"Zu reden, wirkt entlastend", sagt die Psychologin Sarah Kiefer

von Dr. Beate Bößl, IHK (der Artikel erschien zuerst im ihk-magazin 4/2020, S. 18/19) 
Die aktuelle Krise bedeutet für viele Unternehmerinnen und Unternehmer eine immense emotionale Herausforderung. Wir sprachen darüber mit Sarah Kiefer, die als Psychologin (M. Sc.) beim Betriebsarztzentrum Osnabrück (BAZ) arbeitet. Das BAZ berät seit über 40 Jahren arbeitsmedizinisch Unternehmen und Institutionen und zählt rund 25 Fachärzte für Arbeitsmedizin und medizinische Fachangestellte.
Frau Kiefer, in unserer Krisenhotline hören wir, dass viele Unternehmen emotional am Limit sind. Sie sorgen um die Finanzen ebenso wie um die Mitarbeiter…
Grundsätzlich gehören Krisen zu unserem Leben dazu - jeder durchlebt irgendwann beispielsweise Trennung, Tod eines nahestehenden Menschen, berufliche (Neu-)Orientierung oder Einschränkungen durch Krankheit. In diesen Situationen können wir uns überfordert fühlen, weil die Strategien, die wir bislang genutzt haben, um schwierige Situationen zu bewältigen, nicht mehr
greifen. Wir wissen nicht mehr weiter. In der Corona-Krise zeigen sich dieselben Mechanismen.
Welche genau?
Wir bemerken, dass ein System, das bislang stabil funktioniert hat, aus den Fugen gerät. Gerade in Krisen setzen wir darauf, an bewährten Regeln oder Werten festzuhalten, um unseren Alltag so normal wie möglich weiterführen zu können. Das gibt uns Sicherheit und Stabilität. Der Umgang mit dem Coronavirus erfordert es aber nun, von genau diesen Werten und Normen abzurücken: uns nicht mehr zu treffen und in direktem Kontakt auszutauschen und vielleicht Beistand zu leisten, Zuversicht zu finden.
Was macht die Corona-Krise aus psychologischer Sicht besonders?
Dass sie unser Selbstverständnis erschüttern – manche Seiten von uns oder Freunden und Partnern, kennen wir so gar nicht – und auch unser Weltverständnis, uns frei bewegen zu können und sicher versorgt zu sein. Kurzum: die Situation überfordert uns schon allein durch ihr gesundheitliches Gefahrpotenzial, verlangt uns aber im Vergleich zu anderen Krisen noch den paradoxen gedanklichen und Verhaltensschritt ab, uns voneinander zu distanzieren statt zusammen zu rücken.
Gibt es mit Blick auf Unternehmerinnen und Unternehmer Besonderheiten?
Ja, denn für sie kann dies sicherlich zusätzlich belastend sein, da sie Verantwortung tragen für sich, die Kunden und die Mitarbeitenden. Im Umgang mit der Krise können sie also nicht auf sich fokussieren, sondern müssen all diese Parteien berücksichtigen.
Wenn Sie Ihr Fachwissen spiegeln an den aktuellen Ereignissen in der Wirtschaft, was ist das Lehrbuchkapitel, das Ihnen als erstes einfällt?
Spontan fällt mir kein konkretes Kapitel oder Titel ein, aber was mir schon im Studium sehr präsent geblieben ist, ist die Erkenntnis, dass es eigentlich keine einheitlichen Konzepte dazu gibt, wie Krise sich definiert. Daraus folgend gibt es auch nicht „die“ standardmäßige Vorgehensweise, mit einer Krise umzugehen. Trotzdem gibt es einige Phasen und Bedürfnisse, die immer wieder zu beobachten sind.
Haben Sie ein Beispiel?
Solange die großen Rahmenbedingungen stehen, weiß die Wirtschaft um die Stellschrauben, an denen sie drehen muss, um mit steigenden oder sinkenden Nachfragen umzugehen, wann konjunkturelle Hilfen notwendig sind, wie man Mitarbeitende gewinnt und hält, welche Pläne am Ende des einen für das kommende Jahr zu stehen haben, um Arbeitsprozesse am Laufen zu halten. In der derzeitigen Krise fallen diese Rahmenbedingungen, wie schon erwähnt, weg. Das Geschehen wird immer unüberschaubarer und komplexer und ist dazu noch sehr dynamisch – nahezu täglich sehen wir uns neuen Gegebenheiten gegenüber.
