bilanz, sondern auch um Mittel gegen die chronische Überlastung von Straße und Schiene. So fordert das Bündnis Schiene ein Investitionsprogramm, um die Fahrgastzahlen im Regionalverkehr künftig noch zu bewältigen. Das Bündnis rechnet mit einer Vervierfachung der Pendlerzahlen auf den Hauptstrecken von und nach Berlin.

49-Euro-Ticket ist eine Herausforderung
Dabei sind die Wirkungen des 49-Euro-Tickets noch gar nicht eingepreist. Für die Verkehrsunternehmen war die kurzfristig angekündigte Einführung zum 1. Mai eine technische Herausforderung. Es ist noch nicht endgültig geklärt, wie die Mindereinnahmen kompensiert werden und ob die Mittelverteilung zwischen Stadt- und Landregionen gerecht sein wird. Dass das Deutschlandticket für die Fahrgäste eine gute Sache ist, steht dabei außer Frage.

Praxiserfahrung mit dem Lastenrad
Gegen Stau und Stress im Innenstadtverkehr stemmt sich das Konzept Lastenrad. Eingesetzt im Paketverkehr soll das Lastenrad den letzten Kilometer zwischen Logistik-Station und Kunden überbrücken. Der Onlineversand boomt. Nach Branchenprognosen wird sich die Zahl der Paket- und Päckchensendungen in den nächsten Jahren noch verdreifachen. Unser Unternehmensbeispiel einer Hausmeister-Firma zeigt die Alltagserfahrungen mit dem Lastenrad im Innenstadt-Verkehr. Schließlich stellen wir ein Unternehmen vor, das seine Mitarbeiter mit attraktiven Verkehrsangeboten „mobilisiert“. Dazu gehören Ladesäulen auf dem Firmenparkplatz, Jobtickets für den Regionalexpress und Leasing-Angebote für Fahrräder und E-Bikes. Das alles sind Beispiele dafür, wie Unternehmen und Bürger nicht nur auf die Vorgaben der Politik warten, sondern selbst Ideen für die Verkehrswende entwickeln und ausprobieren.

Lastenrad XXL

Wenn Alfons Kasseck durch die Stadt fährt, drehen sich alle nach seinem Fahrzeug um. Es ist ein E-Cargobike. Er ist Hauswart bei der Firma PEAR Potsdam GmbH, die als Dienstleister für die kommunale Wohnungsgesellschaft Pro Potsdam tätig ist. Hier gehört Kasseck dem Hauswart-Team Innenstadt an. Er beliefert seine Kollegen mit der Mieterzeitung, Reinigungsmitteln, Gartengeräten und allem, was sie sonst noch für ihre Arbeit benötigen.
PEAR nutzt ein Fahrrad des Berliner Startups ONOMOTION GmbH. Es ist speziell für Innenstadt-Logistik konstruiert, in erster Linie für Paketversender, aber auch Lieferdienste, Handwerker und Dienstleistungsunternehmen. Das Cargobike ist eine Mobilitätslösung, die Großstädte sauberer, sicherer und leiser machen soll. Das aus Berlin bekannte Fahrzeug weckte das Interesse. „Es passt gut zu uns und unserem Kunden, der Pro Potsdam, der Nachhaltigkeit sehr ernst nimmt“, sagt Geschäftsführer Dirk Peter. Das Ziel der großen kommunalen Wohnungsgesellschaft ist es, bis zum Jahr 2040 vollständig CO2-neutral zu sein. Der Potsdamer Immobiliendienstleister unterstützt dieses Konzept. Die Hauswarte sind schon seit Langem mit Dienstfahrrädern ausgestattet. Die Firma setzt auch bereits mehrere Elektro-Caddys ein, allerdings fehlt es an Ladestellen in den Wohngebieten. Ein Riesenvorteil ist da der herausnehmbare Akku beim Lastenrad.

