Titelgeschichte IHKplus 02/2022

Fachkräftemangel spitzt sich weiter zu

Seit zwei Jahren schränkt Corona die Unternehmen ein. Damit nicht genug: Der deutschen Wirtschaft fehlen jährlich rund 400.000 Fachkräfte. Die Personalnot droht, in den nächsten Monaten zur Wachstumsbremse Nummer 1 zu werden.
Text: Eli Hamacher
Mit solch einer Begrüßung hätte Armando Rodrigues de Sá nicht gerechnet. Am Bahnhof Köln-Deutz erwartete den damals 38-Jährigen neben Dutzenden Journalist:innen der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes Metallindustrie im Regierungsbezirk Köln, Manfred Dunkel. Der übergab dem millionsten Gastarbeiter der Bundesrepublik Deutschland im September 1964 einen Strauß Nelken, eine Ehrenurkunde sowie eine zweisitzige Zündapp Sport Combinette, die heute im Haus der Geschichte steht.
Mit seiner Arbeit als Zimmermann bei Baufirmen trug der gebürtige Portugiese wie Millionen anderer zum deutschen Wirtschaftswunder bei. Ohne die Gastarbeiter:innen, die die Bundesrepublik seit Dezember 1955 gezielt angeworben hatte, zunächst aus Italien, dann auch aus Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und dem ehemaligen Jugoslawien, wäre der Aufstieg zu einer der führenden Industrienationen gar nicht möglich gewesen.
In der Rhein-Sieg-Klinik schieben zwei Pfleger:innen eine junge Frau im Rollstuhl über einen Flur.
Nicht erst seit der Corona-Pandemie sind Pflegekräfte rar. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll helfen, wird aber noch wenig genutzt. © IHK Köln / Peter Boettcher

Enger Arbeitsmarkt bremst Unternehmen aus

Heute, über 66 Jahre später, ist Deutschland wieder dringend auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Ohne all diejenigen, die ohne deutschen Pass hier leben und arbeiten, würden Pflegedienste und Krankenhäuser ihre Patient:innen nicht mehr versorgen können, IT-Firmen die Expert:innen fehlen und Baustellen ruhen. Doch trotz all der Menschen, die aus der EU und Drittstaaten bereits in Deutschland leben und arbeiten: Es ist nicht genug.
Der Fachkräftemangel ist inzwischen wieder das größte Risiko für die Unternehmen, gefolgt von steigenden Rohstoffkosten, zunehmender Regulierung sowie Energiekosten. 

Alexander Börsch, Chefökonom bei der Beratung Deloitte

Die engen Arbeitsmärkte bremsen die Unternehmen aus. Dabei zieht sich der Fachkräftemangel bundesweit durch alle Branchen. In der Immobilien- und Baubranche betrifft er fast drei Viertel der Unternehmen, Pflegekräfte sind nicht erst seit Corona rar, der Gastronomie fehlen ebenso Mitarbeitende wie der Metall- und Elektroindustrie, Logistiker:innen fahnden nach Lastwagenfahrer:innen, die Bahn nach Fahrzeugführer:innen. In der Herbstumfrage der IHK Köln gab insgesamt mehr als die Hälfte aller Unternehmen an, dass sie längerfristig offene Stellen nicht besetzen können. Im Hotel- und Gastgewerbe waren es 70 Prozent, im Baugewerbe sogar 80 Prozent.

Fachkräfteeinwanderungsgesetz: Ungenutzte Chance

Lindern soll die Not unter anderem das am 1. März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG). Es soll ausländischen Fachkräften aus so genannten Drittstaaten den Zugang zu einer Aufenthaltserlaubnis bzw. Arbeitsgenehmigung erleichtern. Ein beschleunigtes Fachkräfteverfahren enthält zudem konkrete Fristen zur Visumserteilung und zur Berufsanerkennung. Um Arbeitgeber:innen in NRW ---beim Einstellungsprozess zu unterstützen, nahm zeitgleich die Zentralstelle Fachkräfteeinwanderung NRW (ZFE NRW) ihre Arbeit auf. Sie unterstützt Unternehmen, die bereits eine ausländische Fachkraft in Aussicht haben, bei allen Genehmigungen und will ihnen so „ein Laufen von Pontius nach Pilates ersparen“, wie deren Leiter, Dr. Axel Rosenthal, betont.

