Unternehmertum ist Verantwortung

Kein weiteres veganes Leder, sondern eine echte Alternative

Nach einem Praktikum in der Modeindustrie beschließt Lucas Fuhrmann zusammen mit zwei Freunden, eine rein pflanzliche Lederalternative zu entwickeln. Mit dem innovativen Material „Lovr“ will das Trio nichts Geringeres, als die Textilindustrie zu revolutionieren.
Autorin: Jule Mott, 3. Februar 2022
Wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist nicht immer auch Nachhaltigkeit drin. Das hat Lucas Fuhrmann in der Praxis erlebt. „Im Rahmen meiner Bachelorarbeit habe ich ein Praktikum bei einem Modehersteller gemacht, der sich als grün und nachhaltig verkauft“, berichtet der 29-Jährige. „Beim Blick hinter die Kulissen wurde ich aber ziemlich enttäuscht. Was ich dort gesehen habe, hat mit Nachhaltigkeit, wie ich sie verstehe, nicht viel zu tun.“
Das war im Jahr 2015. Seitdem beschäftigt ihn die Frage, wie Textilien anders hergestellt werden könnten. Mit Materialwissenschaften hatte Lucas Fuhrmann erst mal nicht viel am Hut. „Ich habe VWL und Philosophie studiert“, erklärt er. „Aber das Thema hat mich nicht mehr losgelassen: Es muss doch andere Möglichkeiten geben, als immer wieder auf erdölbasierte Fasern oder wasser- und pestizidintensive Baumwolle zurückzugreifen.“

Agrarrohstoffe aus der Region

Er befasste sich schließlich mit der Idee, Textilien aus Agrarrohstoffen herzustellen. Die Lösungen, die in diesem Bereich bereits angeboten werden, überzeugen Lucas Fuhrmann allerdings nicht – im Gegenteil: „Hier wird bestehendes Kunstleder mit pflanzlichen Füllstoffen ergänzt, also beispielsweise erdölbasiertes Polyurethan mit Apfelresten. Das lässt sich unter dem Label ‚veganes Leder‘ gut verkaufen, ist aber eigentlich ziemlich starkes Greenwashing.“
Also beschloss Lucas Fuhrmann, ein eigenes Material zu entwickeln. Dafür holte er sich zwei Freunde mit ins Boot: Julian Mushövel, der sich während seines Maschinenbaustudiums schon mit Faserverbundwerkstoffen beschäftigte und sich mitten in der Promotion an der TU Darmstadt befand, und Montgomery Wagner, der nicht nur einen Abschluss in Politikwissenschaft mitbrachte, sondern auch kaufmännisches Know-how. „Wir sind seit der Schulzeit befreundet und haben zusammen Abi gemacht“, sagt Lucas Fuhrmann. „Während des Studiums hat es uns in verschiedene Ecken der Welt zerstreut, aber wir haben auf die Distanz gemeinsam an dem Thema gearbeitet. Dabei war uns schnell klar, dass wir die Idee unbedingt zu dritt voranbringen wollten.“
Auf der Suche nach einem geeigneten Rohstoff hatte das Trio zuerst Bananenfasern im Blick. „Montgomery war damals für ein Praktikum in Kolumbien“, erinnert sich Lucas Fuhrmann. „Er hat die Fasern besorgt, ich bin hingeflogen und habe den Export organisiert.“ Ganz zufrieden waren sie mit dem Rohstoff nicht. Das lag in erster Linie an der Beschaffung. „Corona hat gezeigt, wie wichtig es ist, Lieferketten kurz zu halten“, erläutert Lucas Fuhrmann. „Neben der Sicherheit der Lieferkette ist natürlich die CO2-Bilanz ausschlaggebend. Warum sollte man den Rohstoff woanders besorgen, wenn es auch regional geht?“
Agrarabfälle gibt es nämlich auch in Deutschland. Zum Beispiel beim Anbau von Hanf. Die Freunde nahmen Kontakt zu Landwirten in der Region auf. Nach anfangs eher verhaltenen Reaktionen konnten die drei ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Lieferanten ihres Rohmaterials aufbauen. Die Arbeit am Material nahm weiter Fahrt auf, und das Trio beschloss, dass es nicht bei einer Hobbytüftelei bleiben sollte. Im Herbst 2020 schien der Zeitpunkt gekommen: „Montgomery und ich waren beide in London, als es mit Corona losging, und wir haben uns dann entschieden, nach Deutschland zurückzukehren“, erzählt Lucas Fuhrmann. „Julian war zu dem Zeitpunkt etwas unglücklich mit der Promotion und wollte die Arbeit an unserem Material intensivieren. Es hat einfach bei uns allen dreien gepasst und wir haben uns gesagt, lasst es uns jetzt ernsthaft versuchen.“

