Defizite im Bildungssystem sind Armutsrisiko
„In Deutschland glauben offenbar nicht wenige Menschen, ihren Kindern werde es später einmal schlechter gehen als ihnen selbst. Dabei bietet die anhaltend hohe Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft keinen Grund zu dieser Annahme. Diese Diskrepanz zwischen positiven Fakten einerseits und dem unguten Gefühl andererseits schadet dem Vertrauen der Menschen in unsere Soziale Marktwirtschaft.“ Mit dieser Vorbemerkung eröffnete Jan-Felix Simon, Vizepräsident der IHK Osnabrück - Emsland - Grafschaft Bentheim, das aktuelle IHK-Mittagsgespräch in Osnabrück. Gast war der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes a. D. und Buchautor Prof. Dr. Georg Cremer, der zum Thema „Armut in Deutschland – Was kann, was muss sich ändern?“ sprach.
Prof. Dr. Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes a. D. und Buchautor, mit IHK-Vizepräsident Jan-Felix Simon beim Mittagsgespräch der IHK in Osnabrück.
„In Deutschland sprechen wir über relative Armut. Ein Armutsrisiko liegt dann vor, wenn die betroffene Person weniger als 60 % des mittleren Einkommens erzielt. Die Schwelle liegt je nach Erhebung bei 940 bis 1.050 Euro“, erklärte Cremer einleitend. In Deutschland fallen darunter etwa zwölf Millionen Menschen, darunter allerdings auch viele Auszubildende und Studenten. Er wies auch auf Grenzen des Messkonzepts hin. So habe sich etwa in Griechenland seit der Krise der Anteil der rein rechnerisch vom Armutsrisiko betroffenen Menschen nicht erhöht – der Grund ist, dass das mittlere Einkommen insgesamt stark gesunken ist. Niemand würde aber ernsthaft bestreiten, dass seitdem die Armut in Griechenland zugenommen habe.
In Deutschland stieg nach der deutschen Wiedervereinigung die Armutsrisikoquote bis zum Jahr 2005 deutlich an, seitdem liegt sie ziemlich stabil bei ca. 15%. „Die weit verbreitete Annahme, die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 hätten die Armut verschärft, trifft nicht zu“, so Cremer. Im Gegenteil hätten diese Reformen erhebliche Beschäftigungserfolge gebracht, die Armut entgegenwirken.
Teilweise würden in der öffentlichen Diskussion sozialpolitische Erfolge auch in ihr Gegenteil verkehrt. So habe die Einführung der Grundsicherung im Alter im Jahr 2003 zu einer gewollten Erhöhung der Hilfebezieher geführt. Bis zur Reform nahm das Sozialamt bei den Kindern Regress. Genau diese Erhöhung werde von einigen jedoch als Beleg für die zunehmende soziale Kälte in Deutschland angeführt. „Skandalisierungen dieser Art sind nicht nur falsch, sie schaden sogar den Armen“, erklärte Cremer.
Dennoch gebe es in Deutschland immer noch zu viel Armut, die dringend bekämpft werden müsse. Nicht die gesamten Rentenansprüche sollten bei der Berechnung der Grundsicherung im Alter angerechnet werden. Arbeit muss sich auch im Alter gelohnt haben. Es gehe auch um Prävention. „Dabei sollten wir auf die richtigen Instrumente setzen. Unser Sozialstaat schafft es oft nicht, Hilfen so zu gestalten, dass Notlagen vermieden werden“, betonte der frühere Caritas-Generalsekretär. Entscheidend sei dafür eine Befähigungsgerechtigkeit, die Menschen durch zielgerichtete Bildung erlaube, ihre Potenziale auszuschöpfen. „Defizite im Bildungssystem sind eines der größten Armutsrisiken“, so Cremer. Daher sollten vor allem Schulabbrüche vermieden sowie Lese- und Schreibkompetenzen gezielt gefördert werden.
Darüber hinaus hält er es für problematisch, wenn Zuständigkeiten bei der Betreuung der von Armut betroffenen Menschen zu häufig wechseln. Gerade diese Personengruppe brauche feste Ansprechpartner, die sich um ihre Belange kümmern. „Es ist sicher erfreulich, wenn ein Elternteil einer bisher auf Sozialtransfers angewiesenen Bedarfsgemeinschaft einen Job bekommt. Wenn das aber dazu führt, dass der jugendliche Sohn seinen festen Ansprechpartner im Jobcenter verliert, bloß weil sich die Zuständigkeit vom Jobcenter zur Arbeitsagentur verschiebt, dann läuft etwas falsch“, meinte Cremer. Hier sei eine engere Zusammenarbeit wünschenswert.