„Viele wollen Teil der Entwicklung in Mainz sein“

Mainz will Biotechnologie-Hochburg werden, das Landhat sich auf den Weg zum führenden Biotech-Standortgemacht. Wie weit sind die Pläne und worauf kommt es an, um die Vision Realität werden zu lassen?
In der Corona-Pandemie waren alle Augen auf Mainz gerichtet. Wann ist der von Biontech und Pfizer, der rheinhessisch-amerikanischen Pharma-Kombo, entwickelte Impfstoff endlich verfügbar und bringt wieder Normalität in unseren Alltag? Mainz und Biotechnologie, das war eine Zeitlang fast schon ein Synonym. Die durch die Decke schießenden Einnahmen des Mainzer Startups, gegründet 2008 und seit 2019 an der Börse notiert, sanierten auf einen Schlag die in den tiefroten Zahlen steckende Stadtkasse. Beides zusammengenommen, die Aufmerksamkeit und die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit, sind Motoren, um die Landeshauptstadt als Biotechnologie-Standort zu etablieren.
Nun gibt es längst nicht nur Biontech, schon jetzt nicht, sondern einen Verbund aus Unternehmen und Instituten, Universität und Uni-Medizin. Entwickelt werden soll, so sieht es die städtebauliche Strategie vor, eine Biotech-Achse, die sich quer durch die Innenstadt zieht. Die räumliche Vernetzung, so heißt es seitens der Stadt, sei essenziell für die Entstehung eines internationalen Biotechnologie-Standortes. Von der GFZ-Kaserne über Uni-Medizin und Universität in Richtung des Finther A60-Zubringers sollen Forschung, Entwicklung und Anwendung verknüpft werden. Dabei wird die Nähe zu Innenstadt und Naherholungsgebieten als Standortfaktor hervorgehoben. Auf dem Kasernengelände treibt Biontech mit einem 25.000 Quadratmeter großen Neubau seine Entwicklung voran. Und 170 Millionen Euro fließen in den Labor- und Forschungsneubau des Instituts für Translationale Onkologie (TRON) mit über 10.000 Quadratmetern Nutzfläche.

Medizinische Biotechnologie als Alleinstellungsmerkmal

Es tut sich etwas in der Stadt. Und auf den ehemaligen Frei- und Nutzflächen des neuen Life-Science-Campus gehen die Arbeiten erst los. Seit Sommer 2022 rollt die Entwicklung an, mit Stadtratsbeschluss, Bürgerbeteiligung und internationalem Ideenwettbewerb. Zwischen Saarstraße und Hochschule gab es in diesem Frühjahr den ersten Spatenstich für den ersten Neubau (siehe Bericht in dieser Ausgabe). Auf insgesamt 12 Hektar Fläche soll sich das so genannte Hochschulerweiterungsgelände erstrecken. Mehr als 50 weitere Hektar Ausbaufläche sind in der Pipeline. Um das Vorhaben Biotech-Standort Mainz voranzutreiben, alle Akteure zu vernetzen und die Kommunikation zu managen, wurde die städtische Biomindz Standortentwicklungsgesellschaft ins Leben gerufen. Das vierköpfige Team kümmert sich auch darum, die Sichtbarkeit des Projekts in der Region zu stärken, und will seine Marketingaktivitäten forcieren.
Potenziale für einen führenden Biotech-Standort Rheinland-Pfalz sieht das Beratungsunternehmen Roland Berger, das der Landesregierung eine Roadmap zur Umsetzung vorgelegt hat. Es handele such um einen der weltweit am dynamischsten wachsenden Wissenschaftszweige mit großem wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Potenzial. Internationaler Vorreiter sind wie so oft die USA, aber auch in London, Dänemark/Schweden und Paris haben sich, so Roland Berger, schon international bedeutsame Cluster gebildet. Die Mainzer Landesregierung hatte sich mit ihrem 2021 geschlossenen Koalitionsvertrag vorgenommen, sich in diese Phalanx einzureihen. Und die Analyse des Beratungsunternehmens in Auftrag gegeben.
Tenor: Das Land verfügte mit seinem Mix aus universitärer und außeruniversitärer Forschung über eine wettbewerbsfähige Infrastruktur. Der Fokus auf medizinische Biotechnologie, der sich vor allem in Mainz zeige, könne durchaus ein internationales Alleinstellungsmerkmal ergeben. Auch die Voraussetzung zur ökonomischen Verwertung stimme. Doch die Zahl der Biotech-Firmen aus dem Kernsegment sei derzeit noch überschaubar. Ausbaufähig seien Gründungsaktivitäten, Finanzierungsoptionen sowie verfügbare Labor- und Produktionsflächen. Das Desiderat eines übergreifenden Cluster-Managements wurde inzwischen erfüllt. „Die Vision, Rheinland-Pfalz zu einem führenden Biotech-Standort zu machen, bewerten die Autoren als realistisch“, teilt Roland Berger mit.

