Titelinterview: „Die Zuwanderung wird alternativlos sein“

von Juliane Hünefeld-Linkermann, IHK
Arbeitskräfte und Fachkräfte sind gesucht. In der Region unterstützen verschiedene Akteure wie Kammern, Kommunen oder Jobcenter die Betriebe. Dazu gehören besonders auch die Agenturen für Arbeit. Über deren Rolle, die regionalen Perspektiven und den Beitrag der Beruflichen Bildung sprachen wir mit René Duvinage, dem Vorsitzenden der Geschäfts­führung bei der Agentur für Arbeit in Nordhorn.
_ Unsere Region wuchs bisher besonders dynamisch. Auch deshalb spüren die Betriebe den Fachkräftemangel. Wie viele Beschäftigte fehlen in der Region?
Aktuell schaue ich mit etwas Sorge auf die Entwicklung. Die Zahl der arbeitssuchenden Personen steigt und die gemeldeten Stellen nehmen kontinuierlich ab. Letztlich bewegen wir uns jedoch immer noch auf einem hohen Niveau. Doch die Auswirkungen der Krisen (Ukrainekrieg, Lieferengpässe, Rezession, Energiepreise etc.) machen auch vor unserer Region keinen Halt. Wie hoch die Auswirkungen in diesem und kommenden Jahr sein werden, ist derzeit nicht erkennbar. Es ist aber zu vermuten, dass der kontinuierliche Anstieg der Beschäftigung unterbrochen wird.
 _ Was sagen Studien dazu aus?
Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) geht in einer Berechnung davon aus, dass es ohne Zuwanderung sowie einer höheren Erwerbsbeteiligung des inländischen Arbeitskräftepotentials bis in das Jahr 2035 eine Abnahme von 15 % des Erwerbspersonenpotentials geben wird. Für Deutschland bedeutet das einen Verlust von über 7 Millionen potentiellen Arbeitskräften. Brechen wir das auf unsere Region herunter, sprechen wir in den kommenden Jahren ebenfalls von tausenden Menschen, die fehlen werden. Für unsere Region werden geschätzt bis 2035 mehr als 30 000 Arbeitsplätze im Emsland und der Grafschaft betroffen sein, die unbesetzt bleiben könnten. Betrachten wir die Bevölkerungsentwicklung laut Demografie-Portal bis 2040 dazu, so werden die Auswirkungen in der Grafschaft (0 bis 6 %) etwas stärker ausfallen als im Emsland (0 bis +6 %). Die Situation spitzt sich insofern zu und kann als sehr kritisch gesehen werden.
Schaut man in die jüngste Vergangenheit wird das Dilemma deutlich. In unserer Region Emsland und Grafschaft Bentheim haben wir seit Juni 2017 über 22.599 Beschäftigte dazubekommen. Das war in den letzten Jahren ein Anstieg der Beschäftigung von 12,5 %.
Aktuell notieren wir in der Region 205.033 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Erstaunt war ich, dass es trotz der Corona-Krise in den vergangenen Jahren einen kontinuierlichen Anstieg bei den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen gab. Die von Ihnen beschriebene Dynamik hatte sich in allen Branchen gezeigt. Ausgenommen in der Krise waren da natürlich das Gastgewerbe und die Unterhaltungsbranche. Die Region ist davon geprägt, dass wir einen Branchenmix haben, der in den letzten Jahren sehr gut gewachsen ist. Die Problematik des Fachkräftemangels „zieht“ sich aber letztlich durch alle Branchen.
_ Welches sind die Top 5 der Berufe, in denen im Emsland und der Grafschaft Bentheim die Fachkräfte fehlen?
Der Bundesagentur für Arbeit werden nicht alle Arbeitsstellen gemeldet und deshalb haben wir keinen vollumfänglichen Blick auf die tatsächliche Fachkräftelücke. Insofern mag es für die Leserinnen und Leser eine differenzierte Wahrnehmung geben.