Per Stipendium zum Start-up

Um sich den Start in die Selbstständigkeit zu ermöglichen, bewarben sie sich um das Gründerstipendium „Exist“, ein Förderprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Im Februar 2021 kam die Zusage und im März ging es richtig los: Die drei Freunde konnten sich Vollzeit ihrem Start-up widmen. Im Juni 2021 erfolgte schließlich die offizielle Gründung von Revoltech.
Neben einem Stipendium für den Lebensunterhalt der drei Gründer und Investitionsmitteln für die Forschung ist auch die Unterstützung durch einen universitären Fachbereich Bestandteil von Exist. Über die Promotion war Julian Mushövel bereits in Kontakt mit Professor Samuel Schabel. Der Leiter des Fachgebiets Papierfabrikation und Mechanische Verfahrenstechnik an der TU Darmstadt ist nun wissenschaftlicher Mentor von Revoltech. „Das Stipendium an sich ist wirklich cool“, freut sich Lucas Fuhrmann. „Aber fast noch wichtiger als das Geld ist das fachliche Know-how von Professor Schabel, das in die Tiefe geht. Da sind wir wirklich sehr dankbar. Zudem dürfen wir die Werkstätten und Labore der TU nutzen – ohne das wären wir längst nicht so weit.“
Und weit sind die Freunde tatsächlich gekommen: Ihr Material, das den Markennamen „Lovr“ trägt, wurde im Frühjahr 2021 zum Patent angemeldet. Lovr steht als Akronym für lederähnlich, ölfrei, vegan und reststoffbasiert, leitet sich aber auch aus dem Englischen „leftover“ ab, ein Hinweis auf die Verwertung von Abfallstoffen. „Es ist die weltweit erste Lederalternative, die zu 100 Prozent pflanzlich ist“, erläutert Lucas Fuhrmann. „Die herkömmlichen veganen Lederalternativen, die aktuell angeboten werden, bestehen aus verschiedenen Schichten: dem Trägergewebe, einem erdölbasierten Coating und einer Zwischenschicht, zum Beispiel aus Apfelfasern. Lovr hingegen ist ein homogenes Material ohne Schichten.“

Vom Labor in die Manufaktur

Ein neuartiges Textilmaterial zu entwickeln, ist das eine. Bleibt jedoch die Frage, wie gut es sich verarbeiten lässt. Um das herauszufinden, machte sich das Team auf die Suche nach einem Sparringspartner in der Region – und stieß auf die Ledermanufaktur Kreis aus Obertshausen nahe Offenbach. Den Hersteller hochwertiger Kleinlederwaren haben die Gründer in einem Warenkatalog entdeckt und sich gedacht, sie fragen einfach, ob sie nicht mal vorbeikommen können.
„Wir wurden mit offenen Armen empfangen“, bekräftigt Lucas Fuhrmann. „Die Familie Kreis merkt schließlich auch, dass vegane Alternativen in ihrem Bereich immer stärker nachgefragt werden, und fand unseren Ansatz sehr spannend. Von ihr bekommen wir nun regelmäßig Feedback, was uns ungemein hilft.“
Im Labor kann Revoltech bereits verschiedene Varianten seines Materials herstellen: Unterschiedliche Dicken, Prägungen, Farben und Oberflächenveredelungen sind möglich – allerdings nur in kleinen Mengen und Größen als Muster. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, Meterware produzieren zu können“, so Lucas Fuhrmann. Mitte 2022 soll es so weit sein.
Neben der Herausforderung der Skalierung nimmt eine Anfang November gestartete Finanzierungsrunde aktuell viel Zeit in Anspruch – wobei das Gründerteam hier viele positive Signale empfängt. „Investoren suchen eben auch etwas, das eine ernst zu nehmende Alternative ist“, freut sich Lucas Fuhrmann. Mag zusätzlich aber auch daran liegen, dass Revoltech 2021 unter anderem den Hessen-Ideen-Wettbewerb und den Hessischen Gründerpreis gewonnen hat, was für ordentlich Publicity sorgte. Deshalb macht sich das Team auch erst einmal keine Sorgen um mangelndes Kaufinteresse: „Wir erhalten jeden Tag Anfragen, die wir aktuell noch vertrösten müssen. Das ist ein bisschen bitter.“
Revoltech hat vorerst den Modebereich und Hersteller von Kleinlederwaren im Blick. Doch dabei soll es nicht bleiben. „In hoffentlich nicht allzu weiter Ferne sehen wir auch die Automobil- und die Möbelindustrie als Zielbranchen“, sagt Lucas Fuhrmann. „Wir denken durchaus groß. Wenn jemand an eine Lederalternative denkt, soll es unsere sein – nicht nur im Rhein-Main-Gebiet, sondern weltweit.“
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Ausgabe 1-2022 der „Wirtschaftsdialoge“. Mehr zu unserem Mitgliedermagazin erfahren Sie hier.
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Matthias Voigt
Matthias Voigt
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