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„Die Zauberformel moderner Logistik heißt: kombinierter Verkehr”

Christian Kullmann, Vorsitzender der Evonik Industries AG, spricht im Interview über den Zusammenhang zwischen einer guten Verkehrsinfrastruktur und dem wirtschaftlichen Erfolg, die Verkehrswende im Güterverkehr und Vorbilder für ein gutes Baustellenmanagement.
Herr Kullmann, Evonik gehört zu den großen deutschen Chemieunternehmen, wie wichtig ist eine gute Verkehrsinfrastruktur für den wirtschaftlichen Erfolg Ihres Unternehmens?
Kullmann: Die Chemiebranche ist eine transportintensive Branche. Wenn der Transport nicht rund läuft, dann läuft es ganz schnell auch in den betroffenen Chemieunternehmen nicht mehr rund. Schon heute ist jedes zehnte Schiff auf den Flüssen und Kanälen ein Chemie-Schiff, jeder 15. Bahnwaggon ein Chemie-Kesselwagen. Da ginge noch mehr. Und da muss auch mehr gehen, wenn wir die Klimaziele im Verkehrsbereich erreichen wollen.
Wie kann die Verkehrswende im Güterverkehr gelingen, damit die politischen Klimaziele erreicht werden und Nordrhein-Westfalen gleichzeitig ein pulsierender Wirtschaftsstandort bleibt?
Kullmann: Wir haben unsere Infrastruktur in allen Bereichen ausgezehrt. Brücken bröckeln, Kanäle kollabieren und auf den Straßen staut’s sich. Drei Faktoren sind jetzt entscheidend, damit die Verkehrswende gelingen kann: Geld, Personal und vor allem: Tempo! Deutschland muss schneller werden, vor allem, wenn es um Planungs- und Genehmigungsverfahren geht. Der zwischen Bund und Ländern jüngst abgeschlossene Pakt für Planungsbeschleunigung war ein wichtiger Schritt. Jetzt geht es um die Umsetzung.
Wie sehen Sie das Schienennetz an Rhein und Ruhr für die Herausforderungen der Zukunft aufgestellt?
Kullmann: Bis 2030 sollen laut Koalitionsvertrag 25 Prozent des Güterverkehrs auf der Schiene stattfinden. Nur: Eine Industrienation, die Nummer 1 sein will, kann nicht auf einem Schienennetz zweiter Klasse fahren. Sanierung und Ausbau sind dringend nötig. Das hat die Deutsche Bahn offensichtlich verstanden und umfangreiche Sanierungsarbeiten in den kommenden Jahren angekündigt. Das ist richtig, ich begrüße das sehr. Aber gut gedacht ist ja leider noch lange nicht gut gemacht. Wenn jetzt von Korridorsanierung die Rede ist, dann bedeutet das oft: Vollsperrung! Wenn die Bahn das schon so macht, dann führt sinnvollerweise doch kein Weg daran vorbei, die Nutzer frühzeitig einzubinden.

Wir haben unsere Infrastruktur in allen Bereichen ausgezehrt. Brücken bröckeln, Kanäle kollabieren und auf den Straßen staut’s sich.

