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Raus aus dem Bürokratiedschungel
Viele Unternehmen sagen, dass sie von überbordender Bürokratie blockiert oder sogar in ihrer Existenz bedroht sind. Der IHK Wirtschaftsspiegel blickt in seinem Titelthema der Ausgabe 2/2025 auf Ursachen und Wirkungen der aktuellen Regulierungsdichte. | Text: Dominik Dopheide

Der im Februar 2025 veröffentlichten Studie zufolge wird Bürokratisierung angetrieben…
- vom öffentlichen Diskurs. Die Autoren beschreiben eine Kausalkette: Mit technischem Fortschritt, steigendem Wohlstand und veränderten Werten und Ansprüchen wächst der Bedarf an neuen Regelungen – etwa zu Umweltschutz, Gesundheitsschutz oder Datenschutz. Den möglichen Wahlerfolg im Blick, gehen Regierungen und Parlamente auf die Forderungen ein. Die Folge: „Die Einführung einer neuen Maßnahme interagiert auf vielfältige Weise mit bereits bestehenden Regelungen, was zahlreiche zusätzliche Rechtsregeln induziert“.
- von der Forderung nach Einzelfallgerechtigkeit und absolutem Schutz. Auch in diesem Punkt sehen die Autoren den Willen der Gesellschaft am Werk. Statt Kosten und Nutzen abzuwägen, sei die Verwaltungskultur auf die Schutzansprüche fixiert, auch wenn nur wenige betroffen sind. Das habe zu einer Flut an Spezialregelungen und zu Unverhältnismäßigkeiten geführt. So müsse beispielsweise der Brandschutz jede noch so unwahrscheinliche Gefahrensituation ausschließen.
- von „Alibi-Gesetzen“, die suggerierten, dass der Staat sich um Missstände kümmert, die sich mit staatlichen Regeln kaum beheben lassen. So zweifeln die Autoren daran, dass das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Firmen einen hohen Erfüllungsaufwand aufbürdet, Wirkung erzielt. Vielmehr gehe es erneut darum, auf Forderungen der Gesellschaft zu reagieren.
- von Partikularinteressen. Gemeint sind damit Lobbyisten, die auf Gesetze und Verordnungen Einfluss nehmen, aber auch die Initiatoren der Regelungen – EU-Kommission, Regierung, Behörden – die ihre Handlungsfähigkeit demonstrieren wollen.
- von den Verwaltungen selbst, weil sie überfordert sind. „Die Sorge, dass Entscheidungen von den Verwaltungsgerichten revidiert oder den Rechnungshöfen kritisiert werden könnten, führt dazu, dass Verwaltungsakte und Genehmigungsverfahren vornehmlich verfahrensorientiert sind“, so die Autoren. Während Zahl und Komplexität der Regelungen steigen, bleibt die Verwaltungspraxis auf dem alten Stand. Unternehmen müssen somit oft jahrelang warten, bevor sie ein Projekt realisieren können.
Was kostet Bürokratie?
- 65 Milliarden Euro pro Jahr Bürokratiekosten für Unternehmen in Deutschland (ifo-Institut, 11|2024) (Link: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2024-11-kosten-buerokratie-reformen.pdf)
- Bis zu 146 Milliarden Euro pro Jahr entgangene Wirtschaftsleistung durch überbordende Bürokratie (ifo-Institut, November 2024) (Link: https://www.ifo.de/pressemitteilung/2024-11-14/buerokratie-deutschland-kostet-jaehrlich-146-milliarden-euro)
NRW-Ministerpräsident Henrik Wüst führt die stete Zunahme von Berichts- und Nachweispflichten, Datenerfassung und Genehmigungsschritten auf das Bestreben in westlichen Wohlstandsgesellschaften zurück, Risiken so weit wie möglich zu reduzieren. „Wenn Kontrolle Vertrauen ersetzt, ist das der Beginn von immer mehr Bürokratie“, betonte er beim IHK-Jahresempfang im April. Genau in diesem Punkt liege ein Kern des Problems: „Politiker, die versprechen, den Menschen jedes Risiko zu nehmen, sind auch für sich im Hinblick auf Wahlen eher auf der sicheren Seite“, erklärte Wüst. Die Regulierungsdichte sei also ein hausgemachtes Standortproblem. Der Appell des Ministerpräsidenten: „Was wir selbst verursacht haben, können wir auch selbst ändern und besser machen“.
- BEG 2015
1. Bürokratieentlastungsgesetz I (BEG I) - 2015
- Erhöhung der Kleinunternehmergrenze: Die Umsatzgrenze für Kleinunternehmer wurde von 17.500 Euro auf 20.000 Euro angehoben.
- Vereinfachung der Lohnsteueranmeldung: Kleinere Unternehmen konnten die Lohnsteueranmeldung quartalsweise statt monatlich vornehmen.
- Reduzierung der Aufbewahrungsfristen: Die Aufbewahrungsfristen für steuerliche Unterlagen wurden von zehn auf acht Jahre verkürzt
- BEG 2017
2. Bürokratieentlastungsgesetz II (BEG II) - 2017
- Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Arbeitgeber konnten die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen elektronisch bei den Krankenkassen abrufen.
