„Mitmachen heißt, unterschiedliche Sichtweisen einzubinden“

von Dr. Beate Bößl, IHK
Im Museum Industriekultur (MIK) Osnabrück eröffnete im Mai die Sonderausstellung „Welthandel. Geschichte, Gegenwart. Perspektiven.“ Wir sprachen mit Dr. Vera Hierholzer darüber, was Mitmachen in diesem Kontext bedeutet. Die Direktorin des MIK studierte Geschichte und Öffentliches Recht in Münster, promovierte in Frankfurt a. M.. Ihr Berufsweg führte sie 2020 über Mannheim und Mainz nach Osnabrück. In Mainz führte sie für fünf Jahre die Koordinierungsstelle für Universitätssammlungen.
_ Im IHK-Kontext steht das „Mitmachen“ besonders für das wirtschaftliche Ehrenamt und die Wahl der IHK-Vollversammlung. Was sind mit Blick auf Ihre Aufgaben die Assoziationen zum „Mitmachen“?
Auch im MIK ist es uns ganz wichtig, unser Publikum aktiv einzubeziehen. Museen entwickeln sich seit einigen Jahren immer mehr zu Orten der Begegnung und des Mitmachens. Wir wollen nicht mehr nur Ausstellungen für die Besucherinnen und Besucher zeigen, sondern diese mit ihnen gemeinsam gestalten – um unterschiedliche Erfahrungen, Kenntnisse und Sichtweisen einzubinden. Im Zentrum steht bei uns das Beziehungsdreieck Mensch – Natur – Wirtschaft, also die Frage, wie wir Menschen in unserem Leben, Arbeiten und Wirtschaften durch natürliche Bedingungen geprägt sind und wie wir unsererseits die Natur verändern.
Dr. Vera Hierholzer Hochformat
Dr. Vera Hierholzer ist seit 2020 die Direktorin des Museum Industriekultur (MIK) Osnabrück © IHK
_ Mitmachen heißt immer auch: Mitdenken…
Ja, denn wir verbinden den Blick in die Geschichte mit aktuellen Fragen der Gegenwart und dem gemeinsamen Nachdenken über die Zukunft. Wir wollen Diskussionen anregen und Raum für die Entwicklung neuer Ideen und Modelle bieten. Und das geht natürlich nur mit den Menschen in der Region. Bereits in der Vorbereitung unserer Ausstellungen arbeiten wir mit Institutionen, Initiativen, Vereinen und Gruppierungen zusammen. Auch Einzelbesucher können sich beteiligen. Zum Beispiel fragen wir sie in unserer aktuellen Fotoausstellung „Gute Geschäfte“, die wunderbare historische Aufnahmen Osnabrücker Einzelhandelsgeschäfte aus dem frühen 20. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre zeigt, nach ihren Erinnerungen oder Wünschen für die Innenstadt-Entwicklung. Eine Online-Galerie auf unserer Website präsentiert dazu eigene Fotos, die Besucher uns gemailt haben.
__ Im Mai eröffnete die Sonderausstellung „Welthandel“ im Magazingebäude (bis 15. Oktober). Was erwartet uns als Besucher?
Die Ausstellung nimmt die Frühzeit des Welthandels zwischen 1650 und 1750 in den Blick – und stellt diese unserer Gegenwart gegenüber. Internationale Lieferketten sind heute gar nicht mehr wegzudenken, einen Großteil unserer Waren beziehen wir aus aller Welt. Dabei ist uns oft aber nicht bewusst, wie alt die weltweiten Handelsbeziehungen bereits sind. Handmade und regional – so stellt man sich meist die Warenwelt um 1700 vor. Doch waren schon viele Waren im Umlauf, die eben nicht hier aus der Ecke kamen: Silber, Seide und feinste Baumwolle, chinesisches Porzellan, Gewürze, Kaffee, Tee… Die Ausstellung zeigt diese langen Linien der Welthandelsgeschichte auf. Sie vergleicht, wie der Welthandel vor rund 400 Jahren funktionierte und wie es heute hinter den Kulissen komplexer Handelssysteme aussieht. Welches Wissen und welche Technologien sind notwendig? Welche Rahmenbedingungen prägen den Welthandel? Wie wirkt er seinerseits auf Gesellschaft, Politik und Wissensbestände – und wie auf die Umwelt?
_ Das MIK zeigt die Ausstellung anlässlich des 375. Jubiläums des Westfälischen Friedens. Wie wird das Thema aufgegriffen?
Indem sich die Frage nach der Beziehung zwischen Welthandel und Frieden als roter Faden durch die Themenkapitel zieht. Fördern internationale Handelsbeziehungen Wohlstand und Zusammenarbeit oder führen sie zu Konflikten und sozialen Ungleichheiten? Es ist ein sehr aktuelles Thema, das uns alle unmittelbar betrifft. Deshalb sind die Besucherinnen und Besucher immer wieder auch selbst gefragt und es gibt eine eigene Kinderspur, die das komplexe Thema spielerisch für Kinder ab dem Grundschulalter aufbereitet – und sie (aber natürlich gern auch die Erwachsenen!) zum aktiven Mitmachen einlädt.
_ Unsere Region ist durch den Im- und Export geprägt. Dabei ist das Mitmachen können, dürfen oder wollen ganz zentral für wirtschaftlichen Erfolg. Welche Faktoren haben Sie entdeckt, die in besonderer Weise für regionales Mitwirken stehen?