Die Firma PEAR ist bisher die einzige in Potsdam, die ein ONO-Bike nutzt. Dagegen sind diese in anderen deutschen Städten schon häufiger zu sehen. Hermes, GLS, DPD und UPS sind unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt (Main) und Nordrhein-Westfalen mit dem Cargobike unterwegs. Das Elektrorad ist ein Weg, die letzte Meile zum Kunden geräuscharm und CO2-neutral zu überwinden. Die Paketlogistik ist ein stark wachsendes Segment. Derzeit werden jährlich 3,5 Milliarden Pakete und Päckchen in Deutschland versendet. Branchenprognosen zufolge werden es in wenigen Jahren neun Milliarden Sendungen sein. Die Zahl der Lieferwagen würde sich ebenfalls verdreifachen, wenn man weitermacht wie bisher.
Paketaufkommen wächst weiter
Entsprechend groß war die Bereitschaft der Logistikfirmen, das Berliner Cargobike zu testen und ihre Anforderungen in die Entwicklung einfließen zu lassen. Auch das Feedback ist absolut positiv. „Es bewerben sich dort Personen als Fahrer, die ganz bewusst ohne CO2-Abdruck unterwegs sein wollen“, berichtet Marketing-Chefin Inga Töller. Auch die Bevölkerung schaut mit Sympathie auf die Cargobikes. „Sie werden als weniger gefährlich wahrgenommen als die 3,5-Tonner im Paketdienst.“ Inga Töller rechnet damit, dass Lastenräder in den europäischen Metropolen künftig zum Straßenbild gehören werden, zum Teil ist das jetzt schon so. Sie sagt: „Beschleunigt wird die Verbreitung durch den ökologischen Stadtumbau, durch City-Maut und die steigende CO2-Besteuerung.“ Aber an eine völlige Verdrängung des Autos glaubt sie nicht.
Praxisbericht Lastenrad
Ein Vorteil des Cargobikes ist die Nutzung kleiner Parklücken sowie das Halten auf dem Gehweg, wobei die Tücke im Detail liegt. An Einfahrten mit abgesenktem Bordstein ist der Übergang von der Straße zum Gehweg problemlos möglich. Höhere Bordsteinkanten sind durch die geringe Bodenfreiheit eine Schwierigkeit. „Zusammen mit dem Radlogistikverband empfehlen wir die Nutzung der Radwege und Fahrbahnen. Das Halten und Parken sollte, wenn möglich, am Fahrbahnrand und nicht auf dem Gehweg erfolgen“, so Inga Töller. Auf der Straße stört das denkmalgeschützte Altstadtpflaster den Fahrspaß. Viele Radfahrer weichen darum auf den Gehweg aus – Alfons Kasseck lässt das mit seinem Cargobike lieber bleiben. Inga Töller sagt: „Die Erfahrungsberichte unserer Kunden sind wichtig und helfen uns, die ONOs weiter zu verbessern. So können wir Wünsche in künftigen Modellen auch berücksichtigen.“
Ein Jahr nach der Anschaffung des E-Cargobikes möchte Geschäftsführer Dirk Peter noch nicht Bilanz ziehen. Er sagt: „Wir setzen das Fahrzeug dort ein, wo es am besten einzusetzen ist, gebraucht wird und auffällt: in der Innenstadt. Das Cargobike steht für das grüne Image von Potsdam, das wir stärken wollen, aber wir müssen dabei auch die Fahrzeugkosten gering halten. Wir werden Vor- und Nachteile abwägen, wenn es um den nächsten Leasingvertrag geht. An der Nachhaltigkeit bleiben wir aber dran. Unsere Hauswarte sind alle mit dem Fahrrad unterwegs und nur dann mit dem Auto, wenn etwas zu transportieren ist.“

