Wer stahl die goldene Taube am Osnabrücker Rathaus?
Zum “Tag der Niedersachsen” in Osnabrück schenken wir Ihnen eine Kurzgeschichte! Geeignet z.B. für die Vorfreude auf der Hinfahrt. Ebenso wie für einen friedlichen Lese-Abschluss auf der Rückreise. Unser Tipp: Den schweren Friedenstauben-Türgriff & den lateinischen Vers über der Tür zum Friedenssaal sollten Sie sich einmal im Original ansehen. Und wenn Sie mehr über die Wirtschaft in Osnabrück und der Region erfahren möchten: Auf unseren IHK-Seiten sind Sie genau richtig.
Mit dem Text gewann unsere IHK-Mitarbeiterin Dr. Beate Bößl im EM-Jahr 2012 den Wettbewerb der Schreibwerkstatt “Tatort Rathaus” zum 500-jährigen Rathaus-Jubiläum. Der Inhalt ist zeitlos. Aber statt eines Oberbürgermeisters hat die Stadt Osnabrück seit 2021 eine Oberbürgermeisterin.
"Fixoflexo war sie ab": Zum Glück nur in unserer Kurzgeschichte, in der die hübsche Friedensklinke eine zentrale Rolle spielt.
„Tandem absolutum est“
Da lag sie nun also. Glänzend und schwer. Er war sonst gar nicht so, aber bei diesem Anblick fühlte er sich, als müsse er aufräumen. Und zwar ohne, dass seine Eltern sich angekündigt hätten. Er pustete Chips-Krümel vom verlorenen EM-Finale vom Couchtisch und stellte zwei, drei leere Bierflaschen auf den Boden. Aus allem, was da sonst noch so lag, machte er einen großen Stapel. Dann tat er, was er sonst nur tat, wenn Frauen zu Besuch waren. Er machte den Dreistrahler aus und dimmte den Deckenfluter an. Das Licht hatte nun etwas Magisches. Er fand, der Raum wirke fast, als stünde ein Altar in der Mitte. Er flüsterte sogar, als er zu sich selbst sagte: „Boah! Ist das cool!“ – Dass er einmal den Türgriff vom Osnabrücker Rathaus auf seinem Wohnzimmertisch liegen haben würde? Mit gleicher Wahrscheinlichkeit könnte dort jetzt der Oberbürgermeister sitzen. Aber auch der wohl kaum um diese Zeit, denn es war kurz nach 4 Uhr in der Früh und das, was ihm da eben passiert war, darüber war er sich selbst noch nicht im Klaren.
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Er hatte in der Altstadt gefeiert und war auf dem Heimweg am Rathaus vorbeigekommen. Es war im Grunde nichts Besonderes, dass dort an der Steintreppe am Haupteingang etwas los war. Dass dort aber in der Morgendämmerung eine große Gruppe stand, die, soweit er es erkennen konnte, lustig aussah, aber totenstill war, das war seltsam. Er schaute von der Stadtbücherei aus rüber zum Rathaus, als ich von jetzt auf gleich ein kurzes, sehr lautes Palaver entfachte. Es dauerte 15 Sekunden, vielleicht 20. Dann war Stille… - bevor sich der Spuk wiederholte.
Für ihn hatte es sich angefühlt, als wären 23 rasante La Ola-Wellen an ihm vorbeigerauscht. Und es sirrte so komisch metallisch hinter all dem Stimmengewirr. Ein drittes, besonders kurzes Mal, begann die Gruppe zu grölen, als von der Seite des Osnabrücker Doms her ein Streifenwagen nahte. Relativ langsam und ohne Blaulicht. Direkt danach machten einige Männer aus der Gruppe beschwichtigende Armbewegungen in Richtung der Polizei.
Er selbst, könnte man sagen, stand zu diesem Zeitpunkt logistisch günstig. Die Menschentrauben nämlich löste sich auf und zerstob treppabwärts in verschiedene Richtungen. Ein junger Mann, er trug ein „Mit 30 ist alles vorbei!“-Shirt, starrte ihn kurz an, drückte ihm den Westfälischen Frieden in die Hände und sagte so bestimmend wie ein Bankräuber-Boss: „Mitnehmen! Wegrennen!“
Er tat genau das. Ohne zu wissen, warum eigentlich. Sein erster Gedanke war: „Irre, dass man die so fixoflexo abbekommen kann!“ Aber dann war er auch schon durch die Gässchen der Altstadt zu seiner Wohnung geeilt, die nur einen Spuckweit entfernt lag. Zu Hause hatte er sich erschöpft an der Tür hinunterrutschen lassen, denn das, was man ihm da überreicht hatte, war mächtig schwer. Doch nun? Nun war Stille. Nun war Nacht. Nun war ihm, als sei er im Besitz der Kronjuwelen.
