Brandenburgs Beste

Windmüller 2.0

Die wichtigste Säule der Brandenburger Wirtschaft sind die mittelständischen Unternehmen. Einige von diesen Firmen überzeugen durch Innovation und Spezialisierungen. Sie bedienen Nischen und sind dabei sehr erfolgreich. Manchmal sind sie weltweit aktiv und zu Hause fast unbekannt. In unserer Serie stellen wir solche besonderen Brandenburger Unternehmen vor. Heute: ENERTRAG SE.
Die ENERTRAG SE in der Uckermark erzeugt Strom aus Wind und anderen erneuerbaren Energien. Mit rund 1 000 Mitarbeitern plant, errichtet und betreibt das Unternehmen hauptsächlich Windenergieanlagen und ist führend bei der Entwicklung neuer Technologien, insbesondere der Wasserstoffherstellung aus erneuerbarer Energie. Den Tag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986 erlebte Jörg Müller als Student für Kernenergie am Energetischen Institut in Moskau. Das war für ihn der Anlass, die Spezialisierung Reaktorsicherheit zu wählen. Allerdings fand er bald heraus, dass es mit der Kernenergie keine Zukunft geben würde. Er sagt: „Das Wichtigste war die 1990 beginnende Erkenntnis, dass wir die Kernfusion nicht nutzbar machen können. Jedenfalls nicht schnell genug. So begann meine Energiewende. Denn das Ziel war immer die Kernfusion, nie die Kernspaltung, welche als Brückentechnologie gedacht war.“
An der Kernfusion, bei der Energie durch die kontrollierte Verschmelzung von Atomkernen freigesetzt werden soll, wird noch geforscht. Ein Versuchsreaktor ist in Greifswald in Betrieb, einer in Südfrankreich im Bau, aber mit einer wirtschaftlichen Nutzung der Energie ist nicht vor 2050 zu rechnen.

Abschied von der Kernenergie

So begann bei vielen Technikern das Nachdenken über Alternativen. Zum Beweis zeigt Jörg Müller das Büchlein „Aerologie“ des visionären Ingenieurs Gerd Otto aus dem Jahr 1986. Er blättert es auf und zeigt die Abbildung einer riesigen Windanlage – so groß wie der Berliner Fernsehturm. Es ist das Patent der ersten getriebelosen Windkraftanlage, ähnlich wie sie Enercon seit 1994 baut. Gerd Otto war seiner Zeit weit voraus. Er kannte das Problem der Windverfügbarkeit und plante in seinem Patent die Energieumwandlung in Wasserstoff und dessen Speicherung gleich mit ein.

Auch der VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau, der das Kernkraftwerk Lubmin errichtete, suchte als Kraftwerks- und Anlagenbau AG (KAB) ab 1990 neue Wege. Jörg Müller arbeitete dort an der Planung von Windkraft-, Solar- und Biogasanlagen mit. Erster Kunde war 1992 die Gemeinde Gerswalde, die für ihre Kläranlage eine Windanlage bestellte. Kläranlagen brauchen Strom, insbesondere für die mechanische Reinigung und als Systemwärme im Faulturm. Die damalige Anlage lieferte 250 kWh, heutige Windanlagen bringen es auf das 50- bis 100-fache. Schon bei diesem Projekt war der Widerstand der alten Energiewirtschaft spürbar. Obwohl alle Anschlüsse bereits verlegt werden und nichts weiter zu bauen war, verlangte der Energieversorgen 60.000 Mark nur für die Einspeisung. Dies konnte nur über die „guten alten Kontakte“ zwischen KAB und dem Versorger abgebogen werden. Aber wegen der hohen Stundensätze, mit denen der Großkraftwerkbau kalkulierte, kamen zu wenige Aufträge rein, so war dieses Geschäft nicht erfolgreich genug.

Start als Ingenieurbüro
Jörg Müller machte sich 1993 mit Partnern selbstständig und gründete mit Uckerwind in Prenzlau sein erstes Energieunternehmen, welches bis heute 16 Windkraftanlagen betreibt. Es folgte die Uckerwerk Energietechnik GmbH in der ehemaligen Brennerei Schönfeld. Uckerwerk wiederum war 1998 Gründer von ENERTRAG. Das Energie-Einspeise-Gesetz von 1991 garantierte den Erzeugern einen Abnahmepreis von 17 Pfennigen und brach das Monopol der Energieerzeugung, das bisher in Deutschland nur wenigen Konzernen vorbehalten war. Jörg Müller berichtet: „Die Konzerne wehrten sich mit allen Mitteln gegen die Einspeisung. Bei uns hat es ein Dreivierteljahr gedauert, bis die ersten Anlagen angeschlossen wurden.“ Dass es überhaupt geschah, verdankte der Gründer der Intervention des Brandenburgischen Wirtschaftsministeriums. 1994 nahm Uckerwind die ersten eigenen Windanlagen in Betrieb.

