Leitartikel

Erfolgsmodell in der Warteschleife

Das geplante Biosphärengebiet Allgäu-Oberschwaben hat nicht nur Anhänger. Zu groß ist die Sorge vor Veränderungen, Einschränkungen, mehr Bürokratie, zu wenig Vertrauen auf der einen Seite. Doch die Befürworter auf der anderen Seite wittern eine Riesenchance für mehr Klima- und Naturschutz, Wertschätzung und Nachhaltigkeit. Für innovative Geschäftsmodelle, weitere Wertschöpfungsketten. Und eine wachsende Anziehungskraft auf neue Arbeitskräfte und Auszubildende für die regionale Wirtschaft.
Als Biosphärengebiet definierte die UNESCO bereits 1970 ein Konzept für Modellregionen, die sich durch eine ökologisch, ökonomisch und soziokulturell nachhaltige Lebensweise auszeichnen. Und die aufzeigen sollen, wie sich etwa Aktivitäten der Wirtschaft ganz allgemein, die Siedlungstätigkeit des Menschen oder auch der Tourismus im Einklang mit Natur und Umwelt innovativ fortentwickeln können.
In Baden-Württemberg gibt es bereits zwei solcher Biosphärengebiete, eines im Schwarzwald, das andere auf der Schwäbischen Alb. Als die grün-schwarze Regierung am 11. Mai 2021 ihren Koalitionsvertrag verabschiedet, ist klar, die Politik wünscht sich ein weiteres: „In Oberschwaben wird aufgrund der herausragenden naturräumlichen Ausstattung mit zahlreichen Mooren gemeinsam mit der Region der Prozess zur Ausweisung eines dritten Biosphärengebietes initiiert“, wie es im Kapitel Klimaund Umweltschutz heißt.

Bürgerbeteiligung erwünscht

In dem Biosphärengebiet, das möglicherweise in Allgäu-Oberschwaben entsteht, stünden die hier weit verbreiteten Moore im Mittelpunkt, das klingt ja in der Vereinbarung bereits an. Die Grenzen eines möglichen Biosphärengebiets sind noch längst nicht gezogen, der sogenannte Suchraum hat derzeit eine Fläche von etwa 180.000 Hektar und erstreckt sich vom Federsee bis zur Adelegg bei Isny und zum Pfrunger- Burgweiler Ried bei Wilhelmsdorf – und damit auf Flächen der drei Landkreise Ravensburg, Biberach und Sigmaringen.
Quasi mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags war der Entwicklungsprozess angestoßen. Es wurden Strukturen geschaffen, bestehend aus verschiedenen strategischen und operationalen Entscheidungs- und Beteiligungsgremien. Im Steuerungskreis beispielsweise wirken unter anderem Vertreter von Umweltministerium und Regierungspräsidium, der Landkreise sowie der Gemeinden mit. Darüber hinaus sind im Dialogkreis Vertreter der verschiedenen regionalen Interessengruppen dabei: aus Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz, Wirtschaft und Tourismus sowie aus Gesellschaft und sozialen Bereichen. Dazu kommen Arbeitskreise und Fokusgruppen, in denen sich auch interessierte Bürgerinnen und Bürger sowie Gemeinderäte einbringen können und sollen.