Gegen 10 Uhr weckte ihn das Geläut der Kirchenglocken. Er stand auf, schaute ins Wohnzimmer und, ja, sie lag immer noch dort. Er fand es angemessen, ein wenig Klassik für die Klinke aufzulegen, kramte in seinen CDs. Gut möglich, er hätte sich für „Ein bisschen Frieden“ entschieden. Wenn er das Lied vorrätig gehabt hätte. Mit einem Kaffee setzte er sich auf sein Sofa.
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In der Wohnung unter ihm machte sich zur selben Zeit Ilse einen Kaffee. Sie mochte den jungen Mann nicht sonderlich, der da vor Kurzem in die Wohnung über ihr gezogen war. Nicht nur, dass er betont laut und langsam sprach, als er sich zwischen Tür und Angel bei ihr vorgestellt hatte. Vor allem hatte er zu ihr gesagt, er mache „etwas mit Reklame, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Nur weil sie über 75 war, hieß das noch lange nicht, sie könne das Wort Werbung nicht verstehen. „Dämlicher Kreativkasper!“, hatte sie gedacht und seither alles Mögliche mitbekommen, was da oben in der Wohnung so ablief. Dass dort oft die Stones liefen, war ja noch ganz erträglich. Der Mick, der Jagger, der war ja immerhin fast ihr Alter. Aber Vivaldi? Am Vormittag? - Da stimmte doch etwas nicht!
Sie wollte schon lange wissen, wie der junge Mann wohl wohnte, ob er keine Teppiche hatte, wie sie vermutete. Und Zimmerpflanzen, die sich rauchen lassen. Heute schien ein perfekter Tag, nach dem Rechten zu sehen. Außerdem hatte sie sich längst überlegt, wie sie vorgehen würde. Sie dachte da an den „Enkeltrick“. Nur irgendwie umgekehrt.
Sie ging also aus ihrer Wohnung und die 20 Stufen nach oben. Es war jetzt gegen 11 Uhr. Sie klingelte. Es dauerte nicht lange, da stand ein verschlafener junger Mann vor ihr, von dem sie nur wusste, dass er Frank Müller hieß. Das hatte er ihr gesagt. Und das stand auch auf seinem Klingelschild. Wahrscheinlich spräche er sich aber nicht Frank aus, sondern ganz modern Fränki. Oder Fränk. Immerhin machte er Reklame. Sie sagte: „Herr Fränk. Herr Fränk! Mein Enkel! Mein Enkel!“ Eigentlich kam nun der Moment, indem Zahlungen fällig wurden, damit die Polizei nicht zu einem erfundenen Unfallort ausrücken musste. Aber Ilse hatte den Trick ja abgewandelt, sagte weinerlich: „Herr Fränk! Mein Enkel zerkratzt im Garten ein Fahrrad! Ich glaube das ist Ihres!“
Herr Fränk war mit einem Mal hellwach! Außerdem war er ganz rot im Gesicht und Ilse meinte, er würde schnaufen. Aber da war sie sich nicht ganz sicher, denn ehe sie sich versah, rannte er die Treppe herunter - und sie selbst hatte Zeit sich, wenn auch nur kurz, in der Wohnung umzuschauen.
Chic hatte er es. Und etwas chaotisch. Das Schönste, das Wundervollste aber, es lag mitten auf seinem Wohnzimmertisch: Die kleine, leicht arrogant dreinblickende Messing-Taube mit dem großen FRIEDE 1648 darunter. Ilse war in den Türgriff von Fritz Szalinski verliebt, seit er 1963 angebracht worden war. Sie hob den Griff kurz an – und: „Puh!“ Zum Direktexport war er ihr deutlich zu schwer. Sie musste das anders anstellen. Sie ging zurück zur Tür. Der junge Mann eilte just nach oben, sagte: „Also da war niemand, Frau Hensel!“ – „Na, da bin ich aber beruhigt!“, antwortete sie.
Als Frank wieder in seine Wohnung kam, meinte er, der der Türgriff hätte zuvor etwas weiter links auf dem Tisch gelegen. Als Ilse wieder in ihre Wohnung kam, meinte sie, es sei an der Zeit, sich Wünsche zu erfüllen, die mit Geld nicht zu kaufen sind. Die Messingtaube? Die gehörte ein Stockwerk tiefer. Zu ihr! Um auf Nummer sicher zu gehen, das Original gesehen zu haben, ging sie zunächst zum Rathaus hinüber. Dort standen ein Kamerateam und Schaulustige – und, ohne Frage: Es fehlte etwas!