Attraktive Angebote für Mitarbeiter

Die Bonava Deutschland GmbH ist Projektentwickler im Haus- und Wohnungsbau mit Sitz in Fürstenwalde/Spree. Rund 1 000 Mitarbeiter in Deutschland an insgesamt elf Standorten sorgten 2022 für einen Jahresumsatz von 733 Millionen Euro.
In Fürstenwalde arbeiten 450 Mitarbeiter – viele davon pendeln täglich, zum Beispiel kommen sie aus Potsdam, Berlin oder Frankfurt (Oder). Für das aus dem 1964 gegründeten VEB Industriebau Fürstenwalde hervorgegangene Unternehmen ist klar, seinen Hauptsitz am Standort zu belassen. Deutliches Zeichen dafür ist der Neubau des Verwaltungsgebäudes im Jahr 2012 und die Erweiterung 2018. Die Stadt Fürstenwalde hatte den Bau gestemmt und mit dem Unternehmen einen langfristigen Mietvertrag ausgehandelt. Bekenntnis zum Standort Fürstenwalde auf der einen Seite und viele Pendler auf der anderen Seite: Da bedarf es eines guten Verkehrs- und Mobilitätskonzepts für die Mitarbeiter.

Ladesäulen für E-Mobile
In Zeiten knapper Fachkräfte ist dieses Thema umso drängender. Vor zwei Jahren wurde im Unternehmen eine Arbeitsgruppe Mobilitätskonzept ins Leben gerufen. Ziel war es, den Ausstoß von CO2 zu verringern und den Mitarbeitern ein deutliches Plus zu bieten. Herausgekommen ist ein ganzer Strauß an Veränderungen. Fast schon obligatorisch ist die Errichtung von Ladesäulen für Elektrofahrzeuge. Bei Bonava sind dies 42 Stück. Wo es geht, werden Verbrennerfahrzeuge durch elektrisch angetriebene ausgetauscht. Mitarbeiter werden so eingesetzt, dass sie Fahrgemeinschaften bilden können.

Job-Tickets für den Regio
Job-Tickets gehören ebenso in das Mobilitätsprogramm von Bonava wie die Bahncard in allen denkbaren Ausführungen. „Unser Gebäude steht auf der anderen Seite des Bahnhofs und der RE1 aus Potsdam über Berlin fährt alle 20 Minuten. Das ist schon sehr komfortabel“, sagt Anke Schmidt. Sie ist seit 2011 im Unternehmen, das damals noch NCC hieß. „Zum Vorstellungsgespräch bin ich noch mit dem Auto gefahren. Jetzt aber genieße ich die Möglichkeit, ohne umzusteigen und mit kurzem Fußweg zur Arbeit zu kommen“, sagt die Leiterin des Bereichs Recht und Investorengeschäft.


Bike-Leasing
Tania Scheuermann ist die kommissarische Leiterin der Personalabteilung. Für sie ist das Thema Mobilität ein wichtiger Schlüssel in der Gewinnung neuer Mitarbeiter. Sie sagt: „Unsere Mitarbeiter haben zusätzlich die Möglichkeit, ein Job-Bike zu bekommen. Davon haben wir bereits 150 im Einsatz. Das können normale Fahrräder, Lastenräder oder E-Bikes sein. Die Job-Bikes werden wie ein Dienstwagen abgerechnet. Bonava übernimmt die Versicherung und die Abwicklung. Unsere Mitarbeiter können sich bei ihrem Fahrradhändler ein Rad aussuchen. Wir übernehmen den Rest für ihn.“ Das kann sich für die Mitarbeiter lohnen. Nach drei Jahren besteht die Option, ein neues Rad auszuwählen oder das alte auszulösen. „Seitdem wir das anbieten, sehen wir auf dem Parkplatz manchmal mehr Fahrräder als Autos“, sagt Tania Scheuermann.
Einer, der täglich mit dem Rad zur Arbeit kommt, ist Thomas Otto. Der Fürstenwalder ist seit 1997 bei Bonava als Kalkulator tätig. Schon als Kind liebte er das Radfahren. Heute gibt es kaum einen Tag, an dem er nicht das Fahrrad wählt, um in sein Büro zu kommen. Obwohl der 46-Jährige bereits zwei Räder hat, entschied er sich vor zwei Jahren für das Leasing. „Jetzt kann ich meine eigenen Fahrräder schonen und ohne Sorgen und bei jedem Wetter das geleaste Rad nehmen“, sagt er. Momentan überlegt er sogar, vom Angebot des Arbeitgebers Gebrauch zu machen und ein zweites Rad zu leasen. Finanziell mache sich das für ihn kaum bemerkbar. Generell findet es Thomas Otto gut, dass man sich bei Bonava viele Gedanken über die Mobilität der Zukunft mache. „Jetzt kommen viele Kollegen entspannt und gut gelaunt zur Arbeit und tun gleichzeitig etwas für ihre Gesundheit“, sagt er.

