Artikel

Der Zankapfel Biberach: Wie die Verwaltungsreform 1973 Ruhe in einen jahrzehntelangen Streit bringt

Vor 50 Jahren zieht die Landesregierung im Verlauf einer groß angelegten Verwaltungsreform die Grenzen in Baden-Württemberg neu. Das hat tiefgreifende Folgen – auch für die IHKs im Land. Denn nach dem Beschluss sollen ihre Bezirke ab 1973 den Grenzen der neuen Stadt- und Landkreise entsprechen. Die Folgen dieser Mammut-Reform sind für die Handelskammern in Ravensburg und Ulm sehr unterschiedlich, ermöglichen aber den Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit.
Es ist der 6. Dezember 1972. Dafür, dass es das Ende einer Ära ist, ist die Stimmung bei der Vollversammlung der Oberschwäbischen Handelskammer im Sitzungssaal in Ravensburg erstaunlich nüchtern. Oder vielleicht eher ernüchtert? Tagesordnungspunkt 3, Präsident Hermann Glässel erhebt sich. „Änderungen des Bezirks sind nichts Neues in der Geschichte unserer Kammer“, so der Wortlaut seiner Ansprache. „Aber diese Gebietsreform wäre nicht notwendig gewesen.“ Denn es ist gleichzeitig auch eine Abschiedsrede – in mehrfacher Hinsicht. Hermann Glässel selbst scheidet nach knapp drei Jahren als IHK-Präsident aus dem Amt, die Kammer wird zum 1. Januar 1973 aufgelöst und umfirmiert, und die Biberacher Mitglieder nehmen zum letzten Mal an der Vollversammlung teil. „Wir bitten Sie, sich auch in Ulm für eine angemessene Berücksichtigung oberschwäbischer Belange einzusetzen“, so Glässel zum Abschluss, bei dem er wahrscheinlich doch noch ein kleines bisschen emotional wird. Denn lange hatte er für eine einheitliche Vertretung der oberschwäbischen Wirtschaft und den Verbleib Biberachs in seinem Kammerbezirk gekämpft.

Zeit der Umbrüche

Die Verwaltungs- und Gebietsreform geht 1973 wie ein Pflug durch die Verwaltungslandschaft Baden-Württembergs. Sie erfasst Gemeinden, Stadtkreise, Landkreise und schafft mit den Regionalverbänden eine neue Planungsebene. Ziel der Landesregierung ist es, die Strukturen der öffentlichen Verwaltung der veränderten Lebenswirklichkeit der Menschen anzupassen, sie bürgernah und modern zu gestalten. Das passt in die Zeit der großen Reformen und Umbrüche: 1969 wird das Berufsbildungsgesetz verabschiedet, das die duale Ausbildung bundesweit regelt, die „68er“ protestieren auf den Straßen, während in der Wirtschaft trotz erster Konjunktureinbrüche weiter alles auf Wachstum und Leistung ausgerichtet ist. So sollen auch die Behörden zentraler und effizienter gestaltet werden. Zunächst war sogar angedacht, die 63 Landkreise auf 25 Großkreise zu reduzieren, was für viel Widerstand sorgte. Am Ende einigt man sich auf die bis heute bestehenden 35 Landkreise und acht Stadtkreise. Der Einteilung der neuen Landkreise lag ein sozio-ökonomisches Verfahren zugrunde. Jahrelang wurden Pendler- und Verkehrsströme untersucht und große Befragungen zu wirtschaftlichen Beziehungen geführt, das Angebot von Dienstleistungen, Schulen und kulturellen Einrichtungen analysiert. Mithilfe der erhobenen Daten wurden Kleinzentren bis Oberzentren ermittelt und anhand dieser wiederum „Verflechtungsbereiche“ analysiert und die neuen Landkreisgrenzen bestimmt.

