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Titelinterview: "Digitalisierung ist der Turbo der Fachkräfteeinwanderung“
von Dr. Ulf Kemper, IHK
Oleksandr Kotsyuba studierte in der Ukraine Elektronik und Physik, bevor er 1999 nach Deutschland kam. In Köln gründete er 2012 die BITECC GmbH, die kleine und mittlere Unternehmen im Bereich Softwareentwicklung, Künstlicher Intelligenz (KI) sowie im operativen und strategischen Consulting unterstützt. Im Jahr 2016 verlegte er den Hauptsitz nach Lingen und rief die Marke „Linvelo“ ins Leben. Wir sprachen mit ihm über die Digitalisierung der Ausländerverwaltung und Fortschritte im Bereich der Fachkräfteeinwanderung.
Oleksandr Kotsyuba warb in der Vergangenheit – zuletzt forciert durch den Krieg Russlands gegen sein Heimatland – erfolgreich Ukrainerinnen und Ukrainer für sein Unternehmen an. Auch privat nahm er Ukrainer bei sich auf. „Linvelo“ ist, so sagt er, Wegbereiter für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Geschäftsalltag und unterstützt Unternehmen und Organisationen bei der KI-Einführung und -Integration.
_ Herr Kotsyuba, Sie stammen gebürtig aus Lviv (früher Lemberg) in der Ukraine. Welche Wege haben Sie nach Lingen geführt?
Nach meinem Masterabschluss im Bereich Elektronik und Physik habe ich mich dafür entschieden, ein Aufbaustudium in Deutschland zu absolvieren. Nach diesem Studium in Zwickau und einem Praktikum sowie der Diplomarbeit in Karlsruhe, schlossen sich verschiedene Stationen im Projektmanagement, Marketing und Vertrieb in der Forschung und Wirtschaft an. 2012 gründete ich mein Unternehmen, die BITECC GmbH, in Köln. In der Domstadt lernte ich auch meine künftige Frau kennen. Da sie aus dem Emsland kommt, haben wir uns dafür entschieden, nach Lingen zu ziehen und hier zu bleiben.
_ Vor diesem Hintergrund: Wie bewerten Sie die Willkommenskultur in Deutschland?
Die Regionen in Deutschland sind aufgrund verschiedener Voraussetzungen und Vorgeschichten unterschiedlich weit bei dieser Frage. In der letzten Zeit hat sich auch in Lingen und im gesamten Emsland viel getan. Allein die Tatsache, dass in Lingen das „Welcome und Servicecenter Wirtschaft“ eröffnet wurde und meine Mitarbeiter sich wohl fühlen, ist ein gutes Zeichen und ein großes Indiz für die gute Willkommenskultur.
_ Deutschland ist faktisch seit langem ein Einwanderungsland, ebenso wie unsere Region, die seit Jahren immer diverser wird. Was sind aus Ihrer Sicht die Stärken Deutschlands bei der Anwerbung und Integration von ausländischen Fachkräften?
Ein starker Mittelstand, „Hidden Champions“ und flache Hierarchien sorgen dafür, dass die Entwicklungsmöglichkeiten für die Menschen aus dem Ausland hier sehr groß sind. Der Campus Lingen der Hochschule Osnabrück sorgt zudem dafür, dass die Gegend attraktiv für junge Leute ist. Außerdem kann man hier die Vorteile des ländlichen Raums genießen und gleichzeitig innerhalb weniger Stunden Metropolen wie Köln, Hamburg und Amsterdam besuchen.
Meine Verbesserungsvorschläge sind sehr vielfältig. Wir müssen vor allem im Bereich von Innovationen und Förderung neue Ideen einbringen. Unternehmerische Kreativität und wirtschaftspolitische Angebotsorientierung können dafür sorgen, dass junge Menschen und innovationsfreudige Unternehmen aus dem Ausland zu uns kommen. Der Standort Deutschland muss deutlich an Attraktivität hinzugewinnen. Ansonsten laufen wir Gefahr, dass internationale Fachkräfte Deutschland meiden und die bestehenden Unternehmen hier nicht mehr investieren.
_ „Bürokratie“ und „Digitalisierung“ sind gute Stichworte. Was wäre da konkret wünschenswert?