Firmensitz Gut Dauerthal
Gut Dauerthal ist ein Ortsteil der Gemeinde Schenkenberg, direkt an der A 20 gelegen. Es gibt dort acht Einwohner und seit 1999 ein großes Unternehmen. ENERTRAG baute die Ruine des alten Gutshauses zum Geschäftssitz aus. Der Stromerzeuger errichtete eine Leitwarte, mehrere Bürohäuser und entwickelte die Uckermark zu einer der wichtigsten Windkraft-Regionen in Deutschland.

Gegenwind
Wo immer regenerative Energien angesiedelt werden sollten, stießen sie auch auf Widerstand. Allein in der Uckermark bildeten sich 17 Bürgerinitiativen gegen die Windkraft. Der ORB berichtete damals sogar in einer Vor-Ort-Sendung darüber. Jörg Müller erzählt: „Wir wollten im Gewerbegebiet Prenzlau eine Windanlage errichten. Kaum war das gesagt, wurden Geister beschworen: Das geht nicht, das ist zu laut und solch ein hundertfünfzig Meter hohes Monster erdrückt die ganze Stadt. Bilder tauchten auf, mit einer Mühle himmelhoch, vom Uckersee aus weit Sankt Marien überragend. Es ist ruhig geworden in Prenzlau. Die Monstermühle steht im dritten Jahrzehnt unscheinbar am Stadtrand und erzeugt brav zehn Prozent des Strombedarfs von Prenzlau.“ Es war die Argumentation des Gründers, dass die Region mit Windkraft vom Verbraucher zum Energielieferanten wird und so gut bezahlte Arbeitsplätze in einem strukturschwachen Landkreis entstehen.

Kapitalanlage in Erneuerbare

Seit 1998 finanziert ENERTRAG Windanlagen auch mit Hilfe privater Kapitalanleger. Das Unternehmen hat eine eigene Fondsabteilung aufgebaut und legte festverzinsliche Wertpapiere auf. 10.000 Anleger investierten so in die Windkraft und konnten sich regelmäßig über die zugesicherten Ausschüttungen freuen. Die Firma stoppte zwischenzeitlich zwar die Ausgabe von Wertpapieren, da sie in den letzten Jahren viel günstiger Geld bei den Banken aufnehmen konnte, plant aber noch in 2023 das nächste Anlageprodukt aufzulegen.

ENERTRAG international

Anfang 2022 wurde die ENERTRAG AG in eine Societas Europaea (SE) umgewandelt. Diese Rechtsform ermöglicht es Aktiengesellschaften, ihre Geschäfte in der EU mit einem einheitlichen Regelwerk zu betreiben. ENERTRAG braucht so keine Tochtergesellschaften in der EU, sondern ist direkt in Frankreich und Polen vertreten. Außerdem ist das Unternehmen mit Projektteams in Vietnam, Uruguay, Ghana und Namibia aktiv. In Südafrika unterhält ENER-TRAG ein Tochterunternehmen mit 60 Mitarbeitern. Das Energieunternehmen akquiriert jedoch nicht offensiv, die Auslandsprojekte haben sich bisher immer aus der Zusammenarbeit mit internationalen Partnern ergeben.

Arbeitgeber ENERTRAG

Mit über 1000 Mitarbeitern ist ENERTRAG einer der größten Arbeitgeber in der Uckermark. Nur die PCK-Raffinerie in Schwedt und die Kreisverwaltung haben mehr Beschäftigte. ENERTRAG plant und betreibt Energieanlagen und Netze, die von einer eigenen Leitwarte aus gesteuert werden. Fast alle Leistungen werden von eigenen Mitarbeitern erbracht. So beschäftigt die Firma neben Fachplanern, Ingenieuren und Technikern beispielsweise auch Geomatiker für die digitale Aufbereitung von Vermessungsdaten, Eventmanager für Messen und Informationsveranstaltungen sowie Biologen für die begleitende Untersuchung zum Vogelschutz.
Es wird oft behauptet, dass Windanlagen Vögel schreddern. Solche Fälle wurden zwar gelegentlich vom Landesumweltamt dokumentiert, allerdings war gleichzeitig eine deutliche Zunahme der Vögel im Umfeld von Windparks zu beobachten. Das liegt daran, dass für den Bau der Windanlagen landwirtschaftliche Monokulturen unterbrochen und Wege angelegt werden. Es entstehen Biotope, in denen Kleinsäuger ihren Lebensraum haben, sie sind Beutetiere der Raubvögel. Jörg Müller kommentiert trocken: „Würden wir die Windkraftanlagen abbauen und alles wieder mit Raps und Mais zupflastern, dann brächten wir alle Adler und Milane damit um.“

ENERTRAG beschäftigt Köche und bildet sogar diesen Beruf aus, da es am Ort sonst keine Versorgung gibt. Die Firma bezuschusst das Essen in der Kantine. Alle 120 Dienstwagen des Unternehmens fahren elektrisch oder mit Wasserstoff, die Mitarbeiter dürfen auch ihre privaten Elektroautos kostenfrei laden. Noch nicht abgeschlossen ist die Umstellung der Transporter für die Servicetechniker, da diese mit Strom oder Wasserstoff noch nicht verfügbar waren.

