„Die richtigen Dinge auf die richtige Art und Weise tun“

Über Jahre hinweg hat sich der Begriff der Nachhaltigkeit fest in der Wirtschaft etabliert. Aber was genau bedeutet es, nachhaltig zu wirtschaften? Und wie passt das in eine Zeit, in der sich US-Unternehmen aus Nachhaltigkeits- und Diversitätsprogrammen verabschieden, Berichtspflichten für Verwirrung statt für Klimaschutz sorgen und viele Betriebe mit dem Rücken zur Wand stehen?
Klar ist: Nachhaltigkeit hat sich in den vergangenen Jahren zum Wirtschaftsfaktor entwickelt. Mehr als 100 Milliarden Euro wurden 2022 laut Statistischem Bundesamt durch Produktion und Dienstleistungen zum Umweltschutz erwirtschaftet: 62 Milliarden Euro Umsatz sind demnach dem Klimaschutz zuzurechnen, angekurbelt von Maßnahmen zur Energieeffizienz und Erzeugung Erneuerbarer Energie. 13 Milliarden Euro investierte die Industrie in Sachgüter für den Umweltschutz, die Hälfte entfiel auf die Abwasser- und Abfallwirtschaft. Kein Wunder, dass Nachhaltigkeitsberatungsdienste global längst zweistellige Milliarden-Erlöse erzielen, mit rapide steigender Tendenz.
Nachhaltiges Wirtschaften basiert auf mehreren Ansätzen. Neben den 17 Nachhaltigkeitszielen der UN und dem Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie, Soziales), haben sich in der Praxis vor allem vier Handlungsfelder herauskristallisiert:
  • Am Arbeitsplatz kommt es auf Faktoren wie fairen Umgang mit Mitarbeitern, Personalentwicklung, Chancengleichheit und Gesundheitsförderung an.
  • Ökonomisch relevant sind Menschenrechte, Verbraucherschutz, Transparenz in Unternehmensführung und Werbung, Anti-Korruption und Produktsicherheit.
  • Ökologisch spielen nachhaltige Ressourcennutzung, Umwelt- und Klimaschutz, Energieeffizienz sowie das Mobilitätsund Abfallmanagement eine Rolle.
  • Das Gemeinwesen betreffen Elemente wie Bildung und Inklusion, Spenden und Stiftungen.
„Diese Dimensionen sind nicht trennbar“, sagt Alexa Gádi, Abteilungsleiterin Recht bei der IHK für Rheinhessen. „Wirklich nachhaltige Unternehmen sind im Gesamtkonzept nachhaltig, sozial, ökologisch und ökonomisch.“ Die Motivation kann vielfältig sein: Verantwortungsbewusstsein und Idealismus, Image und Profit spielen oft zusammen. Öko ist per se teurer – diese Regel ist passé, falls sie je gegolten hat. Erst recht, wenn man Variablen in die Rechnung aufnimmt, die nicht nur die Gewinn- und Verlustrechnung, sondern auch Ressourcenverbrauch und Klima hinzuziehen. Wobei sich dann direkt die Frage nach der Wirksamkeit und Zielgenauigkeit von Maßnahmen stellt.