Gegenwind im Dialog

In diesem Spannungsfeld stehen zwei Gremien besonders im Fokus: Da ist die eigens gegründete Kommunale Arbeitsgemeinschaft Biosphärengebiet (KAB) der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Gemeinden im Suchraum. Sie alle kennen ihre Leute, sind im Austausch, hören zu und wissen auch um die Ängste und Sorgen, um die Skepsis, die gerade auch beim Thema Biosphärengebiet mitschwingt. Timo Egger, im Hauptberuf Geschäftsführer des Gemeindeverwaltungsverbands Altshausen und ehrenamtlicher Bürgermeister von Fleischwangen, ist ihr Sprecher. Der 34-Jährige ist einer, der anpackt und auch was abkann und weiß, „da kriegt man schon auch mal ordentlich Gegenwind, da wird es auch mal emotional“. Der Gegenwind komme von denen, „die es besonders betrifft, und weil sie in der Vergangenheit oft schlechte Erfahrungen gemacht haben mit Entscheidungen in Sachen Naturschutz aus Brüssel, Berlin oder Stuttgart“, erklärt Schultheiß Egger. Und meint: „Die regionalen Akteure vor allem aus Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Jagdwesen befürchten massive Einschränkungen und Verbote.“ Zu oft hätten sie erlebt, dass die Politik zunächst beschwichtigt und auch verspricht, aber ihre Versprechen nicht hält. Dabei trage jeder Einzelne, jede Familie, jeder Betrieb ja heute schon einen großen Teil zum Klimaschutz, zu mehr Nachhaltigkeit bei, was sollten sie denn noch auf sich nehmen? „Daher reagieren sie sehr sensibel auf solche Formulierungen wie die im Koalitionsvertrag, auf solche Ansagen aus der Politik, da fehlt einfach das Vertrauen“, konstatiert Timo Egger. Konkrete Argumente? Konkrete Forderungen? Egger zuckt mit den Schultern. „Das bleibt oft im Ungefähren, das ist mehr so eine Art gefühlte Unsicherheit, das Gefühl, von der Politik fremdbestimmt zu werden. Trotzdem müssen und wollen wir das ernst nehmen.“
„Die regionalen Akteure befürchten massive Einschränkungen und Verbote.“
- Timo Egger

Mehr Klarheit und Sicherheit in der Debatte

Und da ist das Prozessteam, das als Teil des Steuerungskreises für die konkrete operationale Umsetzung strategischer Vorgaben zuständig ist. Für die Administration, die Abstimmung mit den verschiedenen Gremien. Für die Koordination beispielsweise der Beteiligungsprozesse, die Öffentlichkeitsarbeit und Entwicklung konkreter (Teil-)Konzepte. Das Prozessteam, das sind Franz Bühler und seine Kollegin Lisa Polak, bei ihnen laufen die Fäden zusammen. Die beiden stehen eng im kontinuierlichen Austausch mit Timo Egger und seinen Gemeindechefs sowie den anderen Gremien und Arbeitskreisen, immer mit dem Ohr auf der Schiene. Sie organisieren öffentliche und nicht öffentliche Informationsveranstaltungen, präsentieren ein mögliches Biosphärengebiet etwa auf dem Nachhaltigkeitstag in Bad Waldsee oder der Oberschwabenschau. „Wir wollen mit den Leuten ins Gespräch kommen“, erklärt Franz Bühler, mit Vertretern aller Interessengruppen. Dabei geht es Bühler, Agrarbiologe und einst auf einem Bauernhof aufgewachsen, vor allem darum, mit Vorurteilen aufzuräumen und sachlich zu informieren und debattieren. Gemeinsam nach konkreten Lösungen zu suchen. Und so für mehr Klarheit und Sicherheit zu sorgen.

Ergebniso­ener Entwicklungsprozess

Zwei Punkte sind ihm besonders wichtig. Zuallererst: „Ob das Biosphärengebiet kommt, ist derzeit völlig offen“, stellt Bühler fest. „Wir befinden uns ganz am Anfang eines Entwicklungsprozesses.“ Zweitens: „Ob das Biosphärengebiet kommt, entscheiden einzig und allein die Bürger hier in der Region.“ Respektive deren politische Vertreter in den Gemeinderäten. In den Kommunalparlamenten wird abgestimmt, sobald der Diskussions- und Beteiligungsprozess abgeschlossen, die Vor- und Nachteile eines Biosphärengebiets in der Region umfassend erarbeitet sind. Bei einer positiven Entscheidung könnte es dann Ende dieses Jahrzehnts ein Biosphärengebiet geben. Aber die Timeline ist nicht in Stein gemeißelt. Bühler: „Es dauert so lang, wie es eben dauert.“ Und wenn die Entscheidung negativ ausfällt? Franz Bühler holt tief Luft. „Dann ist die Entscheidung so zu akzeptieren. Auch wenn dann so manche Chance für eine nachhaltige Zukunftsentwicklung ungenutzt bliebe.“
“Ich hoffe sehr, dass das Biosphärengebiet kommt.”
- Petra Misch