An Übergangslösungen für Laborflächen wird gearbeitet

Die Landesregierung kündigte ein Förderpaket von 800 Millionen Euro für Biotechnologie und Lebenswissenschaften in Rheinland-Pfalz bis 2026 an. Allerdings brauche es, so Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), auch privates Kapital. Land und Stadt haben gemeinsam mit dem Technologiezentrum Mainz (TZM) eine Plattform Biotechnologie und Life Sciences eingerichtet, um internationale Sichtbarkeit herzustellen und die Akteure zu vernetzen. Die Plattform richtet sich an etablierte Unternehmen, Gründer und Wissenschaftler. Ein Handlungsfeld ist die Fachkräftegewinnung. Laut der Mainzer Arbeitsagentur geht die Zahl der Fachkräfte in Berufen der Biotechnologie aktuell zurück. Und mit jeder Neuansiedlung verschärft sich die Konkurrenz.
Biomindz verfolgt das Bestreben einer ganzheitlichen Entwicklung des neuen, lebenswissenschaftlichen Campus. Die Ersterschließung ist abgeschlossen, die Planungs- und Genehmigungsphase für das Gros des Areals steht noch bevor. Gerechnet wird mit einem Entwicklungszeitraum von gut 15 Jahren. „Die Knappheit von Laborflächen ist ein großes Thema in Mainz, das wir angehen“, sagt Biomindz-Geschäftsführer Felix Wälder, „Schritt für Schritt wollen wir den Druck reduzieren.“ Zurzeit werde viel an Übergangslösungen gearbeitet. So manches Startup findet seine Laborflächen derzeit noch in der Uni-Medizin. Wichtig ist, dass der erste Neubau in Gange ist. Auch auf dem Neubau des TZM liegen große Hoffnungen.
Drohen Abwanderungen von Unternehmen und Fachkräften? Wälder relativiert: „Natürlich ist der Markt in Deutschland und Europa umkämpft. Wir sehen aber, dass die in Mainz vorhandene Expertise eine besondere Anziehungswirkung hat, dass viel Interesse am Standort Mainz besteht, dass wir als attraktiver Standort wahrgenommen werden. Natürlich passiert es, dass Startups woanders Flächen und Finanzierungen bekommen. Das ist normal, so wie auch von anderen Standorten Startups nach Mainz ziehen. Und es sind Einzelfälle, nicht die Regel. Wir sehen die Region Rhein-Main als relevante Größe. Viele wollen Teil der Entwicklung in Mainz sein.“ Und bei den in der Entwicklung befindlichen Laborflächen „reden wir schon von Größenordnungen, die andere Standorte nicht erreichen. Die Geschwindigkeit der Entwicklung ist beachtlich.“

Vernetzung zum „Ökosystem Biotechnologie“ wird enger

Am von Dreyer geforderten privaten Kapital wird es offenbar nicht fehlen. Wälder rechnet damit, dass binnen eines Jahrzehnts mindestens eine Milliarde Euro in die Biotech-Achse samt Life-Science-Campus investiert wird. Einschnitte aus Sicht des städtischen Haushalts seien auch dann nicht zu erwarten, wenn die Gewerbesteuerzahlungen von Biontech wieder deutlich zurückgehen. „Darauf haben wir uns eingestellt und von den Sondereffekte aus 2021 und 2022 werden wir weiter profitieren“, sagt der Mainzer Oberbürgermeister Nino Haase. Und kündigt an: „Es gibt zum aktuellen Zeitpunkt keine Überlegungen, an dem geltenden Beschluss zu dem Gewerbesteuersatz etwas zu ändern.“
Die Vernetzung zum „Ökosystem Biotechnologie“ schreitet voran. Zwischen 50 uns 120 Teilnehmer besuchen die regelmäßigen Netzwerktreffen. „Bereits heute ist Mainz eine wichtige Adresse im Bereich der Life Science und Biotechnologie und die Ausgangslage ist eine sehr gute“, betont Haase. „Durch die Maßnahmen, die von Stadt und Land im Schulterschluss ergriffen werden, soll sich Mainz zu einem erfolgreichen Standort mit internationaler Strahlkraft entwickeln.“
Kritik an der zu zögerlichen Umsetzung der Standort-Pläne äußerte zum Jahreswechsel die IHK Rheinhessen. Hauptgeschäftsführer Günter Jertz sprach von „Kirchturmpolitik“ der Kommunen. Auch auf Landesebene müsse das Zukunftsthema entschlossener angepackt werden, sagte der Sprecher der IHK-Arbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz, Arne Rössel. Und monierte strukturelle Mängel bei der Aufstellung des Landes in der Biotechnologie-Förderung. Auch den Zeitverzug durch die Roland-Berger-Studie bemängelt die IHK in Rheinland-Pfalz. Zudem brauche es ein Wohnraum- und Verkehrskonzept, da nicht alle Fachkräfte in Mainz wohnen könnten.
Was das Thema Wohnraum angeht, blickt man bei Biomindz einstweilen auf die städtischen Lagen, Zollhafen oder Heiligkreuz-Quartier etwa, die entwickelt werden. „Das ist das, was sich urbane internationale Fachkräfte wünschen, immer verknüpft mit einem passenden Mobilitätsangebot“, sagt Wälder. Die Verkehrsinfrastruktur mit Radwegen und ÖPNV spiele eine wichtige Rolle, Wege und Anbindungen stünden auch auf dem Life-Science-Campus im Fokus. Hier gilt gleichwohl ebenso: Die Stadtgrenzen sind zurzeit offenbar auch die Planungsgrenzen.
Forderungen nach einem „BioTech-Valley“ zwischen Mainz und Birkenfeld erhob eine Resolution der Initiative Rhein-Nahe-Hunsrück. Drei Landkreise, vier Städte, zwei Hochschulen sowie die IHKen Rheinhessen und Koblenz sind mit an Bord. Nach Vorbild des kalifornischen Silicon Valley solle eine Achse von Mainz über Ingelheim, Bingen, Bad Kreuznach und Idar-Oberstein bis zum Umwelt-Campus Birkenfeld entwickelt werden. Die Landesregierung lege den Schwerpunkt ihrer Unterstützung beim Biotechnologie-Ausbau zu sehr auf die Landeshauptstadt. Bei Biomindz hat man das Thema BioTech-Valley derzeit nicht vordringlich auf der Agenda. Allerdings ist die Gesellschaft ja auch eine städtische.

