Berufliche Bildung muss begeistern

Das Wichtigste vorweg: Die duale Berufsausbildung ist attraktiv. Junge Berufstätige sind insgesamt mit ihrer Ausbildung zufrieden. 80 % würden sich wieder für ihren Ausbildungsberuf entscheiden. Dennoch erschweren rückläufige Bewerberzahlen die Besetzung von Ausbildungsplätzen. In der Corona-Krise verschärfte sich das Problem. Unter anderem, weil direkte Ansprachen bei Schulbesuchen und Messen nicht möglich waren. Deshalb widmen wir uns hier der Frage, welche Perspektiven sich der beruflichen Bildung bieten.
Dass die meisten jungen Berufstätigen mit ihrer Ausbildung zufrieden sind, ist das Ergebnis der Zufriedenheitsumfrage der IHK Niedersachsen aus dem Herbst 2021. Knapp 1200 niedersächsische Auszubildende beteiligten sich daran, 280 davon aus unserer Region. Über 75 % absolvieren eine Ausbildung im Wunschberuf bzw. einer interessanten Alternative. Im Durchschnitt vergeben die jungen Berufstätigen die Note 2,5 für ihre Ausbildung. Die Zufriedenheitswerte sind trotz Pandemie und den damit verbundenen Herausforderungen für Azubis und Ausbildungsbetriebe auf dem Niveau von 2018, als die Umfrage in ähnlichem Umfang durchgeführt wurde.
 
Die IHKN-Umfrage zeigt weiterhin: Bei der Berufsorientierung und der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind Familie und Freunde immer noch die ersten Ansprechpartner (59 %). Gefragt nach den entscheidendsten Berufswahlkriterien wünschen sich 30 %, dass der Beruf Sicherheit bietet. Weitere Top-Forderungen der Azubis sind Spaß am Beruf (68 %), gute Zukunftsperspektiven (59 %) und, dass der Beruf den Neigungen entspricht (49 %).
 
„Die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen ist unverändert hoch. Für die regionalen Unternehmen bleibt es aber eine große Herausforderung, ihren Fachkräftenachwuchs über die Ausbildung zu sichern. Gründe sind die demografische Entwicklung sowie der anhaltende Trend zur höheren Schulbildung und zum Studium“, erläutert Juliane Hünefeld-Linkermann, IHK-Geschäftsbereichsleiterin Aus- und Weiterbildung. So konnten in Niedersachsen im Vorjahr 17 % der angebotenen Ausbildungsplätze nicht besetzt werden. In der Region konnte zum Start des Ausbildungsjahres 2021/2022 jeder unversorgte Jugendliche noch aus über vier offenen Ausbildungsplatzangeboten wählen. Diese Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren verstärkt fortsetzen.
 
Wie sich die Attraktivität der beruflichen Bildung steigern lässt, das stand daher auch im Fokus des „Osnabrücker Bildungssymposiums“, zu dem kürzlich unsere IHK und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) in Berlin in Kooperation mit der Universität Osnabrück eingeladen hatten. Die thematischen Schwerpunkte waren angelehnt an das Arbeitsfeld der Stiftungsprofessur „Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Strukturfragen Beruflicher Bildung“ an der Universität Osnabrück, die seit September 2017 durch Prof. Dr. Dietmar Frommberger verantwortet wird. Stifter dieser bundesweit einmaligen Professur sind der DIHK und die DIHK-Bildungs-gGmbH. Ziel des einmalig stattfindenden Symposiums war es, die Arbeitsergebnisse der Professur vorzustellen und in den Austausch mit der Wirtschaft zu treten. Dadurch, dass die Stiftungsprofessur in Osnabrück angesiedelt ist, bot sich regionalen Unternehmen die Chance, ihre Best practice-Beispiele im Livestream einer bundesweiten Zuhörerschaft von rund 200 Teilnehmenden aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vorzustellen. Dabei standen vier aktuelle Entwicklungen im Fokus, die die Berufsbildung maßgeblich beeinflussen:
 