Auch Flächenversieglung kann nachhaltig sein

Vier von zehn Gebäuden in Deutschland sind, von der Energieklasse her, sanierungsbedürftig. Zugleich wird es ohne neue Gewerbe- und Industriegebiete nicht gehen, wenn wieder wirtschaftliches Wachstum entstehen soll. Und eigentlich müsste auch der Wohnungsbau deutlich beschleunigt werden, um die Bedarfe zu decken. Zugleich wird von energetischen Sanierungsquoten beständig unter einem Prozent pro Jahr berichtet. Nachhaltiges Bauen, so viel scheint eindeutig, ist ein Markt mit, zumindest theoretisch, erheblichem Wachstumspotenzial. Erst recht, wenn Land, Bund und EU ihre hoch gesteckten Klimaziele erreichen wollen.
Ein Vorzeigebeispiel für nachhaltige Gewerbegebäude findet sich auf dem Biotechnologie-Campus in Mainz. Dort machen mit der Innovationspark Mainz GmbH – getragen von dem Ingelheimer Immobilienunternehmen J. Molitor, dem Mainzer Immobilienverwalter G.L. Kayser und dem Budenheimer Architekturbüro Ries und Ries – drei lokal ansässige Akteure deutlich, dass sie größten Wert auf effizientes und ressourcenschonendes Bauen legen. Das Gebäude LAB 1 macht den Anfang und dient namhaften Unternehmen wie Tron oder Lifecare zur Ansiedlung. Bis Ende 2026 soll nebenan das LAB 2 auf 9.000 Quadratmetern dreimal so viel Labor- und Bürofläche anbieten. Essenziell bei der Konzeption waren flexible Arbeitsumgebungen mitsamt Coworking-Spaces, um eine Schnittstelle zur vor Ort präsenten Wissenschaft und Gründerszene zu schaffen. Den Standort stärken, die dringend benötigten Fachkräfte aus dem Ausland anlocken und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erhöhen soll ein internationaler Kindergarten auf dem Campusgelände. Ein nahe gelegenes Hotel soll Campus-Gäste und Projektmitarbeiter beherbergen. Besonders ist vor allem auch die Bauweise, am Beispiel LAB 1: Die Außenfassade bindet in Holzrahmenbauweise CO2. Alles in allem wurden um das Stahlbetonskelett herum 55 Tonnen Holz und 180 Kubikmeter Holzfaserdämmung verbaut. Die Decken bestehen aus recyceltem Beton. Das Gebäude ist auf flexible Nutzung ausgelegt, die auch im Nachgang verändert werden kann, um die Lebensdauer zu erhöhen. Die Dachflächen sind begrünt, was dem Mikroklima nutzt. Ein Regenrückhaltesystem auf dem Dach spart Wasser und sorgt für passive Gebäudekühlung. Kalte Nahwärme, Solarzellen und E-Ladesäulen dienen ebenfalls einer ganzheitlich gedachten Nachhaltigkeit.

Verpackungen „von der Bahre zur Bahre“

Ein Schlüssel zur Ressourceneffizienz in Produktion und Verbrauch ist die Kreislaufwirtschaft. Der Kerngedanke: Produkte und Rohstoffe werden so lang als möglich genutzt, neue Produkte entstammen idealerweise vollständig den Materialien alter Produkte und lassen sich ihrerseits vollständig wiederverwerten. So entstehen auch keine Abfälle, einzig der mit der Produktion verbundene Ressourcenverbrauch, etwa in Form von Energie, schlägt dann noch zu Buche.
Der Reinigungs- und Pflegemittelhersteller Werner & Mertz gilt als einer der Pioniere der Kreislaufwirtschaft. Davon zeugt auch die Auszeichnung des Mainzer Familienunternehmens mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2025. „Nachhaltigkeit wird fälschlicherweise oft mit dem Bemühen gleichgesetzt, Umweltschädliches zu reduzieren“, umschreibt Unternehmenssprecherin Lena Hauschild die Philosophie. „Dabei muss deutlich früher angesetzt werden, damit das Schädliche gar nicht erst in Umlauf gerät. Echte Kreislaufwirtschaft bedeutet, von Anfang an die richtigen Dinge auf die richtige Art und Weise umzusetzen.“ Dabei folge man dem „Cradle to Cradle“-Prinzip, also „Von der Wiege zur
Wiege“ statt „zur Bahre“. Man ahme damit das Prinzip der Natur nach, das Abfall im eigentlichen Sinne nicht kennt, sondern sich alle Rohstoffe auf die ein oder andere Weise wieder zunutze macht.
Aufs Unternehmerische bezogen, beginnt dieser Kreislauf damit, dass Rohstoffe schon so entwickelt werden, dass sie auch im Kreislauf gehalten werden können – entweder durch Rückkehr ins Biologische oder Wiederverwertung in der Produktion. Das Unternehmen verweist dabei auch auf die Nutzung Erneuerbarer Energien und die firmeneigene Wasseraufbereitung. Ein Beispiel ist das Waschmittel der bekannten „Frosch“-Produktlinie. Für die Produkte werden seit vier Jahrzehnten pflanzlich basierte Wirkstoffe verwendet, die schlussendlich wieder zu Dünger werden sollen. Zur Reinigung dienen Tenside auf Basis von Raps oder Sonnenblumen, Säuren auf Basis von Holzresten und Alkohole auf Basis von Zuckerrüben. Europäische Tenside bedeuten kürzere Transportwege.
Werner & Mertz_Produktionszentrum
© Dominik Butzmann
Eine hohe Hürde für viele Unternehmen ist die Kreislaufwirtschaft bei Verpackung. Inzwischen sind, wie Hauschild betont, alle PET-Flaschen der Marke Frosch zu 100 Prozent aus Recyclat hergestellt und ihrerseits zu 100 Prozent recyclingfähig. Die vollständig recycelten und recyclingfähigen Nachfüllbeutel aus Polyethylen entwickelte Werner & Mertz gemeinsam mit dem Verpackungs- und Papierkonzern Mondi. Dass eine geringere Dosierung des Waschmittels notwendig ist und Verpackungsgrößen optimiert wurden, steigert die Effizienz.
Wie aber sieht es wirtschaftlich aus? „Kreislauffähige Innovationen und Investitionen in Forschung und Entwicklung sind erst einmal mit Mehrkosten verbunden“, sagt Hauschild. Im Gegenzug entstehe eine zugkräftige, glaubwürdige Marke. „Frosch“-Artikel seien oft teurer als die Konkurrenz, wobei das Mainzer Unternehmen nicht alle Mehrkosten an die Kunden weitergebe. Man verweist auf Erfolge in repräsentativen Preis-Leistungs-Rankings und beim Markenvertrauen.
Der nächste Schritt soll sein, dass die flexiblen Kunststoffverpackungen nicht nur vollständig recycelbar sein, sondern auch selbst aus recycelten Materialien bestehen. Dafür müssten aber erst ausreichende Mengen an Verpackungen in die Wiederverwertung gehen, die den Richtlinien entsprechen. „In dieser Henne-Ei-Situation bieten wir mit dem Beutel einen Grundstein und hoffen auf Nachahmer, denn im Hinblick auf den Klimawandel ist eine deutliche Erhöhung der Recyclingquoten alternativlos“, sagt Inhaber Reinhard Schneider. Auch am weiteren Einsatz europäischer Tenside anstelle von Palmkernöl-Basis wird geforscht.