Verkehrsunternehmen im Ticket-Stress

Das Thema, das Busunternehmer und Eisenbahngesellschaften in den vergangenen Wochen stark umgetrieben hat, ist das sogenannte Deutschlandticket. Bei diesem Ticket kann für 49 Euro pro Monat nahezu der gesamte ÖPNV genutzt werden. Was für die Bürger nach einem tollen Angebot klingt, bedeutet für Unternehmer der Branche einen deutlichen Mehraufwand. Schon seit Wochen investieren sie viel Manpower, um sich über die Umsetzung der so simpel klingenden Idee Klarheit zu verschaffen. Stellvertretend für die Branche im Land Brandenburg sei hier der Busunternehmer Gerd Schmidt aus Lauchhammer genannt.
Für ihn gibt es bei diesem Thema zwei Säulen der Betrachtung: die Unternehmersicht und die Nutzersicht. „Aus Unternehmersicht könnte man die Einführung des 49-Euro-Tickets schon fast als Eingriff in die unternehmerische Tarifhoheit (§ 39 PBefG – Personenbeförderungsgesetz) ansehen, sodass letztlich mit einem deutschlandweit geltenden und regional ungerecht wirkenden Tarif agiert wird“, sagt er. „Für uns Verkehrsunternehmer besteht noch Unklarheit, wie sich dieses Ticket auswirken wird. Von enormer Bedeutung ist für uns der wesentliche Ausgleich von Einnahmeverlusten durch die Einführung des Tickets.“

Schwer kalkulierbare Risiken
Gerd Schmidt ist Vorsitzender des Mobilitäts-Ausschusses der IHK Cottbus und auch in dieser Funktion in ständigem Kontakt mit anderen Unternehmen der Branche. Sie alle monieren, dass es lange keine steten Aussagen seitens der Politik gab. „Noch vor dem 15. März dieses Jahres hatten wir den Stand, dass die EG-Kommission die für den Ausgleich wesentlichen Kleinbeihilfenregelungen ab dem 1. Juli für Deutschland nicht mehr gebilligt hatte. Nunmehr steht fest, dass der Bund und die Länder etwa entstehende Einnahmeverluste der Unternehmen mit jeweils 1,5 Milliarden Euro pro Jahr ausgleichen können. Dafür wurden die gesetzlichen Rahmen entsprechend angepasst. Wir müssen uns ständig neu orientieren und die Risiken sind teilweise einfach nicht kalkulierbar.“

Ticket gut für Fahrgäste
Für die Nutzer des Deutschlandtickets freut sich Gerd Schmidt. Er sagt: „Mit diesem Ticket kann Deutschland als ein einziger Nahverkehrsraum erfahren werden.“ Sein Unternehmen hat sich für den Vertrieb der Tickets über eine Mobilitätsplattform entschieden. „Wenn das richtig gut klappt, ist es für den Nutzer sehr einfach“, sagt Richard Schmidt. Der 20-jährige Sohn des Unternehmers studiert derzeit an der TU Dresden Verkehrswirtschaft und wurde zuletzt von seinem Vater für das Thema Umsetzung des Deutschlandtickets im Unternehmen eingesetzt. Er sagt: „Eigentlich ist das Deutschlandticket eine gute Sache. Man ist damit bundesweit mobil. Das Ticket wird also den Zugang zu Bussen und Bahnen erleichtern, das Erreichen der Klimaziele unterstützen und die Bürgerinnen und Bürger finanziell entlasten.“
Die Verkehrsunternehmen werden jedoch mit dem Vertrieb des neuen Tickets mehr oder weniger alleine gelassen. Das kann als kritikwürdig betrachtet werden. Zugleich ist es jedoch für die Verkehrsbetriebe die unternehmerische Pflicht, sich am Markt zu orientieren und moderne, digitale Vertriebsmöglichkeiten einzubinden.