Dark Sky

Die Dark Sky GmbH ist eine Tochterfirma von ENERTRAG. Ihre Aufgabe ist die bedarfsgerechte Nachtkennzeichnung von Windrädern, die eine Gesamthöhe von mehr als 100 Metern erreichen. Die Lampen müssen nachts rot blinken, um anfliegende Piloten zu warnen.
Geschäftsführer Thomas Herholz sagt: „Das dauerhafte Blinken ist eines der Akzeptanzprobleme bei Windanlagen, besonders bei den großen Windparks.“ Der Elektroingenieur arbeitet schon seit dem Jahr 2000 bei ENERTRAG an Abschalt-Automatiken, aktuell werden dafür die Transpondersignale des Flugzeuges genutzt, die für die Fluglotsen bestimmt sind. Dark Sky aktiviert das Rotlicht erst, wenn sich ein Flugzeug auf 4 Kilometer nähert und die Flughöhe unter 600 Meter liegt. Die Lichtemission von Windparks wird dadurch um bis zu 95 Prozent reduziert.
Zukunftspläne
Gern erzählt Jörg Müller von den Anfängen in den 1990-er Jahren. Damals belächelten Stromkonzerne wir E.ON und RWE noch die Erneuerbaren Energien. Maximal 4 Prozent am Strommarkt wurden ihnen zugebilligt. Im Oktober 2023 wurden aber bereits 75 Prozent des Strombedarfs in Deutschland durch Erneuerbare Energien gedeckt. In wenigen Jahren könnten es 100 Prozent sein. Eine Voraussetzung ist der Bau von Verbundkraftwerken, die Photovoltaik und Windkraft mit Wasserstofferzeugung und dessen Speicherung koppeln. Windkraft und Solarstrom ergänzen sich hier perfekt. Jörg Müller ist sich sicher, dass Erneuerbare Energien grundlastfähig werden müssen und dass die Speichertechnik dafür bereits existiert: Nämlich in Form von Wasserstoff. Batterien spielen hier nur eine Nebenrolle.

„Deutschland hat das russische Erdgas lange Zeit sehr billig bekommen. Darauf ruhten viele Hoffnungen. Aber das Umdenken hätte 15 Jahre früher passieren müssen. Die Angst der alten Energiewirtschaft vor den Erneuerbaren hat dazu geführt, dass Innovation verhindert wurde. So ist auch die Solarindustrie abgewandert, jetzt versuchen wir, sie mit doppeltem Aufwand zurückzuholen“, sagt der Geschäftsführer.

Geschäftsfeld Wasserstoff

Aktuelles Thema bei ENERTRAG ist die Wasserstofferzeugung mit Elektrolyseuren. Wasserstoff lässt sich direkt für vielfältige Anwendungen nutzen wie Stahlherstellung, Wasserstofffahrzeuge und -loks, oder Wärmepumpen. Auch Ammoniak als Ausgangsstoff für die Düngemittel- und Farbindustrie wird aus Wasserstoff hergestellt. ENERTRAG arbeitet seit 20 Jahren an der Wasserstofftechnologie. Sie soll bei der Umwandlung der PCK-Raffinerie Schwedt Anwendung finden, die bis 2045 komplett auf die Produktion von Grünem Wasserstoff umgestellt sein soll. So lässt sich dieser auch für die Herstellung von synthetischen Kraftstoffen nutzen. Die Raffinerie und das Energieunternehmen haben dafür gemeinsam eine Machbarkeitsstudie erstellt und im Mai 2023 präsentiert. Für die Einspeisung könnte die bereits vorhandene Erdgastrasse Eugal genutzt werden, das bereits fertiggestellte Landstück von Nordstream, welche von Anfang an auch für den Wasserstofftransport ausgelegt war.

Auch in der Lausitz ist ENERTRAG aktiv. Das Unternehmen weihte im April in Cottbus ein Regionalbüro ein, in dem zunächst zehn Projektingenieure beschäftigt sind. Sie sollen dazu beitragen, dass Wasserstoff zu einem Leuchtturmprojekt beim Strukturwandel der Lausitz wird: dem Referenzkraftwerk Lausitz. ENERTRAG will bereits ab 2030 dort Wasserstoff im großen Stil erzeugen.

FORUM/Bolko Bouché
Jens Jankowsky
Referent Innovation/Energie
Geschäftsbereich Wirtschaftspolitik