Positivliste: Abgeschafft

Zu Kernpunkten des FEG gehört, dass die Vorrangprüfung entfällt, mit der Unternehmen nachweisen mussten, dass keine bevorrechtigten Bewerber:innen aus Deutschland oder der EU für eine zu besetzende Stelle zur Verfügung stehen. Anders als bisher besteht jetzt zudem die Möglichkeit, dass neben Hochschulabsolvent:innen beruflich Qualifizierte ebenso wie Bewerber:innen für einen Ausbildungsplatz zur Suche von Job oder Lehrstelle befristet für sechs Monate nach Deutschland kommen können. Entfallen ist schließlich die Einschränkung auf Mangelberufe (frühere „Positivliste“).
„Der deutschen Wirtschaft fehlen mindestens 400.000 Fachkräfte jährlich, die ausschließlich durch Zuwanderung aus dem Ausland gedeckt werden können. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz haben wir dafür ein probates Instrument. Wir müssen es nur noch deutschland- und weltweit bekannter machen,” sagt Jasna Rezo-Flanze, Leiterin der Fachkräftesicherung bei der IHK Köln.
So unterstützt die IHK Köln die Suche nach Fachkräften

Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer:innen
Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen
Fachkräftesicherung – Finanzierungshilfen, Qualifizierung, Rekrutierung
Fachberatung für Inklusion
Kompetenzfeststellungen für die Teilqualifikation
Bildungsscheck

Personal aus Nicht-EU-Staaten: Anfragen häufen sich

Fast täglich erhält Inga Buntenbroich zurzeit Anfragen von Unternehmen, die Personal aus Nicht-EU-Staaten akquirieren, die ausländische Werksstudenten in Vollzeit übernehmen oder zum Beispiel ausländische Arbeitskräfte von deutschen Arbeitgebern weiterbeschäftigen möchten. Die Ansprechpartnerin bei Rechtsfragen zur Beschäftigung ausländischer Staatsangehöriger der IHK Köln stellt fest, dass das fast zeitgleich mit Ausbruch der Corona-Pandemie in Kraft getretene FEG zwar zunächst nicht seine volle Wirkung entfalten konnte, weil etwa Botschaften und Grenzen geschlossen waren. „Doch jetzt blicken die Unternehmen wieder nach vorn, stellen ein und lassen sich von der ZFE NRW beim beschleunigten Fachkräfteverfahren unterstützen.“ Für die Begleitung des Verfahrens zahlen Arbeitgeber 411 Euro pro Fachkraft. 

Weltweit IT-Spezialist:innen finden

Zu den Unternehmen, die Fachkräfte aus dem Ausland holen, gehört auch die MobiLab Solutions GmbH. Trotz Corona konnte das Kölner Softwareunternehmen, das in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert, stark wachsen. Wachstumstreiber ist sein ganzheitlicher Ansatz mit Themen wie Cloud Migration bis hin zur Datenintegration. Erst jüngst bezog MobiLab neue, größere Büros im Rheinauhafen, um die kräftig gewachsene Belegschaft unterbringen zu können und gleichzeitig noch Raum für neue Kolleg:innen zu haben.
„Für uns ist der neue Standort auch ein Aushängeschild, um die Rekrutierung neuer Mitarbeiter:innen zu erleichtern. Denn die Suche nach Fachexpert:innen in diesen Nischen-Segmenten ist weiterhin eine Herausforderung. Deshalb setzt MobiLab darauf, Kandidat:innen weltweit zu rekrutieren“, sagt People&Culture-Managerin Elisa Schneider. Bei der Wahl des Standortes und Gestaltung der neuen Arbeitsatmosphäre sei es MobiLab wichtig gewesen, einen Ort zum Wohlfühlen zu schaffen, der den Teamgeist stärke und fördere. Allein in diesem Jahr schloss Schneider schon zahlreiche Arbeitsverträge mit neuen Mitarbeiter:innen. Darunter seien mehr als 70 Prozent aus Nicht-EU-Staaten.

Anwerbeprozess auf vier Monate verkürzt

Erstmals nutzt MobiLab aktuell das beschleunigte Fachkräfteverfahren und erhofft sich durch die Unterstützung der ZFE NRW erhebliche Zeitersparnisse. „Früher hätte der Prozess rund neun Monate gedauert, jetzt rechnen wir mit vier Monaten“, so die People&Culture-Managerin. Hatte Corona zuletzt die Einstellungen erschwert, sei die Situation jetzt wieder etwas entspannter. Nach wie vor sei der Prozess aber langwierig und anstrengend. „Alle Beteiligten sind immer ein wenig nervös, ob wirklich alles gutgeht. Es ist ja für alle nach wie vor eine aufregende und lebensverändernde Entscheidung“, so Schneider.