Tatsache ist aber, dass die fehlenden Fach- und Arbeitskräfte in allen Branchen als Wachstumsbremse identifiziert werden. Tendenz steigend. Sehen wir uns das einmal an einem Beispiel an. In der Berufshauptgruppe Metallbau und Schweißtechnik sind bei uns 344 Stellen gemeldet. Diesen stehen 82 erwerbslose Menschen gegenüber.
In den nachfolgenden Berufshauptgruppen besteht ebenfalls ein erheblicher Stellenüberhang, d. h., hier gibt es definitiv zu wenig Arbeitskräfte.
Holzbe- und -verarbeitung, Maschinenbau und Betriebstechnik, Lagerwirtschaft und im Bereich der Erziehung, Heilerziehung und Sozialarbeit. Die fünf oben genannten Bereiche sind hier nun explizit benannt worden. Die Disparität der Bewerber und Stellenrelation betreffen definitiv alle Branchen in unserer Region.
Obschon die Statistik darstellt, dass es noch Bewerberinnen und Bewerber gibt, ist der Ausgleich am Arbeitsmarkt häufig nicht so einfach. Hier treffen „Passungsprobleme“ aufeinander: Die Anforderungen im Stellenprofil passen nicht zu den vorhandenen Qualifikationen der Bewerberin oder des Bewerbers.
Sowohl Kundinnen und Kunden als auch Unternehmen werden von uns kompetent und neutral beraten. In individuellen Gesprächen erarbeiten wir passgenaue Weiterbildungsmöglichkeiten, prüfen die Voraussetzungen und erstellen einen gemeinsamen Fahrplan für weitere Schritte. Wir können Arbeitgeber beispielsweise mit einem Zuschuss zu Lehrgangskosten unterstützen und Kosten durch den entstandenen Arbeitsausfall fördern. Beschäftigte können ebenfalls individuelle Kosten erstattet bekommen (z.B. Kinderbetreuungskosten etc.).
Wir wollen damit den Anreiz zur beruflichen Weiterbildung fördern. Studien belegen, dass hiervon noch wenig Gebrauch gemacht wird. Daher ist das Thema für uns auch in der Zukunft ein „Dauerbrenner“.
 _ Kann Zuwanderung das Fachkräfteproblem minimieren?
Um es deutlich zu machen, die Zuwanderung wird alternativlos sein, um unsere künftigen Probleme am Arbeitsmarkt zu minimieren. Sie ist nicht der Schlüssel, um unsere Zukunftsthemen in Gänze zu lösen, aber ein wichtiger Baustein. Die demografische Entwicklung bringt in den nächsten Jahren gewaltige Herausforderungen mit sich.  
Wir brauchen in vielen Branchen Fachkräfte. Pflegekräfte, Mediziner, Fachkräfte im Tiefbau oder IT-Fachleute sind bereits heute faktisch nicht mehr verfügbar. Arbeit und Migration sind mittlerweile zwei Seiten einer Medaille: Nur mit qualifizierter Zuwanderung werden wir künftig unseren Fachkräftebedarf und damit Wohlstand und Wachstum sichern können. Und nur mit attraktiven Arbeitsplatzangeboten und einer gelebten Willkommenskultur werden wir leistungswillige Talente ins Emsland und in die Grafschaft holen und sie dauerhaft integrieren können.
Gleichzeitig ist es mir wichtig, dass wir nicht nur den Bereich der Fachkräftezuwanderung betrachten, sondern auch schauen, wie wir die Fachkräfteabwanderung reduzieren können. Jede Fachkraft, die wir in unserer tollen und schönen Region mit attraktiven Bedingungen halten können, reduziert den Aufwand zusätzliche Fachkräfte anwerben zu müssen.
 _ Viele Akteure bemühen sich um Fachkräftesicherung. Welche besondere Rolle oder Stärke sehen Sie für die Agenturen für Arbeit?