1. Digitale Transformation:
Die Digitalisierung ist längst kein Thema für IT-Spezialisten mehr, sondern zeigt seine Dynamik auch im Arbeitsalltag und der betrieblichen Ausbildung. Dass nicht nur einzelne Ausbildungsberufe digitaler werden, sondern so gut wie alle, verdeutlichte Michael Hyllan, Senior Director Corporate HR Strategy & HR Functions bei der Claas KgaA in Harsewinkel. Beim Landmaschinenhersteller wird nicht nur die Digitalisierung in eigenen Schulungen und Veranstaltungen in einen Bezug zu Unternehmensentwicklungen gesetzt. Auch Infos zum Design Thinking, Lean Office bzw. Lean Production oder Scrum, einem Modell des Projektmanagements, sind integraler Bestandteil jeder Berufsausbildung. Die größte Herausforderung sei es, so sagte Hyllan, das abstrakte Thema Digitalisierung für jeden Mitarbeiter greifbar und verständlich zu machen. Instrumente, die dazu genutzt werden, sind u.a. Lernplattformen und eigens entwickelte E-Learning-Einheiten.

Das Video inkl. Vortrag von Prof. Dr. Lars Windelband, Pädagogische HS Schwäbisch Gmünd, zu „Berufsbildung und Digitale Transformation“ (ab Min. 54): https://bit.ly/3JaUDHG 

2. Internationalisierung:
Auslandspraktika oder die Zusatzqualifikation zu „Europakaufleuten“ – im Jahr 2022 gibt es viele Möglichkeiten, eine Berufsausbildung internationaler und damit für Auszubildende attraktiver zu machen. Neue Wege geht hier die Refratechnik Holding mit Sitz in München, deren Refratechnik Ceramics GmbH in Melle zu Hause ist und dort mit 280 Mitarbeitern – davon 18 Auszubildenden – feuerfeste Produkte und Systeme für die Keramik- und Ziegelindustrie herstellt. Die Unternehmensgruppe ist weltweit präsent. „Unser Geschäftsmodell und unsere Konzernstruktur lässt uns keine andere Wahl, als anderen Sprachen und Kulturen offen gegenüber zu treten. Unsere Auszubildenden lernen schon sehr früh, sich in diesem Umfeld behaupten zu müssen. Wir hatten das Glück, schon viele junge Menschen bei ihrer Entwicklung zu selbstständigen und weltoffenen Menschen begleiten zu dürfen“, sagte Markus Bosse, Prokurist der Refratechnik Ceramics GmbH. Künftig werde die Internationalisierung einen immer größeren Anteil in den verschiedenen Ausbildungsberufen einnehmen. Neue Wege schlug Refratechnik in Bezug auf die Fachkräfteentwicklung in China ein. Zum einen entwickelte die Göttinger Refratechnik zusammen mit einer Unternehmensberatung ein Ausbildungskonzept für die Refratechnik Asia in Dalian, China. Dabei lernen die Auszubildenden zunächst ein Jahr lang in Dalian Deutsch, bevor sie eine dreijährige Berufsausbildung in Deutschland absolvieren. Eines der Ziele: junge Menschen früh dafür zu begeistern, später für die Refratechnik Asia in China tätig zu sein. „Dabei ist es eine Herausforderung, die Absolventen zu einer Rückkehr nach China zu bewegen“, berichtete Bosse aus den bisherigen Erfahrungen. Zum anderen wurde 2021 von der Refratechnik Asia in Yankou, China, gemeinsam mit dem China-Deutschland-Institut des Shenyang Polytechnic College ein neues „Education Program“ entwickelt. Hierbei sollen direkt am College-Campus Talente angesprochen werden, die für eine Ausbildung nach dem Vorbild der dualen Ausbildung in Deutschland gewonnen werden sollen.