Vervierfachung der Bahnnutzer

Bündnis Schiene sieht gewaltigen Investitionsbedarf

FORUM: Herr Leister, Sie gehören zum Koordinierungsteam vom Bündnis Schiene Berlin-Brandenburg. Was ist das für ein Bündnis?

LEISTER: Es ist ein Netzwerk von unterschiedlichen Organisationen und Unternehmen, denen die Entwicklung des Schienenverkehrs in Berlin-Brandenburg am Herzen liegt. Wir arbeiten organisationsübergreifend mit dem Ziel, Einfluss auf Entscheidungen der Politik zu nehmen. Die Länder Berlin und Brandenburg entscheiden über die Bestellung des Schienennahverkehrs, mit beschränkten Mitteln, die der Bund zur Verfügung stellt. Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) unterstützt die Länder, ein kleines Team dort plant das Betriebsprogramm. Wir vertreten einen zivilgesellschaftlichen Ansatz für die Entwicklung des Schienenverkehrs, indem wir verschiedene Interessengruppen und Verbände einbinden. Zum Beispiel den Umweltschutz mit dem BUND und die Wirtschaft mit den drei Brandenburger IHKs. Es sind Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen am Ausbau des Bahnverkehrs interessiert sind. Das Bündnis gibt es seit 2019. Wir nehmen Stellung zu wichtigen Konzepten, zum Beispiel dem Landesnahverkehrsplan von Brandenburg, und machen eigene Vorschläge.

FORUM: Vom Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg stammt das Konzept i2030 für den Streckenausbau. Von Ihnen, dem Bündnis Schiene, gibt es das Konzept „Zielnetz 2035“. Was ist denn der Unterschied?

LEISTER: Bei i2030 geht es im Wesentlichen um den Ausbau der Streckenkorridore ins Umland, der schon lange in Planung ist. Aber wir gehen nicht von den Strecken aus, sondern vom künftigen Bedarf und dem dafür notwendigen Liniennetz. Der steigt nach Berechnungen des VBB bis 2030 auf den pendlerstarken Achsen um 50 Prozent. Die erforderliche Verkehrswende bedeutet jedoch sogar eine deutlich höhere Steigerung, bis zum Vierfachen durch eine massive Verlagerung vom Individualverkehr zum öffentlichen Personennahverkehr. Das bedeutet kürzere Taktung und noch einmal sehr hohe Investitionen in zusätzliche Züge. Linien, die heute stündlich fahren, werden dann vielleicht im 15-Minuten-Takt bedient. Der von uns vorgeschlagene Ausbau des Bahnsystems dürfte eines der größten und effektivsten Klimaschutzprojekte in der Region Berlin-Brandenburg sein.

FORUM: Woher soll das Geld dafür kommen?

LEISTER: Für die Investitionen in das Bundesschienennetz ist in erster Linie der Bund zuständig, weitere Mittel kommen von der EU, den Länder Berlin und Brandenburg sowie den Kommunen, wenn man etwa an Fahrrad-Stellplätze an den Bahnhöfen denkt. Für den laufenden Betrieb gibt der Bund die sogenannten Regionalisierungsmittel, die ab 2030 nach dem dann notwendigen Bedarf neu justiert werden. Aber auch die Länder und Kommunen werden ihren Beitrag für die ÖPNV-Finanzierung erhöhen müssen.

FORUM: Und wie wird sich das 49-Euro-Ticket auf die Verkehrsströme auswirken?

LEISTER: Sicher begünstigt das Deutschlandticket den Nahverkehr, was die Nachfrage
angeht. Viele Menschen werden ihr Auto stehenlassen, weil es eine günstige Alternative gibt. Es ist ein guter Ansatz, wenn ein Ticket ausreichend ist, um in ganz Deutschland mit Bus und Bahn zu fahren. Menschen mit geringem Einkommen können verreisen, sie müssen nur etwas mehr Zeit mitbringen. Nicht positiv aus Brandenburger Sicht ist der Alleingang von Berlin mit dem nur in Berlin gültigen 29-Euro-Ticket: Die Gefahr besteht, dass die Berliner das 29-Euro-Ticket in ihrer Stadt nutzen werden, aber das Auto nehmen, sobald es über die Stadtgrenze geht.