Mehrwert für die Region

Denn ein solches Biosphärengebiet bietet einen konkreten Mehrwert für die Region, davon ist Bühler überzeugt. Von einem Biosphärengebiet würde natürlich insbesondere der Natur- und Klimaschutz profitieren. Moore binden enorme Mengen an CO© – durch die Wiedervernässung von Wiesen und Feldern, die einst den Mooren abgetrotzt wurden, würde weiteres CO© gebunden. Thema Bildung: Die bestehenden Naturschutzzentren würden aufgewertet, die Bildungsangebote ausgebaut. Das Ziel: die verschiedensten Interessengruppen für die Themen Nachhaltigkeit, regionale Kreislaufwirtschaft, Moor- und Klimaschutz und andere zu sensibilisieren und so, wie Bühler sich ausdrückt, die Identifikation mit der Region zu stärken.

Neue Geschäftsmodelle und Erlösquellen

Auch Akteuren aus der Land- und Forstwirtschaft samt der Fischerei böte ein Biosphärengebiet großes Potenzial – für neue Geschäftsmodelle und Erlösquellen sowie eine nachhaltigere Wertschöpfung. Die Paludikultur etwa, erklärt Agrarbiologe Bühler, erlaube die landund forstwirtschaftliche Nutzung von nassen oder wiedervernässten Moorflächen. „Es müssten also keine Flächen aufgegeben, sondern nur anders genutzt werden.“ Neben regionstypischen Nasswiesenbeständen könnten auf diesen Flächen Schilf oder Rohrkolben angebaut werden, etwa für die Nutzung als naturnahes Dämmmaterial im Wohnungsbau. Die Reststoffe könnten als Energielieferant in der nächsten Biogasanlage genutzt werden. Umdenken werde auch der Verbraucher, ist sich Bühler sicher, und sich künftig noch mehr für die Region interessieren und hier nachhaltig hergestellte Produkte kaufen. Die Produzenten könnten zudem von neuen, direkten Vertriebskanälen profitieren und ihre Erzeugnisse zunehmend auch an Geschäftskunden verkaufen.

Neuer Schwung für den Tourismus

Auch dem regionalen Tourismus verliehe ein Biosphärengebiet neuen Schwung. Petra Misch, Geschäftsführerin der Oberschwaben Tourismus GmbH mit Sitz in altehrwürdigen Klostergemäuern in Bad Schussenried, hat daran jedenfalls keine Zweifel. „Ich hoffe sehr, dass das Biosphärengebiet kommt“, sagt sie bestimmt. „Das würde unsere Region und ihr naturräumliches Potenzial als eigenständige Marke massiv stärken“, ist sie überzeugt. Dabei schielt sie weniger auf die Tourismusmagneten am Bodensee oder im nahen Allgäu. Ihr gehe es nicht darum, Massen in die Region zu locken: „Disneyland brauchen wir hier nicht“, sagt sie. Ihr gehe es nicht um ungebremstes Wachstum, nicht um Quantität, sondern um Qualität und Authentizität. „Wir haben hier so tolle Voraussetzungen für einen nachhaltigen Tourismus, großartige Naturschätze“, schwärmt Touristikerin Misch. Das Biosphärengebiet könnte die Klammer sein, ein Label, „das diese Naturschätze, dazu naturnahe Freizeit- und gesundheitsbezogene Angebote und Produkte wie unter einem Brennglas sichtbar machen würde“, erklärt Misch, die sich unter anderem als Sprecherin des Arbeitskreises Tourismus für das Biosphärengebiet stark macht. Nochmal: Ihr gehe es nicht um noch mehr Touristen. Sondern in allererster Linie um die Menschen, die hier in der Region leben.
Um nur eine Zahl zu nennen: 2019 zählte die Region knapp 5,3 Millionen Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben, aber fast 15 Millionen Tagestouristen und Ausflügler. Misch: „Mit einem Biosphärengebiet könnten wir gerade diese Gruppe, Einheimische wie Besucherinnen und Besucher aus der Region, für mehr Wertschätzung von Natur- und Klimaschutz sensibilisieren.“
“Das Biosphärengebiet Schwäbische Alb haben wir von Anfang an unterstützt.”
- Uli Zimmermann
Dazu kommt: Die Region ist Zuzugsregion. „Für die Unternehmen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Familien in die Region locken wollen, ist ein attraktives Umfeld mit einem hohen Freizeitwert ein echter Standortvorteil“, konstatiert Misch. Und: Viele Betriebe sind ohnehin längst auf einem grünen, nachhaltigen Weg, setzen auf Energieeffizienz, regenerative Energien, E-Mobilität, Kreislaufwirtschaft, um nur einige Beispiele zu nennen. Franz Bühler ist überzeugt: Ein Biosphärengebiet würde diese Betriebe und Akteure und ihre Projekte sichtbar machen und so auf ihr Image einzahlen. Er spricht hier von einem Pull-Faktor, also der (wachsenden) Anziehungskraft der Region für Arbeitskräfte und Auszubildende.