Kammergrenzen richten sich an neuen Kreisgrenzen aus

Wie sich die IHKs Ulm und Ravensburg in diese neue Landschaft einbetten sollen, darüber informiert eine Bekanntmachung des Wirtschaftsministeriums vom 20. Oktober 1971: „Die Schaffung leistungsfähiger Industrie- und Handelskammern muss notwendigerweise einen Konzentrationsprozess zur Folge haben, wie er in der Wirtschaft und in der Verwaltung seit längerem zu beobachten ist und dem sich die Einrichtungen der Selbstverwaltung der Wirtschaft am wenigsten entziehen können.“ Die Zahl der Kammern im Land wird von 19 auf zwölf reduziert, und die Bezirke der Kammern sollen sich an den neuen Kreisgrenzen und Regionalverbänden orientieren. Im Dezember 1971 wird das durch eine Verordnung der Landesregierung amtlich, die im Januar 1972 den Kammern kurz und knapp „zur gefl. Kenntnisnahme“ vorliegt. Es ist ein Schlussstrich und Neuanfang zugleich. Denn der Beschluss hat für die beiden IHK-Standorte Ravensburg und Ulm ganz unterschiedliche, jedoch historische Folgen.

Bodensee-Oberschwaben verliert an Wirtschaftskraft

So umfasst die nun unter IHK Bodensee-Oberschwaben firmierende Kammer den neu geschaffenen Bodenseekreis sowie die Kreise Ravensburg und Sigmaringen. Ihr Zuständigkeitsbereich deckt sich damit mit der neuen Region Bodensee-Oberschwaben. Auf den ersten Blick ein großer Gewinn, denn die Ravensburger Kammer wird flächenmäßig deutlich größer und rangiert nun sogar auf Platz vier der baden-württembergischen Industrie- und Handelskammern. Ihr Einzugsgebiet reicht von den Ufern des Bodensees bis auf die Höhen der Schwäbischen Alb. Doch sie verliert gleichzeitig das „Sahnestück“ der Region: den ehemaligen Kreis Biberach und Teile des Altkreises Saulgau – und damit besonders viele wirtschaftsstarke Firmen. Ihr Gebiet ist nun in breiten Teilen von der Landwirtschaft geprägt. Zwar sieht man das große Entwicklungspotenzial, doch Stand 1973 sind 17 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in der Land- und Forstwirtschaft tätig, die Bevölkerungs- und Industriedichte zählt Anfang der 1970er zu den geringsten im Land. Das hat Folgen – vor allem für die finanzielle Stärke der Kammer, weshalb sie den Mitgliedsbeitrag umgehend um ein halbes Prozent erhöht. Der Blick in die Zukunft der jungen Region Bodensee-Oberschwaben fällt im Jahresbericht 1973 dementsprechend beklemmend aus: Neben Konjunktureinbrüchen, Infrastrukturproblemen und dem stockenden Ausbau der B30 kommen nun auch noch große personelle und finanzielle Herausforderungen auf die neu gegründete Industrie- und Handelskammer zu. „Diese Tatsachen lassen auf den ersten Blick eine nur wenig günstige Prognose über die wirtschaftliche Entwicklung in der Zukunft zu. Trotzdem dürfte der hohe Wohn- und Freizeitwert der Landschaft, das aus der Landwirtschaft zu erwartende Arbeitskräftepotenzial und das reichlich vorhandene erschlossene Industriegelände zu einem vorsichtigen Optimismus in dieser Hinsicht berechtigen.“ Dass die Region Bodensee-Oberschwaben sich in den nächsten Jahrzehnten tatsächlich zu einem Erfolgsstandort entwickelt, mit einem ausgewogenen Branchenmix aus innovativen Familienunternehmen und großen Industrien, der von seiner landschaftlich schönen Lage ebenso profitiert wie von dem nachhaltigen Wirtschaftssinn der ansässigen Unternehmen – ja, das hätte zu diesen schwierigen Zeiten Anfang der 1970er-Jahre wohl niemand zu hoffen gewagt.