...das bedeutet, übertragen auf  für Einzelpersonen...
...die Ereignisse in der Wirtschaft entsprechen dem, wie auch Einzelpersonen reagieren: es besteht zuerst der Wunsch nach Entlastung, Beistand und Austausch. Das kann im Hinblick auf die Wirtschaft die Zusage der Politik sein, viel Geld für Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen, für die Großeltern der tägliche Anruf der Kinder und Enkelkinder. Dann gibt es das Bedürfnis nach Begleitung und Kontinuität, dass die angebotene Unterstützung also nicht begrenzt ist. Erst wenn diese grundlegenden Dinge abgedeckt sind, kommt das Bedürfnis nach Informationen und Handlungsanleitungen.
Wie erleben Sie das selbst?
Von vielen Unternehmen, aber auch Kollegen und im privaten Umfeld habe ich in den vergangenen Wochen häufig den Wunsch nach einer „klaren Ansage von oben“ gehört. Die Struktur, die verlorengegangen ist, möchten wir als Individuum wie auch in der Wirtschaft ersetzt wissen, damit wir das Gefühl von Handlungsfähigkeit wieder erlangen. Klare Verhaltensregeln zu erlassen, sind also ein guter Weg, um eine grundlegende Stabilität herzustellen. Was in der Corona-Krise aber derzeit noch fehlt, ist eine klare Perspektive, wie und wann diese Krise überwunden sein kann. Diese Ungewissheit erschwert den Umgang damit zusätzlich. 
Der Begriff Resilienz - also die psychische Widerstandskraft – hatte sich in der Sachbuch-Literatur in jüngster Zeit zu einer Art Modevokabel entwickelt. Jetzt könnte sich der Begriff beweisen, oder?
Definitiv. Resilienz beschreibt ja die Fähigkeit von Personen, aber auch von Systemen wie Familien oder Unternehmen, sich trotz schwieriger Bedingungen oder widriger Umstände gut/positiv entwickeln zu können. In diesem Zusammenhang ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich bei Resilienz nicht um eine angeborene Superkraft handelt, die Schwierigkeiten einfach abprallen lässt. Resiliente Menschen haben vielmehr im Verlauf ihrer Entwicklung „gelernt“, Situationen anders zu bewerten, Unterstützungsquellen in den Blick zu nehmen und darauf zurückzugreifen und vor allen Dingen, dass sie selbst Einfluss nehmen können.
Das kann helfen, oder?
In der Krisenintervention schauen wir mit den Klienten oft auf genau diese Ressourcen: Wer oder was war für Sie in einer ähnlichen, belastenden Situation schon einmal hilfreich für Sie? Was hat Ihnen damals gut getan? Wie können Sie diese Erfahrungen vielleicht jetzt nutzen? Die Antworten sind ganz individuell und reichen etwa vom guten Gespräch mit der besten Freundin über Spaziergänge in der Natur über die Beschäftigung mit dem Haustier bis hin zu kreativen Aktivitäten wie malen oder Musik machen oder auch die Inanspruchnahme von professioneller Beratung und Therapie. Manchmal fällt es den Klienten schwer, diese Ressourcen zu erkennen. Letztlich lassen sich aber bei jedem Menschen solche Ressourcen finden, die man nutzen kann, um mit der gegenwärtigen Situation ein stückweit besser umgehen zu können.
Kann diese Krise helfen, die Resilienz zu verbessern?
Sie kann bei all den Schwierigkeiten und Sorgen, die sie mit sich bringt, genau das tun. Und zwar durch die Erfahrung von Unterstützung und solidarischem Verhalten durch Familie, Nachbarschaftshilfe, den Arbeitgeber, durch vielleicht unkonventionelle Lösungen im Hinblick auf Arbeitsformen – selbst die G7 treffen sich per Video - oder Kinderbetreuung, durch Austausch mit Menschen, denen die positivere Sichtweise vielleicht schon etwas besser gelingt als uns selbst.
Die Krise bestimmt die Nachrichten, das Arbeitsleben, das Privatleben, das Weltgeschehen – einfach alles. Welchen psychologischen Filter sollten wir aktivieren, damit uns in all dem Unabsehbaren das Glück nicht abhandenkommt?
