Fertigteil neu gedacht

Tinglev ist eine dänische Kleinstadt nahe Flensburg. Die Firma Tinglev war ein Familienunternehmen mit Sitz in Stockholm. Tinglev stellte als Fertigteilwerk in Dänemark Wände, Decken, Treppen und Balkone her. 1999 errichtete das Unternehmen in Altlandsberg, direkt an der A10 gelegen, sein zweites Fertigteilwerk, das auf Wandelemente spezialisiert war. Das Ziel der Gesellschafter war wohngesundes Bauen. Die Firma errichtete im Systembau in ganz Norddeutschland vorwiegend Eigenheime aus natürlichen Baumaterialien.
Die Elemente bestehen aus haufwerksporig gewalztem Blähton. Blähton ist ein Tongranulat, das sich beim Brennen bei 1 200 Grad zu Kügelchen aufbläht. Bei der haufwerksporigen Verarbeitung werden die Kügelchen mit Zement so miteinander verklebt, dass sich Lufteinschlüsse ergeben. Auf diese Weise entsteht ein spezielles Raumklima.

Im Jahr 2021 wurde aus einer Konzernstruktur heraus für das Altlandsberger Werk ein Management-Buy-Out eingeleitet. Dadurch ist ein inhabergeführtes mittelständisches Unternehmen entstanden.
Mich hatte das Konzept begeistert, mit ressourcenschonendem Materialeinsatz behagliche Wohnungen zu errichten. Auf ein solches Unternehmen hatte ich 20 Jahre lang gewartet.

Anja Knoll, Geschäftsführerin Tinglev

Die Geschäftsführerin

Anja Knoll ist seitdem Geschäftsführerin und Mehrheitsgesellschafterin des Fertigteilwerkes. Die Diplom-Bauingenieurin stammt aus Crimmitschau in Sachsen und absolvierte ihre Ausbildung an der Berufsakademie in Glauchau, die ihr ein sehr praxisnahes Studium ermöglichte. Mit 21 Jahren ging sie als Planerin zum Bauunternehmen Goldbeck, wo sie 13 Jahre lang zum Teil deutschlandweit schlüsselfertige Gewerbebauten errichtete. Ihre nächste Berufsstation war mit Köster Bau wieder eine Branchengröße, hier trieb sie die Einrichtung der Berliner Niederlassung voran. „Ich hatte bisher nie Stein auf Stein gebaut, sondern immer montiert“, erzählt sie lächelnd. „Beim Hamburger Unternehmen Otto Wulff arbeitete ich in der Projektentwicklung und konnte mit meinem Team viele Investitionen umsetzen. Die Zusammenarbeit mit dem visionären Inhaber Stefan Wulff hat noch heute Einfluss auf mein Handeln.“
Die Neugier auf Leichtelemente und die Möglichkeit, Wohnungen individuell und nachhaltig herstellen zu können, war ihre Motivation zur Bewerbung als Geschäftsleitung beim Tinglev-Werk Berlin: „Mich hatte das Konzept begeistert, mit ressourcenschonendem Materialeinsatz behagliche Wohnungen zu errichten. Auf ein solches Unternehmen hatte ich 20 Jahre lang gewartet, aber ich rechnete mir als Frau wenig Chancen aus. Bei einem deutschen Unternehmen wäre das wohl auch der Fall gewesen, aber in den skandinavischen Ländern sind Frauen auf dem Bau nicht ungewöhnlich. Dort bewerten sie die Menschen nach dem, was sie tun.“

„Reduziert, ehrlich, umweltschonend“, Knoll war begeistert vom tollen Produkt, dem guten Kundenstamm und erfüllt von der Idee, Tinglev voranzubringen. Sie löste 2018 den aus Altersgründen ausscheidenden Geschäftsführer Jakob W. Knudsen ab. Zu diesem Zeitpunkt war Tinglev bereits Teil der Heidelberg Materials AG.
Mit dem Management-Buy-Out begann die Entwicklung zum Rohbau-Unternehmen der Zukunft. Mit diesem Begriff verbindet Knoll innovative Produkte und Dienstleistungen sowie die technologische Marktführerschaft im System-Rohbau mit schneller und sauberer Montage vor Ort.
Just in time bedeutet hier, dass alle benötigten Materialien morgens angeliefert werden und abends der Restmüll zum Werk zurückkommt. So bleibt die Baustelle sauber.

Anja Knoll, Geschäftsführerin von Tinglev

Umdenken in der Bauwelt

Aufgrund der gestiegenen Baukosten und durch Wegfall der Wohnungsbauprämie werden in Deutschland aktuell kaum noch Einfamilienhäuser gebaut. „Die Bauwelt ist ins Wanken geraten“, sagt Knoll. Sie konnte durch ihre Kontakte zu Bauträgern in Berlin und Hamburg den Einbruch zum Teil ausgleichen, denn im Geschosswohnungsbau, Schulbau und bei Aufstockungen wächst der Anteil der Elementbauten. Diese weisen aus ökologischer Sicht zahlreiche Vorteile auf. Knoll sagt: „Vorgefertigtes Bauen findet mehr Zuspruch. Wir profitieren vom positiven Image der Holzelementbauten, die sehr populär geworden sind. Holz und Blähton gelten zu Recht als umweltfreundlich.“

Gegenüber dem klassischen Beton erfordern die Blähton-Systemelemente weniger Energie in der Herstellung. Blähton ist feuerbeständig, resistent gegen Pilz- und Schädlingsbefall und lässt sich gut recyclen. Die bauphysikalischen Eigenschaften sorgen für ein angenehmes Wohnklima. Sie sind hygge, wie Knoll sagt. Das ist das dänische Wort für die gemütliche, herzliche Atmosphäre in der Wohnung, die man zusammen mit der Familie genießt.