Kurze Wege zum Arbeitgeber durch Mitarbeiterwohnungen

Ein wesentlicher Zweck von nachhaltigem Wirtschaften ist der Klimaschutz. Die größten Treibhausgasemissionen in Deutschland entfallen nach Daten des Umweltbundesamtes auf die Energiewirtschaft, gefolgt von Industrie – und Verkehr. Rückläufig sind die Emissionen, wenn man das Jahr 2023 mit 1990 vergleicht, in allen Bereichen, meist stark, am schwächsten beim Verkehr. Ein Grund ist die Zögerlichkeit der Verbraucher, auf die – in Sachen Preis und Nutzungskomfort weiterhin nur sehr bedingt wettbewerbsfähige – E-Mobilität zu setzen. Zumal man darüber, wie eine vollständige Nachhaltigkeitsbilanz von Batterie-Autos aussieht, trefflich diskutieren kann. Auch die allenfalls geringfügigen Verbesserungen der ÖPNV-Anbindung in der Fläche spielen eine Rolle.
LAB I und II
© Gemünden
Ein weiterer Hebel ist die Verringerung von Wegstrecken. Heimarbeit wäre ein Beispiel, Mitarbeiterwohnen heißt der Ansatz der Ingelheimer Bauunternehmung Gemünden. Aktuell wohnen rund 50 Beschäftigte in Betriebswohnungen. Hinzu kommen 250 Beschäftigte von Nachunternehmern. Im Hotel Wald.Weit im Rheingau wurde ein Mitarbeiterwohngebäude mit 15 Zweier-WGs errichtet, das auf Azubis ausgerichtet, ist und als Übergangsunterkunft für neue Mitarbeiter dient. Zudem entwickelt das Unternehmen Formate des Mitarbeiterwohnens für andere Betriebe. Denn der Trend gehe in diese Richtung, und das Land stellt Fördermittel für die Schaffung bezahlbaren Wohnraums für Mitarbeiter mit niedrigem oder mittlerem Einkommen bereit.
Ein Beispiel ist das Wohnquartier Hartenberg-Höfe auf dem Mainzer SchützenhausAreal. Mitte des Jahres sollen die Bauarbeiten starten, auf Förderfähigkeit der 126 Wohnungen in der Nähe zum neuen Biotechnologie-Campus wird geachtet. „Bei den Gesprächen mit ansiedlungswilligen Unternehmen geht es auch immer um die Frage nach dem Wohnungsmarkt“, sagt Sprecherin Carolin Grimm. Für Boehringer Ingelheim hat der Bauunternehmen zudem Gebäude für „Wohnen auf Zeit“ errichtet, denn wegen des angespannten Wohnungsmarktes haben neue Mitarbeiter häufig Schwierigkeiten, schnell etwas Passendes zu finden. Daher finden voll ausgestattete Übergangsangebote Nachfrage. Eine weitere Zielgruppe sind Fachkräfte, die für eine zeitlich begrenzte Projektarbeit nach Ingelheim kommen.