„Ein so starkes Commitment habe ich noch nie erlebt“

Koordination ist angesichts der vielen Themenfelder und Ideen auf jeden Fall gefragt: Professor Eckhard Thines, Dekan des Fachbereichs Biologie an der Mainzer Uni und Geschäftsführer des Instituts für Biotechnologie und Wirkstoff-Forschung, ist hier als neuer Landeskoordinator für Biotechnologie an der Schnitt-stelle. Er betont: „Ich bin seit drei Jahrzehnten in der Branche. Aber so ein Commitment wie im Moment habe ich noch nie erlebt. Das ist die Grundvoraussetzung für Erfolg. Die Leute haben das Potenzial für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt erkannt. Rheinland-Pfalz erhält so einen enorm innovativen Wachstumsmarkt.“ Thines zieht eine Parallele zum Biotech-Standort Boston: „Inspiration entsteht mit vielen tollen Playern auf engem Raum. Diesen Spirit zu schaffen, ist für mich ein Ziel. Wir können in Bezug auf die Wissenschaftsumgebung tatsächlich werden wie Boston.“
Doch es gibt auch kritische Stimmen. „Um den Standort wirklich zukunftsfähig zu entwickeln, muss noch mehr passieren“, sagt F. Albrecht Graf von Pfeil, Geschäftsführer der J. Molitor Immobilien GmbH, die derzeit das erste Gebäude auf dem Life-Science-Campus baut. Es brauche deutlich mehr Ansiedlungen. Da sei auch das Land gefordert. „Um einen Schwerpunkt der Biotechnologie zu entwickeln, müssen wir auch den Raum und die Attraktivität für internationale Arbeitsplätze schaffen.“ Dazu gehöre eine internationale Schule und ein internationaler Kindergarten. Was diesen betrifft, „sind wir mit einem potenziellen Betreiber in einem guten Gespräch“, sagt Pfeil. Eine bilinguale, zwei bis vier Gruppen große Kita ist angedacht. Und Haase sagt: „Wir wissen um die Bedeutung einer internationalen Schule mit Blick auf die notwendige internationale Fach- und Nachwuchskräftegewinnung für die Unternehmen am Standort. Daher sind wir weiter an dem Thema dran und führen Gespräche mit dem Ziel ein entsprechendes Angebot machen zu können.“
Edmund Schmitz, Geschäftsführer von G.L. Kayser Immobilien, verweist auf das Thema Wohnraum. Seitens der Stadt gebe es Nachholbedarf. „Wir werden einen Wohnform-Mix haben müssen“, sagt Schmitz, „die Spitzen-Fachkraft wird nicht in eine Drei-Zimmer-Wohnung ziehen wollen – und auch nicht ins Umland. Wenn man diese Nachfrage nicht bedient, werden sich die Leute sehr genau überlegen, ob sie nach Mainz kommen.“ Das neu gebaute, frei stehende Einfamilienhaus ist stadtpolitisch derzeit nicht unbedingt opportun. Aber es brauche, so Pfeil, ein Spektrum von der Mietwohnung bis zur Villa, wenn wirklich Attraktivität für den Life-Science-Campus geschaffen werden soll.
„Kritische Stimmen wird es immer geben“, sagt Thines. Und sprüht vor Optimismus: „Durch den Erfolg von Biontech wurde die Biotechnologie in viel größerem Ausmaß als ein wichtiges Zukunftsfeld erkannt. Es handelt sich um die Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts und einen sehr großen Wachstumsmarkt.“ Prognosen zufolge würden sich Arbeitsumfang und Marktvolumen bis 2027 verdoppeln. In Rheinland-Pfalz sei die Branche in der Breite sehr gut aufgestellt. Nun gelte es Kompetenzen zusammenzuführen und Ressourcen aufzubauen, um Ansiedlungen attraktiv zu machen und damit Startups leichter wettbewerbsfähig werden. Und Mainz? Ist dabei für Thines der „Kristallisationskern“.

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