Ulm kehrt zu alter Größe zurück

In Ulm dagegen wird aufgeatmet. Mit dem Zugewinn von den um den Mittelbereich Laichingen erweiterten Alb-Donau-Kreis und dem neuen Landkreis Biberach umfasst sie nun den baden-württembergischen Teil der grenzüberschreitenden Region Donau-Iller. Die Zahl der Handelsregisterfirmen erhöht sich von 1.827 auf 2.930. Zuvor waren in der Handelskammer vor allem Großfirmen aus der Metall- und Fahrzeugindustrie aus dem Stadtgebiet Ulm vertreten. Mit den neuen Wirtschaftszentren in Biberach und den dazugehörigen Mittelzentren Laupheim und Riedlingen gehören der IHK Ulm nun mehr Branchen verschiedener Größe an. „Die beträchtlich verbesserte Finanzausstattung, aber vor allem die größere Vielfalt der Wirtschaftszweige und das reichliche Reservoir an kaufmännischem Sachverstand haben der Kammer eine solide und tragfähige Grundlage ihrer Arbeit und mehr Effizienz verschafft“, heißt es im Ulmer Jahresbericht 1973. Durch die Verwaltungsreform lässt die IHK Ulm ihr Dasein als Beinahe- Stadtkammer hinter sich und hat ab 1973 wieder denselben Umfang wie vor 1945. Ein Ziel, für das sie lange gekämpft hat.

Die Geschichte um den Zankapfel Biberach

1855 verordnet Wilhelm I. in Stuttgart, Heilbronn, Reutlingen und Ulm die Gründung von Handels und Gewerbekammern. Der württembergische König hat die Zeichen der Zeit erkannt und betreibt das, was man heute eine wirtschaftsfreundliche Politik nennen würde. Die Kammern haben damals ähnliche Aufgaben wie heute – unter anderem die gutachterliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung, Klärung handelsrechtlicher Grundsatzfragen, Entwicklung von Prüfungsnormen und Streitschlichtung. Der Ulmer Bezirk reicht in diesen Anfangsjahren von Geislingen bis zum Bodensee. 1867 bekommt auch Ravensburg eine Handels- und Gewerbekammer, und das Gebiet der IHK Ulm wird auf die Oberämter Ulm, Blaubeuren, Ehingen, Laupheim, Biberach, Münsingen und Geislingen beschränkt. Ab 1934 beginnt die Gleichschaltung der Wirtschaft unter den Nationalsozialisten. Die Zahl der Kammern wird auf vier reduziert, Ravensburg und Heidenheim als Zweigstellen der Handelskammer in Ulm degradiert. 1942 werden die Industrie- und Handelskammern, wie sie mittlerweile heißen, schließlich ganz aufgelöst und ihre Einrichtungen und Vermögen an die zuständige Gauwirtschaftskammer übertragen. 1945 bringt die Zoneneinteilung große Einschnitte für den Ulmer Bezirk. Die französisch besetzten Landkreise werden abgeschnitten. Biberach wird der Industrie- und Handelskammer Ravensburg zugeordnet, Ehingen und Münsingen fallen an die Nachbarkammern Reutlingen. Die IHK Ulm besteht fortan nur noch aus dem Stadt- und Landkreis Ulm – abgeschnitten von der Region Oberschwaben, zu der sie sich zugehörig fühlt, und in ihrer Handlungsmacht stark eingeschränkt. So setzt sie sich, nachdem erstmals nach dem Krieg wieder eine Vollversammlung gewählt wird, für die Wiederherstellung ihres alten Bezirks ein. Das führt jedoch zu Auseinandersetzungen mit der Kammer Ravensburg, und der in der Mitte liegende Landkreises Biberach wird zum Zankapfel. 1963 setzt die IHK Ulm schließlich durch, dass die Landesregierung nach §1 des IHK-Landesgesetzes die Grenzen der Kammerbezirke prüft. Münsingen, Ehingen und Biberach dürfen über ihre Zugehörigkeit abstimmen. Ehingen entscheidet sich mit großer Mehrheit für einen Wechsel von Reutlingen nach Ulm, Biberach jedoch für einen Verbleib bei Ravensburg. Nach dieser Entscheidung kehrt zunächst Ruhe ein – bis mit dem Beginn der Gebiets- und Verwaltungsreform Anfang der 1970er die alten oberschwäbischen Konkurrenzkämpfe wieder ausbrechen. Es finden lebhafte Diskussionen statt – an Stammtischen, im Biberacher Kreisrat, in den Vollversammlungen und auch zwischen den Kammer-Präsidenten aus Ulm und Ravensburg. In Verhandlungen über eine mögliche Fusion der beiden IHKs und der Schaffung eines gemeinsamen Bezirks Oberschwaben stoßen sie dabei jedoch immer wieder an die Grenzen der verschiedenen regionalen Interessen. Die Reformbeschlüsse des Landtags setzen den Überlegungen und Diskussionen ein Ende. Nach der Reform 1973 hat die IHK Ulm wieder fast denselben Umfang wie vor dem Krieg und kehrt zur alten Bedeutung und Handlungsfähigkeit zurück. Die Oberschwäbische IHK Ravensburg beklagt weiter die nach ihrer Sicht „wenig sinnvolle Teilung“ der Region Oberschwaben – findet sich jedoch mit der Entscheidung der Regierung ab. Die IHK Ulm wiederum zeigt Verständnis für die neue schwierige Ausgangslage der Nachbarkammer. Und so setzen beide Kammern fortan wieder auf oberschwäbische Kooperation statt Konkurrenz.

