Ein Gespräch über geschlechtergerechte Sprache

(08.07.2019) Geschlechtergerecht zu schreiben birgt einige Tücken. Orientierung bietet der Rat für deutsche Rechtschreibung mit Sitz am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Das zwischenstaatliche Gremium hat die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu wahren, die Schreibentwicklung zu beobachten und die Rechtschreibung in erforderlichem Umfang weiterzuentwickeln. Dr. Sabine Krome, die die Geschäftsstelle des Rates organisiert und leitet, kennt die Details.

von Beate Bößl, IHK 
Unser Editorial im ihk-magazin beginnt mit der Anrede „Liebe Leserin, lieber Leser“. Alternativ könnten wir auch schreiben: Liebe/r Leser/in, Liebe LeserIn, Liebe(r) Leser(in), Liebe Leser_innen oder  auch Liebe Leser*innen. Frau Dr. Krome, gibt es in der Vielfalt eine bessere oder eine schlechtere Lösung?
Aus Sicht des Rats für deutsche Rechtschreibung in jedem Fall! Die von Ihnen gewählte erste Anrede spricht beide Geschlechter gleichermaßen an, und zwar direkt und individuell. Durch die Nennung der femininen Form am Anfang fühlen sich die Leserinnen sogar vermutlich besonders gewürdigt. Die 1. Alternative (liebe/r Leser/in) ist schriftsprachlich möglich, wirkt aber unpersön­licher. Außerdem ist es schwierig, sie vorzulesen. Beides trifft auch auf die 3. Alternative (also die Klammer-Variante) zu, zudem ist nicht klar, ob die Substantive hier im Singular oder im Plural stehen sollen. Die 2. Alterna­tive (liebe LeserIn) geht gar nicht, sie ist weder grammatisch noch orthografisch korrekt. Das sog. Binnen-I ist zwar z. T. gebräuchlich (z. B. in Österreich), jedoch nicht offiziell zugelassen, da es – abgesehen von Werbetexten (BahnCard) – keine Großschreibung innerhalb eines Wortes gibt. Darüber hinaus ist das Binnen-I nur im Plural verwendbar (LeserInnen), da sonst das Adjektiv falsch dekliniert wäre.
Dass irgendwas an den Schreibungen nicht stimmen könnte, merkt man in der Tat meist dann, wenn man versucht, solche Anreden vorzulesen.
Schon bei der Diskussion über diese wenigen Formen wird deutlich, dass hier nicht nur orthogra­fische, sondern auch grammatische Fragen berührt sind. Die Orthografie ist amtlich normiert, die Grammatik nicht, dennoch gibt es auch dort Sprachnormen, die sich über lange Zeiträume hin entwickelt haben, die die deutsche Sprache bestimmen und die allgemein beachtet werden.
Die beiden letzten von Ihnen genannten Formen berühren denn auch noch einen weiteren Kontext.
...nämlich welchen? 
Während die gerade diskutierten Formen der Anrede sich auf die traditionelle Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau beziehen, also die männliche und/oder weibliche Form, erfordern, bezeichnen der Asterisk, das sog. „Gender-Sternchen“, und der Unterstrich eine inter- oder transsexuelle Geschlechtlichkeit, die über binäre Geschlechtsvorstel­lungen hinausgeht. Diese Anreden tragen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Oktober 2017 und dem Beschluss der Bundesregierung vom 15.08.2018 Rechnung, nach dem im Personenstandsregister neben „männlich“ und „weiblich“ auf eine Geschlechtsangabe verzichtet werden kann oder auch die Bezeichnung „divers“ eingetragen werden kann. Dies ist im Rahmen einer umfassenden Geschlechtergerechtigkeit zu begrüßen, es wirft aber über die oben dargestellten Punkte hinaus weitere Probleme in orthografischen, grammatischen und semantischen Konstellationen auf, etwa bei der Verwendung von Pronomen oder einer neu zu findenden Bezeichnung für ein drittes Geschlecht. Die neuen Kurzformen sind daher von der aktuellen amtlichen Regelung zur deutschen Rechtschreibung nicht gedeckt.
In redaktionellen Beiträgen vieler Medien – auch im ihk-magazin – wird einzig die männliche Form der Schreibweise genutzt. Begründet wird das mit einer besseren Lesbarkeit, es ist aber umstritten, weil Frauen damit sprachlich schon mal nicht in Führung sind. Ist die Schreibweise in Publikationen noch ein Thema, mit dem Sie sich befassen - oder gibt es längst andere, aktuellere?
Natürlich ist das ein Thema, mit dem sich der Rechtschreibrat befasst und befassen muss – das ist sein zentraler Auftrag! Der Rat beobachtet kontinuierlich den aktuellen Sprach- und Schreibgebrauch anhand von umfassenden, systematischen Analysen zu allen wichtigen Wörtern der deutschen Gegenwartssprache. Dabei ermitteln wir auf der Basis großer digitaler Textsammlungen von mehreren Milliarden Wortbelegen, sog. Textkorpora, die Schreibweisen in Texten verschiedenster Gruppen von Schreibenden und prüfen, ob sie mit den im Amtlichen Regelwerk zur deutschen Rechtschrei­bung festgelegten Regeln übereinstimmen oder nicht. Vor allem im letzten Jahr haben wir uns dabei auch sehr intensiv mit geschlechtergerechter Sprache auseinandergesetzt.