Klima für neue, innovative Geschäftsmodelle

Abschließend lohnt auch noch ein Blick auf die Alb. Hier nämlich, also in unmittelbarer Nachbarschaft, gibt es seit 2009 ein Biosphärengebiet. Wie sind die Erfahrungen dort? Uli Zimmermann muss ein bisschen grinsen. Er ist Inhaber der Berg Brauerei Ulrich Zimmermann im Ehinger Stadtteil Berg – ein Standort südwestlich und knapp außerhalb der Gebietskulisse des Biosphärengebiets Schwäbische Alb. „Auch wenn wir nicht so richtig zum Biosphärengebiet dazugehören, so haben wir natürlich seine Entwicklung und Entstehung mitbekommen und verfolgt“, erzählt Zimmermann. Und natürlich habe es auch hier am Anfang viele Vorbehalte gegeben, wenn auch die geografischen und politischen Voraussetzungen ganz andere waren als in Oberschwaben, Stichwort ehemaliger Truppenübungsplatz in Münsingen. Das sei auch ein sehr langer, zäher Prozess gewesen, so Zimmermann: „Wir haben das aber von Anfang an unterstützt.“ Warum? Zum einen spielt das Thema Nachhaltigkeit für ihn und seine Brauerei schon seit vielen Jahren eine sehr wichtige Rolle, etwa im Einkauf: Rund 60 Prozent der in seinem Betrieb benötigten Braugerste stammen von Landwirten im Biosphärengebiet. Zum anderen war Zimmermann schon früh davon überzeugt, dass von einem Biosphärengebiet nicht nur Gastronomie und Hotellerie profitieren würden, sondern auch andere Wirtschaftsbereiche, die ganze Region. Und tatsächlich hat das Biosphärengebiet eine Dynamik entfaltet und ein Klima geschaffen, in der die regionalen Wirtschaftskreisläufe gestärkt wurden und neue, innovative Geschäftsmodelle entstanden sind. Darüber hinaus haben neue Vertriebswege und Wertschöpfungsketten der Vermarktung regionaler Produkte viel Schwung gegeben.
Daher sind auf der Alb die Stimmen der Kritiker längst verstummt, die Lage ist entspannt. Heute gilt das Biosphärengebiet Schwäbische Alb als echtes Erfolgsmodell – ein Erfolgsmodell auf Wachstumskurs, da weitere Gemeinden künftig unbedingt dabei sein wollen. Der Entwicklungsprozess auf der Alb setzt sich also fort. Uli Zimmermann sieht keinen Grund, warum es in der Region Allgäu-Oberschwaben nicht auch so kommen sollte.
René Kius lebt und arbeitet als freier Journalist in Ravensburg