FORUM: Werden Sie von der Politik hinlänglich ernst genommen?

LEISTER: Ja, in zunehmendem Maße, vor allem in Berlin, in Brandenburg arbeiten wir noch daran. Es spricht sich herum, dass unsere Stellungnahmen fachlich fundiert sind. Unser Bündnis bündelt eine Menge Bahn-Expertise und unterschiedliche Interessen. Wir führen hier einen gesellschaftlichen Dialog, bevor wir mit einer Stellungnahme an die Öffentlichkeit treten. Wir wirken dabei interessenausgleichend und unterstützen auch nicht jedes Anliegen, das Mitglieder an uns herantragen.

FORUM: Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

LEISTER: Wir sind keine Pufferküsser und akzeptieren, dass die Bahn nicht immer und überall das richtige Verkehrsmittel ist. Wenn die Wirtschaftlichkeit fehlt, weil es zu wenig Fahrgäste gibt, und nicht erkennbar ist, dass sich das deutlich ändert, werden wir nicht für jedes Gleis kämpfen, auch wenn einzelne Mitglieder im Netzwerk das wollen. Wir setzen uns für den Erhalt von Strecken ein, wenn wir eine Perspektive sehen. Das haben wir mit unserer Stellungnahme zu den Linien RB73 und RB74 Regionalbahn in der Prignitz getan.

FORUM: Was ist dort geschehen?

LEISTER: Wir haben im März für den Infrastrukturausschuss des Landtags ein Impulspapier „Zukunft für die Bahnstrecken in der Prignitz“ vorgelegt, das zusammen mit den Landkreisen Prignitz und Ostprignitz-Ruppin erarbeitet wurde. Darin empfehlen wir eine Verbindung von Berlin über Neustadt (Dosse) und Pritzwalk nach Güstrow und Rostock. Die vorhandenen Streckenabschnitte bekommen mit relativ geringen Ausbaumaßnahmen eine neue Funktion als Verbindung von Berlin zur Ostsee. Der ganze Korridor wird von durchgehenden Zügen mitbedient. Ein großes Potenzial hat auch die Berliner Ostbahn nach Kostrzyn (Küstrin), vor allem auch für den Gütertransport nach Polen und weiter ins
Baltikum.
Es fragte Bolko Bouché
Zur Person

Hans Leister fiel als Mitarbeiter des Brandenburgischen Finanzministeriums auf, als er Manfred Stolpe von seinen Ideen für den Ausbau des Schienennetzes Berlin-Brandenburg erzählte. Leister wurde mit der Gründung einer Arbeitsgruppe beauftragt und erfand die „Durchfahrung“ der Hauptstadt – zum Beispiel auf der Strecke Brandenburg – Frankfurt (Oder). Zuvor waren Bahnhöfe am Stadtrand häufig die Endstation für die Regionalzüge gewesen. Auch für den „Deutschlandtakt“ war er einer der Ideengeber. Darunter sind kürzere Gesamt-Fahrzeiten durch bessere Anschlüsse zu verstehen.

Hans Leister war von 1994 bis 2001 als Leiter Regionalverkehr bei der Deutschen Bahn und von 2001 bis 2006 Geschäftsführer der Regionalbahn Connex (heute Transdev). Gegenwärtig ist er als Berater im Bereich Schienenverkehr aktiv. Für das Bündnis Schiene arbeitet er ehrenamtlich. Nebenbei schreibt er Thriller wie „Der Tunnel“ und „Das U-Boot“, in denen die Protagonisten nicht mit dem Auto, sondern mit Bahn oder dem U-Boot unterwegs sind.
Guido Noack
Referent Verkehr
Geschäftsbereich Wirtschaftspolitik