Duisburg hat den größten Binnenhafen der Welt. Deshalb setzen viele hiesige Unternehmen auf den Schiffsverkehr. Wie bewerten Sie die Infrastruktur für diesen Transportweg? Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?
Kullmann: Das deutsche Kanalnetz, insbesondere hier im Westen der Republik, ist in einem erbarmungswürdigen Zustand. Es ist dringend, Schleusen zu sanieren und Brücken für den modernen Schiffsverkehr anzuheben. Nehmen wir als Beispiel den Wesel-Datteln-Kanal: Der Chemiepark Marl ist mit rund 100 Produktionsanlagen und 10.000 Beschäftigten einer der größten in Deutschland. Für ihn ist der Kanal eine unerlässliche Versorgungsroute. Eine starke Wasserstraßeninfrastruktur ist also essenziell für den erfolgreichen Weiterbetrieb unseres Standortes. Fertigstellungszeiten bis 2040 oder sogar darüber hinaus sind schlicht nicht hinnehmbar. Mit solch langen Zeitplänen kann man Unternehmen und Arbeitsplätze auf Grund fahren.
Ohne Lkw wird die Ware auch künftig nicht von A nach B kommen. Allerdings sorgen Baustellen und marode Brücken für Dauerstaus und verursachen in allen Logistikbereichen Mehrkosten. Was macht Sie zuversichtlich, dass das Problem gelöst wird?
Kullmann: Der Lkw fährt mit rund 72 Prozent Anteil am Verkehrsaufkommen noch immer an der Spitze. Er ist der vorherrschende Verkehrsträger. Fakt ist aber, dass mehr Güter per Schiene oder Wasser transportiert werden müssen. Unsere Straßen sind schlicht und ergreifend verstopft. Unsere Klimaziele können wir nur durch die Verlagerung auf Schiene und Wasser erreichen. Und eigentlich verfügt nur noch die Wasserstraße über wesentliche ungenutzte Kapazitäten. Das Zauberwort heißt „kombinierter Verkehr“: kurze Strecken mit dem Lkw, lange Distanzen per Schiff und mit der Eisenbahn. Voraussetzung dafür sind aber neue, zusätzliche Umschlagterminals, um die Container problemlos und zügig zu verladen. Der Zuwachs im kombinierten Verkehr ist erfreulich. Ohne beschleunigten Ausbau ist aber auch hier bald Schluss.
Was verstehen Sie unter einem guten Baustellenmanagement für die Bereiche Straße und Schiene?
Kullmann: Die einfache Formel lautet: Rechtzeitig reden. Wenn Sanierungsarbeiten unsere Transportmöglichkeiten einschränken, müssen wir das frühzeitig erfahren und in die Planung von Alternativkonzepten eingebunden sein. Wir müssen ja als Kunde nicht gleich König sein, aber wir brauchen den Dialog auf Augenhöhe und müssen aktiv mitwirken können. Immerhin wissen wir als Kunden der Transportdienstleister ja am besten, wie es klappen könnte.
Als Vorstandsvorsitzender eines weltweit agierenden Unternehmens sind Sie auch viel im Ausland unterwegs. Gibt es Lösungen aus anderen Ländern, die sich die deutsche Verkehrspolitik zum Vorbild nehmen sollte?
Kullmann: Unser Land hat kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Drei Stellschrauben müssen hier angezogen werden. Erstens: Unser Land nutzt die Potenziale der Digitalisierung bei weitem noch nicht aus. Behörden, Planer, alle beteiligten Akteure müssen sich besser vernetzen – und das in Echtzeit. Zweitens: Wir brauchen mehr Rechts- und Planungssicherheit. Wenn der Staat heute Auflagen und Vorschriften abändert, dann darf das nicht rückwirkend gelten. Drittens auch hier wieder: Rechtzeitig reden. Mit Politik, Unternehmen und Bürgern. Viele Klageverfahren wären durch einen rechtzeitigen gemeinsamen Dialog vermeidbar gewesen. Das haben uns die Niederlande, Skandinavien und Großbritannien voraus.
Abschließend: Das Bundesverkehrsministerium geht in einer Prognose bis 2051 allein für den Güterverkehr von einer Zunahme um fast 50 Prozent aus. Wie kann die Wirtschaft dieser enormen Steigerung noch Herr werden?
Kullmann: So ein Plus ist durchaus begrüßenswert. Grundsätzlich sind Wirtschaftswachstum, steigende Nachfrage und mehr Absatz doch nicht schlecht. Logistisch gesehen, bedeutet so eine Zunahme aber, dass wir spät dran sind. Mit der aktuellen Infrastruktur lässt sich ein solcher Zuwachs an Warenverkehr nicht bewältigen. Es wird zum Infarkt kommen.
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