Aus psychologischer Sicht stünde hier an erster Stelle, sozusagen „den Kopf wieder frei zu bekommen“, bevor wir uns auf andere Dinge besinnen. Es klingt so banal, aber sprechen wir mit der Familie, dem Partner oder Freunden oder auch mit einer Beratungsstelle offen über unsere Gedanken und Gefühle in Bezug auf die Situation, wirkt das deutlich entlastend. Und dann – da haben Sie Recht – sollten wir unseren Blick auch auf andere Dinge richten. Wir Psychologen nennen das z.B. Reframing, also eine Situation in einem anderen Rahmen oder Kontext betrachten: die Kinder – neben dem Job-  zu Hause zu betreuen ist eine Herausforderung schenkt einem aber auch mehr gemeinsam verbrachte Lebenszeit, die sonst im durch Termine getakteten Alltag zu kurz kommt. Dass wir Verwandte und Freunde nicht besuchen können, können wir zum Anlass nehmen, mal wieder in Ruhe einen Brief zu schreiben. So gesehen würde man also, ganz im Sinne resilienten Verhaltens, den Blick auf das Glück im Unglück richten.
Was lässt sich noch tun?
Weiterhin ist es hilfreich, die fehlende äußere Struktur zumindest für sich selbst oder die eigene Familie ersatzweise wieder herzustellen: Ein geregelter Tagesablauf mit festen Zeiten für das Aufstehen, Frühstücken und die Zeiten für Arbeit oder Schulaufgaben kann dabei helfen und beugt zudem Konflikten vor, wer wann was machen kann und darf. Einen täglichen Spaziergang oder eine Joggingrunde als Ritual in den Tag einzubauen kann ebenfalls helfen, Struktur zu schaffen und wirkt gleichzeitig durch die Bewegung an der frischen Luft stressabbauend.
Was kann man tun, wenn einem die unausweichliche Präsenz des Themas Corona schlicht zu viel wird?
Hier bietet es sich an, bewusst Auszeiten zu nehmen und statt des Brennpunktes eine DVD zu schauen, einen Roman zu lesen, ein Gesellschaftsspiel herauszuholen oder die Lieblingsserie weiterzuverfolgen. Wir sollten uns bewusst Pausen von dem Thema erlauben, in denen wir etwas Schönes für uns machen. Eine Absprache darüber, dass das Thema Corona nicht Inhalt der Gespräche bei Mahlzeiten oder nach 20 Uhr sein soll, kann ebenfalls eine Möglichkeit sein, sich diese Freiräume zu verschaffen. Letztlich ist es egal, womit wir diese Auszeit füllen, nur etwas Positives sollte es sein, also nicht unbedingt der Hausputz oder die Steuererklärung.
Mitten in der Krise sind Menschen berührt von unternehmerischer Solidarität und Kreativität. Können wir schon jetzt etwas tun, damit uns das Glück, das wir dabei empfinden, auch später nicht mehr abhandenkommt? Sollten wir uns vielleicht ein „Best-of“ gelingender Krisenerfahrungen notieren?
Das ist eine schöne und wichtige Idee. Je besser man eine durchlebte Krise „nachbereitet“ umso besser ist man für die nächste gerüstet. So eine innere „Best-of“-Liste zu erstellen ist sicherlich für jeden allein schon hilfreich und kann zu einer positiveren Sicht auf die Dinge beitragen.
Wie könnte das im unternehmerischen Kontext umgesetzt werden? 
Im Unternehmenskontext könnte ich mir gut vorstellen, dass diese Fragestellung jetzt wie auch nach der Krise gut in Meetings, Teambesprechungen, Betriebsversammlungen oder kurzen Orientierungsworkshops aufgegriffen werden kann. Wir können uns schon jetzt mit anderen über unsere Erfahrungen austauschen und darüber, was uns froh und zuversichtlich sein lässt. Und auch später sollten wir uns Zeit für eine Rückschau nehmen: Wie konnte ich oder konnten wir als Unternehmen diese schwierigen Erfahrungen integrieren? Was kann ich für mich und mein Leben, mein Unternehmen mitnehmen? War die Krise vielleicht sogar für etwas gut? Das partizipative Vorgehen wird vielen Mitarbeitenden oder Führungskräften die Rückkehr in den Arbeitsalltag erleichtern, bringt Wertschätzung für jeden einzelnen mit sich und stärkt das Gemeinschaftsgefühl, das wir – und da sind wir wieder beim Anfang des Gespräches – gerade in dieser Krise besonders brauchen.