Die Bürokratie sorgt dafür, dass der Standort Deutschland seit Jahren stetig an Attraktivität verliert. Es muss sich dringend etwas ändern. Wie schlecht es um die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz sowohl in Behörden als auch in Unternehmen bestellt ist, ist mir persönlich deutlich geworden, als der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist. Unsere neuen ukrainischen Mitarbeiter mussten alle Dokumente in Papierform ausfüllen und mehrfach die gleichen Unterlagen einreichen. Die schlechte Digitalisierung, die übertriebene Bürokratie und der überbordende Datenschutz sind ein Riesenproblem!
_ Sie arbeiten gerade an IT-Lösungen für die Fachkräfteeinwanderung. Wir wissen, es ist noch nicht spruchreif: Aber könnten Sie kurz die Idee erläutern, an der Sie arbeiten?
Ja, in diesem Bereich wurde vor über zwei Jahren – gemeinsam mit einer Kommune – das Pilotprojekt „immiFAST: Digitalisierung von Ausländerbehörden und Einwanderungsprozessen“ initiiert. Ausgangspunkt waren Erfahrungen aus Ländern wie der Ukraine und Estland, die bei der digitalen Abwicklung von Einwanderungsprozessen deutlich weiter sind. Deutschland steht hier vor großen Herausforderungen: Es kann nicht sein, dass die Einwanderung qualifizierter Fachkräfte sechs bis neun Monate dauert! Der Fachkräftemangel ist längst Realität, und wir stehen im Wettbewerb mit Ländern, die ihre Fachkräfteeinwanderungsverfahren längst effizient digitalisiert haben. „immiFAST“ setzt genau hier an. Das Projekt verfolgt das Ziel, Prozesse zu verändern, sowie mit einem digitalen Ansatz die Einwanderungsprozesse deutlich zu beschleunigen und transparenter auszugestalten. Aktuell befindet sich das Vorhaben in den Endzügen der Pilotphase. Erst danach können belastbare Aussagen zu den Ergebnissen und möglichen nächsten Schritten getroffen werden.
_ Wäre eine All-in-One-Plattform, die das komplette Fachkräfteanwerbungsverfahren begleiten könnte, überhaupt realistisch? Immerhin müssten ja alle beteiligten Behörden mitwirken.
Eine zentrale Plattform ist nicht nur realistisch, sie ist der einzig sinnvolle Weg, wenn Deutschland im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte bestehen will. Im ersten Schritt sorgt unser Ansatz für deutlich beschleunigte und vereinfachte Prozesse in Ausländerbehörden. Fachkräfte, Unternehmen und Behörden können erstmals unkompliziert miteinander kommunizieren, Anträge digital stellen und Dokumente medienbruchfrei austauschen – unterstützt durch intelligente Automatisierung und KI. Sobald in den nächsten Ausbaustufen weitere beteiligte Behörden integriert werden, entsteht ein durchgängiger, digital gestützter Einwanderungsprozess. Wir hoffen, dass die Erkenntnisse aus unserem Pilotprojekt auch in der neu eingerichteten „Zentralstelle für das beschleunigte Fachkräfteverfahren“ des Landes Niedersachsen berücksichtigt werden. Es wäre fahrlässig, bekannte Schwächen zu ignorieren.
_ Beschäftigen Sie ausschließlich Beschäftigte mit Migrationshintergrund? Anders gefragt: Sind deutsche IT-Experten eigentlich wettbewerbsfähig? Oder gibt es ausländische Fachkräfte – beispielsweise aus der Ukraine –, die besser qualifiziert sind?
Wir beschäftigen sowohl deutsche als auch ukrainische Kollegen. Die technische Ausbildung im Bereich „Softwareentwicklung“ und „Künstliche Intelligenz“ ist vergleichbar. Allerdings haben die Ukrainer mehr praktische Erfahrungen, da sie deutlich früher anfangen und bereits in der Schule erste Software- und KI-Projekte durchführen.
_ Was würden Sie als IT-Experte und Unternehmer angesichts Ihrer bisherigen Erfahrungen mit der Digitalisierung der Ausländerbehörden und der Rekrutierung von Fachkräften aus Nicht-EU-Staaten der Politik, der Industrie und dem Handel sowie der Gesellschaft in Deutschland mit auf den Weg geben?
Weniger Bürokratie und mehr Wirtschaftsförderung von der Politik! Mehr Mut zu Innovationen von der Industrie und dem Handel! Mehr Entschlossenheit und Offenheit für das Neue in der Gesellschaft und für die individuelle Entfaltung.
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Dr. Ulf Kemper
Aus- und Weiterbildung
Berater Fachkräfteeinwanderung