Die Unternehmenskultur

Wie wir das von Ikea kennen, duzen sich auch bei Tinglev alle. „Anja“ ist Chefin von 90 Mitarbeitern. Die Belegschaft ist durchschnittlich 40 Jahre alt, seit sechs Jahren im Betrieb und überwiegend männlich. In der Produktion sind zwei Mitarbeiterinnen beschäftigt. 90 Prozent sind Deutsche aus Brandenburg, wobei sich das mehr und mehr ändert. Anja Knoll steht für ein weltoffenes Betriebsklima. In der Firma begehen sie das Weihnachtsfest, aber auch das Zuckerfest. Gemeinsames Essen sorgt für die Annäherung der verschiedenen Kulturen. Bekanntlich ist der Ton auf den Baustellen sehr direkt, doch die Geschäftsführerin achtet darauf, dass es Grenzen gibt. Sie hat dafür eine Deeskalations-Trainerin von der Polizei in die Firma geholt und Gespräche mit Mitarbeitern geführt. Sie sagt: „Ich möchte, dass sich die Mitarbeiter untereinander vertrauen, dass alle hier ohne Angst arbeiten und leben können.“ Diese Botschaft enthält auch ein großformatiges Wandbild, das ein Graffiti-Künstler auf die Werksfassade gesprüht hat.

Zukunftspreis Brandenburg 2023

Mit den individuellen Projektbauten steigen die Anforderungen an die Mitarbeiter. Die Produktion muss sich anpassen, ohne dass die Arbeitskräfte auf dem Weg verlorengehen. René Schulz im Qualitätsmanagement ist ein Beispiel dafür. Er konnte seinen körperlich fordernden Job nicht mehr machen und qualifizierte sich für seine neue Arbeit am Computer. Knoll sagt: „Wir haben hier ganz viele erfahrene Mitarbeiter, die noch nicht so alt sind, dass sie in Rente gehen könnten. Auf sie werden neue Aufgaben hinzukommen.“ Was aber bleibt, ist ein Arbeitsplatz, an dem man abends ein Ergebnis sieht. Viele Menschen empfinden das als Glück. Dass die Mitarbeiter bei Veränderungen mitgenommen wurden, war für die Jury ein Grund für die Auszeichnung mit dem Brandenburger Zukunftspreis. Die Juroren beeindruckte besonders die hohe Mitarbeiterzufriedenheit bei Tinglev. In der Begründung hieß es: „Durch gezielte Maßnahmen und Initiativen konnte eine positive Arbeitsumgebung geschaffen werden, die das Engagement und die Motivation der Mitarbeiter stärkt.“ Es ist auch eine Auszeichnung für modernes Bauen und Toleranz.
Der Firma hat die Auszeichnung geholfen, in der Region bekannter zu werden – auch als Arbeitgebermarke. Die Mitarbeiter sind sehr stolz, dass sie diesen Preis geholt haben. Für viele war es die erste öffentliche Anerkennung ihrer Arbeit überhaupt. Sie haben einen Schrein gebaut, in dem der Preis für alle sichtbar am Eingang steht.

Die Ausbildung

Neue Wege geht Tinglev bei der Lehrausbildung. Mit der Modulbauweise wird es im Unternehmen künftig neben dem klassischen Betonwerker auch den Elektroniker in der Produktion geben, ein junger Mann lernt bereits diesen Beruf. Das Besondere daran ist der von Knoll organisierte Ausbildungsverbund. Sie berichtet: „Ich habe der IHK meine Idee vorgestellt und wurde beim Erstellen eines individuellen Ausbildungsplans beraten.“ Da Tinglev nur einen Teil der Ausbildungsfelder selbst abdecken kann, mussten Elektro- und Baufirmen in der Region als Partner gewonnen werden.

Es ist schwer, junge Menschen für eine Ausbildung im Betonwerk zu gewinnen, wo es laut und schmutzig ist. Tinglev kann sich seine Bewerber meistens nicht aussuchen, und manchmal ist Inklusion am Arbeitsplatz nötig. Das Unternehmen bezahlt dann Nachhilfeunterricht und stellt jedem Azubi neben dem Ausbilder auch einen Mentor zur Seite, der Probleme rechtzeitig erkennen und dann eingreifen soll.

Neue Werkstoffe

Mario Köcher ist Bauingenieur und hat im August die Werkleitung bei Tinglev übernommen. Zu seinen Projekten zählt die Einführung von Bimsstein als Zuschlagstoff. Bimsstein kommt in der Natur vor und wird in Bayern abgebaut. Zu Granulat verarbeitet wird es eine Alternative zu Blähton sein, mit noch weniger Energiebedarf über den gesamten Produktionsprozess. Mario Köcher sagt: „An der Idee arbeitet das Unternehmen bereits seit einem Jahr. Wir sind die ersten in Deutschland, aber auch Bimsstein ist ein traditioneller Baustoff. Wir arbeiten mit dem Granulathersteller zusammen und führen gerade Druckversuche durch.“ Dafür erfolgt eine Bohrkernprüfung unter standardisierten Bedingungen.

Für Knoll sind die Bimsstein-Elemente die Fortschreibung der Firmenphilosophie, gesundes Wohnen und Wirtschaftlichkeit zu vereinen. Innovationen mit Hilfe bewährter Grundstoffe. Das ermöglicht es, ohne lange Forschung zu neuen Produkten zu kommen.
FORUM/Bolko Bouché
Jens Jankowsky
Referent Innovation/Energie
Geschäftsbereich Wirtschaftspolitik