Die vielfältigen Herausforderungen löst niemand mehr alleine. Es geht nur im Schulterschluss aller Akteure. Als Bundesagentur für Arbeit (BA) setzen wir daher auf vernetzte Bildungsräume, in denen wir Beratungs-, Förder- und Informationsangebote verschiedener Institutionen bündeln und einfache Anlaufstellen für Unternehmen und Beschäftigte schaffen. Unternehmen mit einer konkreten Herausforderung ist häufig egal, wer ihnen helfen kann – wichtig ist, dass die Hilfe einfach, unkompliziert und konkret erfolgt. Als BA entwickeln wir daher beispielsweise unseren Arbeitgeberservice weiter, um zukünftig noch besser dem Beratungsbedarf von Unternehmen begegnen zu können. Daneben haben wir mit der Weiterbildungsberatung für Beschäftigte ein konkretes und spezielles Angebot für Mitarbeitende in Unternehmen.
_ Es ist ein Arbeitnehmermarkt. Sind Weiterqualifizierungen gefragt? Wie kann die Weiterbildungsquote gesteigert werden?
Weiterbildung ist die Antwort auf die vielen und großen Herausforderungen. Qualifizierung ist der Schlüssel, um dabei zu unterstützen, die Menschen dort in Arbeit bringen zu können, wo dringend offene Stellen besetzt werden müssen. Die Weiterbildung von Beschäftigten sichert Unternehmen Innovationskraft und bringt Beschäftigten gleichzeitig eine nachhaltige und sichere Perspektive in ihrer Beschäftigung. Ich möchte die Unternehmen wirklich animieren, in die Weiterbildung ihrer Beschäftigten zu investieren und dabei auch unsere Fördermöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Kommen Sie gerne auf uns zu!
Durch das neue Weiterbildungsgesetz und die vielfältigen Fördermöglichkeiten gibt es konkrete Möglichkeiten der Unterstützung. Der „Transformationsdruck“ wird weiterhin steigen und damit auch die konkrete operative Umsetzung. Dabei zählt für uns jeder erfolgreich umgesetzte Integrationsplan, den wir mit Arbeitgebern gemeinsam umsetzen konnten. Das oben genannte Gesetz hat auch den Bürokratieabbau im Blick und die sogenannte „Förderkulisse“ wurde vereinfacht. Wir erhoffen uns davon auch mehr Zustimmung bei den Arbeitgebern.
Für uns steht die Beratung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Vordergrund. Weiterbildungsmöglichkeiten müssen zielgerichtet und zeitlich gut abgestimmt sein. Dabei stehen die Motivation und Freiwilligkeit im Vordergrund. Lernen lässt sich nicht anordnen.
_ Was muss sich ändern, um das Arbeitskräfteproblem zu lösen?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Wie oben bereits beschrieben sind mehrere Akteure und Strategien erforderlich, um diese große Herausforderung zu meistern.
Wir müssen uns alle Möglichkeiten ansehen, die helfen können. So muss der Berufseinstieg für alle Jugendliche gelingen und die Anzahl der jungen Menschen ohne Schulabschluss ist zu reduzieren. Die Zuwanderung muss erleichtert und weiteres inländisches Arbeitskräftepotential aktiviert werden (z. B. Erhöhung der Frauenerwerbsbeteiligung). Des Weiteren sind die Erwerbsbiografien zu stärken und wo möglich, das Qualifikationsniveau zu erhöhen. Auch werden wir die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen verstärkt in den Blick nehmen müssen.
Weitere Infos: www.arbeitsagentur.de
„Die Zuwanderung wird alternativlos sein“ -  Das sagt René Duvinage. Er startete seine berufliche Karriere bei der Agentur für Arbeit Düsseldorf und steht seit September 2021 an der Spitze der Agentur für Arbeit in Nordhorn.
Juliane Hünefeld-Linkermann
Aus- und Weiterbildung
Geschäftsbereichsleiterin, Mitglied der Geschäftsführung