Allerdings gibt es ja die verschiedensten Arten von Publikationen, je nach Textsorten. So macht es beispielsweise einen grundlegenden Unterschied, ob ich einen beschreibenden Sachtext, etwa einen Artikel über das „schwarze Loch“, vor mir habe oder eine Stellenanzeige. In Ersterem spielt eher der fachspezifische Inhalt eine Rolle – also die neuen Forschungen über das schwarze Loch (wenn die von einer Wissenschaftlerin durchgeführt worden wären, würde das vermutlich extra erwähnt) –, in einer Stellenanzeige hingegen ist eine differenzierte Nennung der Geschlechter von elementarer Bedeu­tung, um niemanden bei einer Bewerbung zu diskriminieren. In Texten wie dem ihk-Magazin spielt vermutlich vor allem die gleichberechtigte Nennung von Führungspersonen im Verband und in verschiedenen Unternehmensstrukturen eine Rolle, also die Frage, ob von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kollegen/Kolleginnen, der oder dem Vorsitzenden oder von Vorständ*innen gespro­chen wird. Neben der ausschließlichen Fokussierung auf die männliche Form, was sicherlich auch heute noch häufig praktiziert wird, gibt es alternative Möglichkeiten: das Abwechseln zwischen männlicher und weiblicher Form oder auch geschlechtsübergreifende Formulierungen wie „Gäste“, „Personen“, „Mitglieder“. In vielen Fällen hat außerdem mittlerweile ein Umdenken stattgefunden: Statt wie früher Frauen in der männlichen Form einfach „mitzumeinen“ (Frau Professor x), heißt es zumindest im offiziellen Sprach- und Schreibgebrauch bereits Frau Professorin, Frau Bundesminis­terin, Frau Staatssekretärin. Ähnliche Entwicklungen gab es in den 70er Jahren mit der Tilgung des Begriffs Fräulein.
Viele Stellenanzeigen enthalten neben dem Zusatz männlich und weiblich auch den Zusatz divers. Eine Kollegin aus der Personalabteilung fragte, wie sich das in einem Text auflösen würde. Es gäbe die Auszubildende und den Auszubildenden, die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter  – aber wie würde es sprachlich für das dritte Geschlecht heißen? Wissen Sie Rat?
Eine „gute Frage“ – und sehr berechtigt –, sie wird uns im Rat sehr häufig gestellt. Leider gibt es dafür bisher keine Lösung, denn durch die für die Mehrgeschlechtlichkeit verwendeten Kurzformen, etwa das Gender-Sternchen, verändert sich die eingeführte Grammatik, und es müsste in der Tat eine neue Bezeichnung für über Frauen und Männer hinausgehende Geschlechtsidentitäten gefunden werden. Zudem gibt es ja auch nicht nur ein spezifisches drittes Geschlecht, sondern mehrere ver­schiedene Inter- und Trans-Geschlechtsidentitätsformen. Als gangbare Lösung bleibt zunächst nur, die oben angesprochenen Möglichkeiten der geschlechtsübergreifenden Formulierungen zu nutzen.
Es gibt viel Forschung dazu, wie Sprache die soziale Wirklichkeit beeinflusst. Aus Ihrer beruflichen Erfahrung heraus: Wie beeinflusst eine Aufmerksamkeit und ein Bewusstsein für die Ansprache das alltägliche Miteinander der Menschen?
Im Institut für Deutsche Sprache befinde ich mich in einem beruflichen Umfeld, in dem Sprache und Ansprache die zentrale Rolle spielen, die Leitung und Organisation der Geschäftsstelle des Recht­schreibrats erfordert eine enge Kooperation mit den Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der Arbeit des Rates und ihre kommunikative Vermittlung in die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Dabei geht es nicht nur um die wissenschaftliche Beschäftigung mit den verschiedenen Themen, sondern um ihre Umsetzung in die Praxis mit Hilfe sprachlichen und gesellschaftlichen Miteinanders. In dieser Vernetzung wird die Wechselwirkung von Sprache und sozialer Wirklichkeit in besonders starkem Maße wirksam.
Und hier wird auch sichtbar, dass es in den unterschiedlichen Kontexten und Konstellationen nicht nur um die gleichberechtigte Achtung von Männern, Frauen oder weiteren Geschlech­tern geht. Ein Bewusstsein für sprachlich angemessene Differenzierungen, die möglichst jedem Gegenüber individuell Rechnung tragen – in Bezug auf die andere Person, auf das gerade angespro­chene, vielleicht strittige Thema, auch die in der Sprache ausgedrückte Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Perspektiven –, ist dabei ein wichtiges Moment sowohl fachlicher wie menschlicher Wertschätzung, die für mich die Grundlage jeder Kommunikation und Zusammenarbeit sein sollte.
Weil es gerade stark zu beobachten ist: Was wird aus der Anrede „Sie“? Haben Sie auch das Gefühl, in fünf bis zehn Jahren gibt es nur noch Duzer?
Ja, leider, aber ich hoffe doch, dass es dazu nicht kommen wird. Denn mit der Gleichschaltung der Anreden in jeder möglichen beruflichen und privaten Konstellation gehen ebendiese sprachlichen und kommunikativen Differenzierungsmöglichkeiten verloren, die ich gerade erwähnt habe. Denn Anreden – und ein sprachlicher Habitus insgesamt – verwischen manchmal Unterschiede zwischen Nähe und einer Distanz, die gerade im beruflichen Alltag zu einer differenzierten Klärung von Situationen notwendig ist. Das wird auch sehr deutlich bei den Anfragen an die Sprachberatung, bei denen häufig die Form der Ansprache und der Inhalt korrespondieren. Natürlich sind Personen mit Deutsch als Muttersprache anders sozialisiert und kulturell geprägt als etwa die Menschen im angelsächsi­schen Raum, die ältere Generation wiederum anders als die jüngere, aber ich empfinde die Anrede „Sie“ in vielen Fällen – nicht in allen – als Möglichkeit, der oder dem anderen den Respekt und die Wertschätzung entgegenzubringen, den die Situation erfordert.
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