- Erleichterungen bei der Umsatzsteuer-Voranmeldung: Die Grenze für die monatliche Umsatzsteuer-Voranmeldung wurde von 7.500 Euro auf 10.000 Euro erhöht.
- Vereinfachung der Meldepflichten: Bestimmte Meldepflichten für Unternehmen wurden abgeschafft oder vereinfacht
- BEG 2019
3. Bürokratieentlastungsgesetz III (BEG III) - 2019
- Digitalisierung der Steuererklärung: Einführung der Möglichkeit, Steuererklärungen vollständig digital einzureichen.
- Erleichterungen für Existenzgründer: Reduzierung der bürokratischen Hürden für Neugründungen, z.B. durch vereinfachte Anmeldeverfahren.
- Vereinfachung der Dokumentationspflichten: Reduzierung der Dokumentationspflichten für kleine und mittlere Unternehmen (KMU)
- BEG 2024
4. Bürokratieentlastungsgesetz IV (BEG IV) - 2024
- Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege: Die Aufbewahrungsfrist wurde von zehn auf acht Jahre verkürzt
- Digitalisierung der Steuerbescheide: Steuerbescheide werden verstärkt digital bereitgestellt, und eine Widerspruchslösung wurde eingeführt
-
Abbau von Melde- und Informationspflichten: Anhebung der Schwellenwerte für die Abgabe der vierteljährlichen Umsatzsteuervoranmeldung und Vereinfachung der Verrechnungspreisdokumentation
Wie stark das Streben nach absolutem Schutz die Wirtschaft belasten kann, wird beispielsweise in Ahaus, im Gartencenter Hilgert deutlich. Dort haben die Anforderungen des Brandschutzes zu einer 250.000-Euro-Investition geführt. Bei der Pergan GmbH in Bocholt beschäftigt sich ein vierköpfiges Team seit anderthalb Jahren mit den mehr als 1.000 angefragten Daten für die EU-CSRD-Richtlinie, der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Und Frank Kamischke, Geschäftsführer der H. Gautzsch Firmengruppe in Münster, hält nach seinen Erfahrungen die Entwaldungsverordnung EUDR für „eine völlig überkomplizierte Veranstaltung“. Bereits vor einem Jahr hatte die Firma WEICON mit dem IHK-Wirtschaftsspiegel über die Flut von Vorschriften gesprochen, die sie einschränkt.
Es gibt aber auch Unternehmer, die sich beispielsweise gegen eine Lockerung der Berichtspflicht zur Nachhaltigkeit aussprechen, so wie Frank Steffens, CEO bei Brüninghoff in Heiden.
Raus aus dem Regel-Wust
„Red Tape“: Mit diesem Begriff wird im angelsächsischen Sprachraum übertriebene Bürokratie symbolisiert. Das Phänomen ist also international und keineswegs typisch deutsch. Das Magazin „The Economist“ hat im Februar 2025 darüber berichtet, wie die Produktivität in Wirtschaft und Verwaltung beispielweise in den USA, Kanada, Frankreich, Niederlande und Großbritannien von überbordender Bürokratie immer mehr ausgebremst werden. Deutschlands Kennzahl in diesem Bericht: Innerhalb der vergangenen 30 Jahre haben hier die Gesetzestexte in ihrem Volumen ca. 60 Prozent zugelegt.
Die Leiterin der Rechtsabteilung der IHK Nord Westfalen, Monika Santamaria, weist darauf hin, dass die EU-Kommission und das Europäische Parlament die Notwendigkeit durchaus erkannt haben, die Bürokratie zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts abzubauen. So würden mit der Omnibus-Verordnung inklusive „Stop-the-Clock“-Richtlinie der Geltungsbeginn bestimmter Anforderungen an CSRD-Berichterstattung sowie Fristen zur Umsetzung verschoben sowie der Aufwand für die Berichterstattung reduziert. Von den Maßnahmen des Bundes zum Bürokratieabbau blieben die EU-Vorgaben jedoch unberührt, weshalb auf beiden Ebenen das „Red Tape“ weiter gelöst werden müsse, sagt Santamaria. Sie nennt die nächstmöglichen Schritte hin zu einem schlanken, schlüssigen und praktikablen System:
- Aussetzen von neuen staatlichen Regelungsideen, zugunsten einer Aufgabenkritik: Welche Aufgaben müssen zwingend von öffentlicher Verwaltung wahrgenommen werden?
- EU-Regelungen vereinfachen und in ihrer Zahl reduzieren
- EU-Vorschriften in Deutschland ohne "Gold-Plating", also ohne Zusätze oder Verschärfungen umsetzen, um Wettbewerbsnachteile zu verhindern.
- Aufbewahrungsfristen noch weiter verkürzen, als im 4. Bürokratieentlastungsgesetz vorgesehen
- Durchgängige Digitalisierung sichern, um das „Once-Only-Prinzip“ endlich zu realisieren. Standardinformationen müssten Unternehmen den Behörden dann nur einmal mitteilen.
- Verfahren und Genehmigungsprozesse deutlich beschleunigen
Die Liste zeigt: Bereits der Beginn des Bürokratieabbaus mag sich für die neue Bundesregierung als Herkulesaufgabe erweisen. Der griechische Sagenheld besiegte die Hydra, das vielköpfige Ungeheuer.
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