Eine neue Kooperation auf fruchtbarem Boden

Für die Handelsregister-Firmen im Landkreis Biberach bedeutet das, dass sie sich von nun an nach Ulm statt wie die vergangenen 27 Jahre nach Ravensburg wenden. Im Dezember 1972 erhalten sie ein besonderes Schreiben. Als an all den unterschiedlichen Schreibtischen, in großen Industriebetrieben und mittelständischen Firmen zwischen Biberach und Laichingen der Umschlag geöffnet wird, erscheint gleich oben im Briefkopf wohl zum letzten Mal der Namen ihrer alten Handelskammer, die mit Beginn des neuen Jahres „IHK Bodensee-Oberschwaben“ heißen wird. „Sehr geehrte Herren! Von diesem Zeitpunkt an gehört Ihre Firma (zur Ulmer) Kammer. Der Oberschwäbischen Industrie- und Handelskammer ist es ein besonderes Anliegen Ihnen aus diesem Anlass für die langjährige vertrauensvolle und tatkräftige Zusammenarbeit sehr herzlich zu danken. (…) Gleichzeitig heißt Sie die Industrie- und Handelskammer Ulm herzlich willkommen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass der neue Kammerbezirk sich möglichst bald zu einer in sich geschlossenen Selbstverwaltungskörperschaft der Wirtschaft entwickelt.“ Und am Ende der Seite zeigt sich der Neubeginn, der in diesen letzten Tagen des Jahres deutlich spürbar ist. Denn zwei IHK-Präsidenten und zwei Hauptgeschäftsführer haben einvernehmlich ihre Unterschrift daruntergesetzt. So zog die Verwaltungsreform 1973 zwar tiefe Furchen und neue Grenzen durch das Land, viele historische und nach dem Krieg entstandene Bindungen mussten der Reform weichen. Doch die Neuordnung, wohl auch, weil sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fundierte, räumte auch Geröll beiseite und schuf fruchtbaren Boden, auf dem Neues wachsen konnte. Wie die enge Kooperation zwischen der IHK Bodensee-Oberschwaben – die 1975 von Ravensburg nach Weingarten zog – und der IHK Ulm. Das erste sichtbare Pflänzchen dieser Zusammenarbeit war das gemeinsame Mitteilungsblatt „Wirtschaft zwischen Alb und Bodensee“, das die beiden Kammern 1973 zum ersten Mal herausbrachten. Nachdem sich der Staub der großen Reformen der 1970er-Jahre langsam gelegt hatte, konnten sich die Industrie und Handelskammern Bodensee-Oberschwaben und Ulm wieder ihrer eigentlichen Aufgabe widmen und gemeinsam die großen Herausforderungen angehen, die danach noch auf sie warten sollten. 50 Jahre später sind die Gräben, die die Verwaltungsreform 1973 hinterließ, längst vergessen. Die Regionen der IHK Bodensee-Oberschwaben und der IHK Ulm sind zu starken und abwechslungsreichen Industriestandorten herangewachsen, in der sich tief verwurzelte Traditionsunternehmen ebenso finden wie weithin sichtbare Global Player – und dazwischen viele Hidden Champions. Es sind bunte und abwechslungsreiche Regionen mit geschäftigen Innenstädten ebenso wie atemberaubender Natur, die Touristen anlockt. Heute ist es Ziel der IHKs Bodensee-Oberschwaben und Ulm, dass diese Landschaften weiter gedeihen und noch stärker werden – mit nachhaltigen unternehmerischen Werten, einer guten Infrastruktur, gut ausgebildeten Menschen und innovativen Ideen.