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Schon wenig später rauschte es gewaltig im Blätterwald. Die Medien berichteten von Metalldieben und Kulturbanausen, vom „Täubchen aus dem Metropölchen“ und aus dem Spruch “Zum Glück aus Osnabrück!” wurde ein “Ist weg aus Osnabrück!” Im Internet wurden für die Diebe mittelalterliche Folterstrafen gefordert, während sich die Fraktionen gegenseitig beschuldigten und die Kaufmannschaft hinter vorgehaltener Hand kryptisch die Buchstaben T + L nannte. Ein Historiker sagte: „Münster! Oder Hanseatenneid!“
Aufmerksamkeit erregte die Polizei, die mitteilte, in der Nacht des Diebstahls habe eine Partygruppe vor dem Rathaus herumgeturnt. Die sei aber artig weg, als sie kamen. Ob die Klinke da noch dran war? Danach habe man nicht geschaut. „Auf was sollen die Kollegen denn noch alles achten? Ob auch die Fenster geputzt?“, fragte ein Polizeisprecher unwirsch im Interview mit dem Lokalsender.
Ilse wusste derweil längst, was zu tun war. Sie klingelte erneut bei Fränk und sagte leicht übertrieben: „Herr Fränk, ich weiß alles! Geben Sie auf!“ Fränk wurde blass. Dann bat er sie herein. Er versuchte zu diskutieren. Aber als Ilse sagte, sie hätte den 30-jährigen Krieg bereits mit ihrem Mann ausgetragen und sie gedenke auch diesen nicht zu verlieren, da sagte Frank kleinlaut: „Okay“. Er drehte ohnehin am Rad, seit er das Tohuwabohu da draußen verfolgte. Er sagte zu Ilse, wenn es sein müsse, dann wird er ihr den Türgriff „ähm,… äh… - also einfach mal leihen“. Und, einverstanden, er würde sich in seiner Reklameagentur dafür einsetzen, dass Ilse sich ein nachgebautes Exemplar würde kaufen können – „…im Tourismusamt. Oder so“. Ilse war einverstanden. Fränk trug das Täubchen eine Etage tiefer. Im Gegenzug versprach Ilse ihm, zu schweigen wie ein Grab.
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Zwei Monate später war es so weit. Franks Agentur hatte einen Prototyp des Türgriffs in Serie geschickt! Die Nachfrage ließ erahnen, wie groß der Bedarf nach einem Stück vom Friedenstäubchen-Klinken-Glück war. Ilse wusste nun, es war an der Zeit, Abschied zu nehmen. Sie rief die 110 an und tat, was in ihrem Alter erwartet wurde. Sie gab sich tüddelig und schrullig und krächzte: „Vor unserem Haus lag heute der dicke goldene Vogel!“ Einige Herren von der Stadt und von der Polizei kamen vorbei. Und sie sahen gleich, dass diese kleine Dame diese massive Klinke kaum weiter als vom Postkasten bis in ihre Wohnung hatte tragen könnte. Geschweige denn: abflexen. Vor allem aber sahen sie, dass der Türgriff das Original war.
Der Zeitpunkt der Rückgabe war perfekt. Die „herzige Geschichte einer findigen Seniorin“, wie die örtliche Tageszeitung titelte, wurde in die Feiern zum 500-jährigen Rathaus-Jubiläum eingebunden. Für Ilse gab es Blumen und einen kleinen Empfang im Friedenssaal. (Links neben ihr saß beim Empfang übrigens Fränk. Denn sie hatte zu den freundlichen Leuten von der Stadt gesagt, sie sei in einem Alter, da bräuchte sie wen, der sie begleite.)
Die Feierstunde gefiel ihr! Die geklonten Schnurrbart-Gesandten auf den Ölbildern um sie herum schauten drein, als wünschten sie sich auch dringend mal einen Tapetenwechsel! Und überhaupt gab es noch vieles mehr, das sie sich gerne einmal würde ausleihen wollen! Die Bürgermeisterkette zum Beispiel. Oder die anderen tollen Glitzerdinge aus der Schatzkammer. Genau als sie das dachte, nickte Fränk ihr zu, als könne er Gedanken lesen. Ilse überlegte dass Harold & Maude ein guter Name wäre, um als kriminelles Duo durchzustarten. Viel reizender noch, als Bonnie & Clyde.
Als sie das Rathaus verließen, hakte sie sich bei Fränk unter. Und dann, dann knuffte sie ihn am Arm, bat ihn, er möge sich kurz umdrehen. Sie las ihm die letzten drei Worte vor, die da von außen oberhalb des Friedenssaals geschrieben standen: „Tandem absolutum est!“ – „Das heißt: Zu zweit geht alles besser!“, sagte Fränk, ohne zu zögern - und zwinkerte ihr zu. Ilse ging das Herz auf, denn schließlich hätte er genauso gut sagen können: „Wussten Sie denn gar nicht, dass Osnabrück schon immer eine Fahrradregion war, Frau Hensel!?“ – „Oh ja“, dachte sie, „gemeinsam können wir es noch weit bringen!“