IHK & Region | 10.08.2022

In Sibirien gibt es weniger rote Satteldächer

Lachend berichtet Anna Gatsenbiller: „Ich hatte keine Orientierung alles sah so gleich aus – überall ähnliche Häuser mit roten Satteldächern, gleicher Dachneigung und Firstrichtung. Dazwischen das komplette Jahr über viele Grünflächen. Das hat mir gut gefallen.“ So ungefähr hat es sich für sie angefühlt als sie 2013 im Alter von elf Jahren mit ihren Eltern und zwei Brüdern von Sibirien nach Deutschland zog. Von Deborah Morello
Der Start in Deutschland war für die Schülerin nicht einfach, da sie kaum Deutsch konnte. Die Hauptschule wollten sie ohne einen Sprachkurs nicht nehmen. Durch eine Dolmetscherin hatte Anna die Möglichkeit, trotz Sprachbarriere, in die fünfte Klasse zu gehen. Voraussetzung: statt Hauptfächern gab es zunächst Nachhilfe in Deutsch. Doch Anna wollte mehr. Mit der Zeit bekam sie die Chance an allen Unterrichtstunden teilzunehmen und die ersten Klassenarbeiten zu schreiben. Schon hier gehörte sie oft zu einer der Besten ihrer Klasse - trotz aller Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache.

Vertrauen bestätigt

Schnell merkte sie, dass sie sich auf der Hauptschule unterfordert fühlte und strebte einen Wechsel auf die Realschule an. Allerdings befürwortete dies ihre Hauptschule nicht. Bei einem Vorstellungsgespräch an der Realschule fand sie die Aussage des Rektors toll: „Ich entscheide, ob sie an meine Schule kommen – und nicht der Rektor der Hauptschule.“ Der Glaube an sich selbst und das Vertrauen ihres Realschuldirektors erwiesen sich als berechtigt: Anna schaffte ihren Realschulabschluss 2019 mit einem Preis. Nach ihrem Abschluss musste sie allerdings auch einige Rückschläge hinnehmen. Trotz des Preises, mehreren Bewerbungen und Vorstellungsgesprächen gelang es ihr nicht einen Ausbildungsplatz zu ergattern. „Alles war erfolgslos trotz meinen so guten Noten“, berichtet Anna Gatsenbiller. Über ihre Lehrerin stieß sie auf ihre heutige Chefin Karin Thiele vom Architekturbüro Knorr & Thiele in Öhringen. Das Architekturbüro wurde 1999 in Öhringen-Ohrnberg gegründet. Seit dem 1. März 2014 befindet sich das Büro in neuen Räumlichkeiten in der Öhringer Austraße 18. Mit insgesamt 17 Mitarbeitenden wird dort an Projekten aus den Bereichen Hoch- und Städtebau gearbeitet. Von Anfang an engagierten sich die Inhaber auch im Bereich Ausbildung, bereits 19 Bauzeichner wurden in dem Büro ausgebildet – viele davon mit sehr gutem Erfolg.
Nach einem Schnupperpraktikum war für Karin Thiele klar: „Anna Gatsenbiller wird unsere neue Auszubildende.“ Die Kollegen hatten zu Beginn allerdings überlegt, ob die Ausbildung zur Bauzeichnerin mit der umfangreichen Fachterminologie für die junge Frau auch geeignet sei. Thiele hatte jedoch keine Zweifel: „Wenn Anna es trotz Sprachbarrieren geschafft hat die Realschule mit einem Preis abzuschließen, dann schafft sie die Ausbildung bei uns auch.“ Heute erzählt Karin Thiele mit einem Schmunzeln im Gesicht: „Nach unserer Zusage lief Anna schnell nach Hause, um es ihren Eltern zu erzählen – und vergaß vor lauter Freude über den Ausbildungsplatz, dass sie doch mit dem Fahrrad ins Büro gekommen war.“

Ausbildung mit Bravour gemeistert

Der Start in die Ausbildung war nicht einfach. 2019 heiratete Gatsenbiller und zog mit ihrem Mann in die erste eigene Wohnung. Damals waren beide im ersten Lehrjahr und trotz anfänglicher finanzieller Schwierigkeiten, war es ihnen möglich gleichzeitig ihre Ausbildung zu beginnen. An ihrem ersten Tag wurde Gatsenbiller direkt ins kalte Wasser geworfen: „Ans Telefon zu gehen, war meine größte Herausforderung - heute ist das kein Problem mehr für mich.“ „Am Telefon lernt man die Bürostruktur am besten kennen“, sagt Karin Thiele, „man erfährt wer für welches Projekt zuständig ist und steht im direkten Kontakt mit den Handwerkern.“
Anna war sehr konzentriert und aufmerksam bei der Sache. Es war schön zu sehen, wie sie von Jahr zu Jahr immer besser wurde.

Karin Thiele, Architekturbüro Knorr & Thiele

Viele Fachbegriffe lernte Anna Gatsenbiler übrigens mit Hilfe von Bildern. Wo der Wortschatz nicht ausreichte, erläuterte Thiele anhand von Skizzen und Materialmustern, zeigte Details auf der Baustelle und unterstützte sie beim Lernen, so dass Anna ihre Ausbildung mit Bravour meisterte. Besonders lobt die Ausbilderin, dass sie Anna Gatsenbiller nichts zwei Mal erklären musste: „Anna war sehr konzentriert und aufmerksam bei der Sache. Es war schön zu sehen, wie sie von Jahr zu Jahr immer besser wurde.“

Erfolgreiche Absolventin

Auf die Frage was ihr auf der Baustelle Spaß gemacht hat, sagt sie strahlend: „Ich durfte Betonwände ausgießen.“ Da im Ausbildungsrahmenplan mehrere Baustellenpraktika verpflichtend sind, hat auch Anna auf der Baustelle mitgearbeitet und so einen praxisnahen Bezug zu den theoretischen und zeichnerischen Inhalten der Ausbildung erhalten. „Ich finde es toll, dass in der Ausbildung die Theorie aus dem Unterricht in der Praxis im Büro oder im Baustellenpraktikum umgesetzt wird. So beendete die heutige 21-Jährige ihre Bauzeichnerausbildung in diesem Jahr. Schon 2021 konnte das Architekturbüro Knorr & Thiele mit Marvin Hörnle einen Landesbesten mit einem Schnitt von 1,2 verzeichnen. Anna Gatsenbiller möchte zunächst zur Freude ihrer Chefs weiterhin als Bauzeichnerin bei Knorr & Thiele arbeiten und denkt über eine Weiterbildung zur Bautechnikerin nach. In Deutschland ist die Russin längst angekommen. Und auch an die gleichförmige Bebauung innerhalb eines Baugebietes und die roten Satteldächer hat sie sich mittlerweile gewöhnt.

Brigitte Käfer
Ausbildungsberaterin