Pflegepersonal aus Serbien und China

Jahrelanges Ringen um ausreichend Personal in der Pflege lässt Tim Kleiber ernüchtert feststellen: „Ich würde jede Option nutzen, um Fachkräfte zu bekommen, damit wir die Versorgung gewährleisten können.“ Kleiber arbeitet als Verwaltungsdirektor an der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht, die inklusive Dienstleistern rund 400 Mitarbeitende beschäftigt, darunter gut 100 in der Pflege. Über einen Dienstleister rekrutierte das Unternehmen 2019 acht Pflegekräfte aus Serbien. „Der Prozess dauerte länger als erwartet“,
sagt Kleiber, aber immerhin seien noch alle an Bord und hätten gerade ihre Anerkennungsprüfung als Pflegefachkräfte bestanden. Im August 2021 hat die Klinik, wieder über einen Vermittler, zwei Chinesen angeworben. „Um den Prozess zu verkürzen, prüfen wir gerade, ob wir künftig über die Zentralstelle Fachkräfteeinwanderung das beschleunigte Fachkräfteverfahren nutzen.“
Weniger gute Erinnerungen hat Kleiber an einen Anwerbeprozess im Jahr 2018, der statt der geplanten sechs schließlich zehn Monate dauerte. „Über eine Vermittlungsagentur kamen zehn chinesische Pflegehelfer zu uns. Wir hatten ein gutes Willkommenskonzept mit Wohnungen und Mentoren ausgearbeitet.“ Doch nach einem Jahr seien alle schon wieder weg gewesen, sei es weil sie Heimweh oder andere Erwartungen an den Job gehabt hätten. Um die offenen Stellen in der Pflege zu besetzen, denkt Kleiber in alle Richtungen. Aktuell machen zum Beispiel ein Ukrainer und ein Moldawier ihr Freiwilliges Soziales Jahr an der Klinik. Ihnen hat Kleiber eine Ausbildung zur Pflegefachkraft angeboten.

Fachkräftemangel innovativ gelöst

Im Idealfall kann Kay Simon einen ganzen Hotelsaal mit Bewerberinnen und Bewerbern füllen, wenn er zu einem seiner Recruitingevents einlädt. Der Geschäftsführer der Kölner Vermittlungsagentur IPP wirbt für die Veranstaltungen zuvor intensiv in den sozialen Medien. Oftmals sind auch die künftigen Arbeitgeber:innen gleich mit von der Partie. Seit 2013 hat sich der Unternehmer auf das Anwerben von examinierten Pflegekräften spezialisiert. Im Auftrag der Fachkräfte suchenden Unternehmen kümmert sich die IPP auch um Sprachkurse vor Ort, die Anerkennung des Berufsabschlusses in Deutschland und die Visaverfahren. Im vergangenen Jahr lief es für Simon sehr gut. „Wir haben rund 250 Pflegekräfte an deutsche Kliniken und Pflegeheime erfolgreich vermitteln können, davon allein 40 an ein Hospital aus der Region“, sagt der IPP-Chef, der acht feste Mitarbeiter:innen und ebenso viele freie beschäftigt. Im ersten Coronajahr seien es aufgrund der Auflagen und Einschränkungen nur etwa 140 gewesen.

Vermittlung müsste viel schneller gehen

Das 2020 in Kraft getretene FEG ist aus Sicht Simons hilfreich, aber kein Game Changer. „Zum Teil hat das FEG Prozesse rund um Anerkennung von Berufsabschlüssen und Beantragung von Visa beschleunigt. Nicht jedes Bundesland hat aber nach dem Vorbild von NRW eine Zentralstelle Fachkräfteeinwanderung eingerichtet.“ Oftmals kümmerten sich Ausländerbehörden eher nebenbei um das Thema und dann sei dieser Prozess manchmal schwieriger. Grundsätzlich müsste die Vermittlung viel schneller gehen. Gefahr in Verzug sei auch deshalb, weil immer mehr Branchen unter dem Fachkräftemangel leiden würden, darunter auch wegen der Coronapandemie die Gastronomie. Der Engpass hat Simon auf eine innovative Idee gebracht: 

Kay Simon (IPP)

Prozesse bleiben bürokratisch aufwändig

Selbst bei jungen Unternehmen mit erst verhältnismäßig wenigen Mitarbeiter:innen ist der Fachkräftemangel bereits angekommen. Offen darüber sprechen möchten viele allerdings nicht, weil das Publikmachen des Engpasses die Kunden verunsichern könnte. Eine Kölner Beratungsfirma etwa sucht über Universitäten Werksstudenten und über die gängigen Stellenportale ausgebildete Expert:innen. Dabei spiele es keine Rolle, aus welchem Land der Experte oder die Expertin komme, so die Managementberatung, die aktuell gern eine Werksstudentin aus Georgien in Vollzeit übernehmen möchte. Seit August 2021 läuft der bürokratisch aufwändige Prozess via Ausländerbehörde und Agentur für Arbeit. Dass die Behörden grünes Licht geben wollen, wurde bereits signalisiert. Eine offizielle Bestätigung steht aber noch aus.

Maßnahmenbündel notwendig

Die Erleichterungen des FEG helfen zwar, aber mit Gesetzen, die den Zuzug ausländischer Fachkräfte erleichtern, ist es nicht getan. An vielen Stellschrauben muss gedreht werden: Neben Erleichterungen für Suche, Anstellung und Integration von Arbeitnehmer:innen mit nicht-deutschem Pass gehören dazu verstärkte Ausbildung, die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Aktivierung der so genannten „stillen Reserve“ – Menschen, die unter anderen Rahmenbedingungen in den Arbeitsmarkt einsteigen würden – oder auch Studienabbrecher:innen in Unternehmen eine Chance zu geben. Nur ein ganzes Bündel an Maßnahmen hilft gegen den sich verschärfenden Fachkräftemangel.