Von ideologischen Debatten und zweifelhaften Zertifikaten

Doch auch Wohnungen, die kurze Wege ermöglichen, versiegeln Grund und Boden und werfen in ihrer Entstehung die Frage der Nachhaltigkeit auf. Einen Nachfrageschub erlebt, trotz der weiterhin lahmenden Baukonjunktur, der Baustoff Holz. Die Unternehmensgruppe Gemünden hat mit der Übernahme der Ingelheimer Zimmerei Holzbau Josef Ammann und deren Ausbau die Weichen auf Wachstum in diesem Segment gestellt. Wobei Bauunternehmer Tim Gemünden die zuweilen ideologisch geführte Debatte um das Holz völlig pragmatisch sieht: „Es ist ein weiterer Werkstoff mit Eigenschaften, die man gut einsetzen kann, mit Vor- und Nachteilen.“ Da dürfe man das eine nicht gegen das andere ausspielen. Ein wirtschaftliches und ökologisches Optimum hänge von Gebäudezweck und Rahmenbedingungen ab.
gemünden_Große Holz-Maschine
© Gemünden
Je nachdem, was an Dämmung, Schallschutz und Tragfähigkeit vonnöten ist, könne zwischen verschiedenen Steinen, Beton und Holz als Baustoff unterschieden werden, gern auch in Kombination. „Holz hat einen relativ guten Eigendämmwert, ist wirtschaftlich aber immer noch teurer“, sagt Gemünden, der gleichwohl mit deutlich steigenden
Marktanteilen rechnet, auch weil der Holzbau sich immer stärker mechanisiert. Holz bietet nicht nur durch sein geringeres Eigengewicht statische Vorteile bei Aufstockungen, sondern auch die Möglichkeit, CO2 im Wandaufbau zu speichern. Und das macht sich in Klimabilanzen gut. „Holz wächst nach, nach dem Lebenskreis ist seine CO2- Bilanz aber bei Null“, sagt Gemünden. Beton wiederum brauche zur Herstellung Energie, bestehe längst nicht immer aus recyceltem Material, gebe beim Abbindeprozess CO2 ab und nehme es dann nach und nach aus der Luft wieder auf.
Wie bilanziert man da adäquat die Treibhausgase, erst recht bei den unterschiedlichen Eigenschaften der Baustoffe zu Dämmung und Wärmebindung? Gemündens Urteil fällt deutlich aus: „Die gängigen CO2- Bilanzen haben mit vernünftiger Berechnung und Ökologie rein gar nichts zu tun.“ Dasselbe gelte für viele Zertifizierungen: „Es gibt so viele Parameter, die dem Zertifizierer gar nicht klar sind, sodass man im Prinzip nur den Bau selbst berechnet.“ Das verfälsche das Ergebnis. Und, was Gemünden nicht sagt: Die Frage nach Falschanreizen und Greenwashing drängt sich auf. Sein Fazit: „Wir rechnen lieber selbst.“
Es gibt in Rheinhessen eine kaum überblickbare Fülle an Unternehmen und Unternehmensaktivitäten zur Nachhaltigkeit. Die genannten Beispiele stellen nur einen winzigen Ausschnitt dar. Und doch stehen sie beispielhaft für langfristiges Denken und Wirtschaften, für Hürden und für Chancen. Man muss gar nicht gleich den ganzen Planeten retten wollen, um beides zu erkennen
TORBEN SCHRÖDER, FREIER JOURNALIST

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