Das Video inkl. Vortrag von Fabienne-Agnes Baumann und Janis Vossiek, Universität Osnabrück, zu „Ansätze und Erfahrungen dualer Berufsausbildung weltweit“ (ab Min. 6): https://bit.ly/3x57WY4 

3. Durchlässigkeit:
Das Thema Durchlässigkeit spricht die Übergänge zwischen schulischer, beruflicher und akademischer Bildung an. Klaus Mensing, Leiter Recht und Personal bei der emco Group in Lingen, machte an konkreten Beispielen aus dem Unternehmen deutlich, wie das Zusammenspiel der verschiedenen Bildungswege zu Karrieren beitragen kann. „Als produzierendes Unternehmen sind wir auf gut funktionierende Durchlässigkeit angewiesen, um heute und in Zukunft unseren Bedarf an Fachkräften adäquat decken zu können“, so Mensing. Durchlässigkeit könne aber nur funktionieren, wenn das Wissen über berufliche Möglichkeiten und Arbeitswirklichkeit sowohl im schulischen als auch akademischen Bildungssystem fest verankert ist und Lehrende und Lernende darauf zurückgreifen können. „Wir selbst sind gefordert, unsere Arbeitswirklichkeit und die damit einhergehenden beruflichen Möglichkeiten für Außenstehende, insbesondere für Schüler am Übergang zum Berufsleben, erlebbar zu machen“, erläuterte Mensing. In dem mittelständischen Unternehmen hätten eine Vielzahl erfolgreicher Karrieren mit einer Berufsausbildung und nicht mit einem akademischen Abschluss begonnen. Das belege, dass Durchlässigkeit bei der emco Group tatsächlich funktioniere.

Das Video inkl. Vortrag von Vertr.-Prof. Dr. Janika Grunau und Dr. Miriam Lotze, Universität Osnabrück, zu „Berufs- und Studienorientierung in der beruflichen Bildung“ (ab Min. 3): https://bit.ly/3j7B0G

4. Attraktivität der beruflichen Bildung:
Nach wie vor können viele Ausbildungsplätze aufgrund des Bewerbermangels nicht besetzt werden. Hier zeigte Rüdiger Köhler, Geschäftsführer der Georg Utz GmbH, Schüttorf, Beispiele auf, wie das Unternehmen seine Attraktivität als Arbeitgeber erhöhen möchte. Im Bereich der beruflichen Ausbildung ist für Utz das IHK-Qualitätssiegel Top Ausbildung ein wichtiger Baustein und sichtbares Zeichen, um öffentlich deutlich machen zu können, wie viel Wert im Unternehmen auf eine hochwertige Ausbildung gelegt wird. Diese Ausbildungsqualität wird z.B. erreicht, indem intensiv mit Berufsschulen zusammengearbeitet wird. Zu Ausbildungsbeginn bekommen die neuen Auszubildenden zudem ehemalige Azubis als Paten zur Seite gestellt, die sie mit allen Gegebenheiten vertraut machen und Fragen klären. „Die jungen Menschen können sich heutzutage aussuchen, wo sie ihre Tätigkeit aufnehmen möchten. Umso wichtiger ist es für die Arbeitgeber, auf die jungen Menschen attraktiv zu wirken. Dazu gehören das soziale Umfeld, Work-Life-Balance, Perspektiven für die Zukunft und nicht zuletzt die Verantwortung für die Umwelt, also Nachhaltigkeit. Wenn alle Faktoren passen, sind die jungen Menschen auch bereit, sich für das Unternehmen zu entscheiden“, betont Köhler. Im Ausbildungsmarketing seien daher Patenschaften mit Schulen und Schülerpraktika wichtig. Jugendliche würden mit Filmen, über Social Media, auf Messen oder auch im Sportverein erreicht.

Das Video inkl. Vortrag von Junior-Prof. Dr. Silke Lange und Anastasia Goncharova, Universität Osnabrück, zu „Vorzeitige Vertragslösungen und Verbleib von Auszubildenden in der Region Osnabrück“ (ab Min. 2): https://bit.ly/3LEPCsL