Die Ausstellung hat einen globalen Fokus, auch da sie im Anschluss an die erste Station bei uns im Haus noch an anderen Orten gezeigt wird. Es finden sich aber immer wieder regionale Beispiele – z. B. in der Inszenierung eines großen Warenlagers, das exemplarische „Weltwaren“ vorstellt. Und wir haben für die Station im MIK eine eigene „Regionalspur“ entwickelt, die in den Blick nimmt, wie unsere Region in den Welthandel eingebunden war und ist. Ein besonderer Fokus liegt hier auf dem Leinen, das tatsächlich bereits im 17. Jahrhundert zu einer „Weltmarke“ wurde. Dabei spielten familiäre Zusammenhänge eine große Rolle: Viele Kaufmannsdynastien hatten ihren Ursprung in unserer Region und bauten von hier aus ihre Handelsverbindungen auf. Sie begründeten Niederlassungen in den großen Handelsmetropolen Europas, die von Familienmitgliedern geführt wurden.
_ Welche Funktion hatten die Familiennetzwerke?
Sie ermöglichten eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit auch über große Entfernungen und waren von großer Beständigkeit. Ähnlich verhält es sich bei den großen Logistikunternehmen, die in unserer Region heute einen wichtigen Schwerpunkt bilden – viele von ihnen sind bis in die Gegenwart Familienunternehmen. Auf Vertrauen gründende, familiäre Strukturen und persönliches Engagement waren und sind bis heute gute Voraussetzungen, um ein weltumspannendes Unternehmen aufzubauen, das zeigen Beispiele in unserer Ausstellung.
_ Gibt es Exponate, die für Sie mit einem überraschenden Wissen über die Industriegeschichte der Region einhergingen?
Mir wurde einmal mehr bewusst, dass in unserer Region viele international agierende Unternehmen ansässig sind, insbesondere als wir exemplarische „Weltwaren“ für unser „Warenlager“ in der Ausstellung zusammengestellt haben. Sowohl unter den „Longsellern“, die mindestens seit dem 17. Jahrhundert und bis heute weltweit gehandelt werden, als auch unter den modernen Handelsgütern, die erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert oder später globale Bedeutung erhielten, sind viele Beispiele, die hier regional produziert wurden oder werden: Papier, Maschinen, Stahl, Lebensmittel oder, früher, auch Kohle und Tabak. In einem Zukunftsraum stellen wir eine Reihe spannender Projekte vor – zum Beispiel eine Frachtdrohne mit einer Reichweite von 2 500 Kilometern, die von einem Osnabrücker Logistikunternehmen in Kürze erstmals eingesetzt werden wird. Auch das Food Future Lab an der Hochschule Osnabrück arbeitet an spannenden Ideen: Zur Überwindung der „letzten Meile“ wurden Boxen entwickelt, die an Verkehrsknotenpunkten positioniert die Abholung vorbestellter Waren ermöglichen und so Transporte einsparen.
_ Im Herbst vergangenen Jahres schlossen das Museum Industriekultur und der Forschungsbereich „Smart Enterprise Engineering“ des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) am Standort Niedersachsen eine Partnerschaft. Welche Idee steckt dahinter?
Das DFKI hat eine „Schauwerkstatt“ in unserer Historischen Kohlenwäsche hinter dem Magazingebäude  eingerichtet. Dort, wo früher die Piesberger Kohle gesäubert und zerkleinert wurde, gibt es nun Einblick in aktuelle Forschungsprojekte zur Künstlichen Intelligenz (KI). Das Gebäude ist noch unsaniert, aber das Zusammenspiel aus modernster Technologie und historischer Bausubstanz ist reizvoll. Thematisch knüpft die Werkstatt an die Sonderausstellungen an. So geht es aktuell um die Paketzustellung der Zukunft per KI-Technologie. Die Werkstatt ist zu besonderen Terminen zugänglich, aber auch auf Anfrage für Gruppen und insbesondere Schulklassen. Wir freuen uns sehr über diese Kooperation, die wir ausbauen möchten, da sie in idealer Weise unser Anliegen umsetzt, den Blick in die Geschichte mit neuen Ideen für die Zukunft zu verbinden.
_ Welches Mitmachen steht für Sie als nächstes an, Frau Dr. Hierholzer?
Im vergangenen Jahr haben wir unsere „Ideenschmiede“ eröffnet, einen eigenen Mitmach- und Kreativ-Raum im Haseschachtgebäude. Hier arbeiten wir mit unterschiedlichen Gruppierungen zusammen, zeigen bewusst unfertige Dinge, erste Ideen und Konzepte, geben Einblick in Prozesse und laden zur Diskussion ein. Die Kinder aus unserer Ferienbetreuung zeigen hier z. B. gerade „Zukunftsmaschinen“ und demnächst treffen sich hier wieder ehemalige Mitarbeiter des früheren Stahlwerks Osnabrück zur Sichtung historischer Fotos. Die „Ideenschmiede“ steht auch externen Interessierten offen. Nachdem wir nun die Welthandels-Ausstellung eröffnet haben, wollen wir uns diesem Raum nun intensiver widmen, potenzielle Partner ansprechen usw. Solche Kooperationen aufzubauen und gemeinsame Mitmach-Formate zu entwickeln, das macht mir besondere Freude!
Dr.Beate Bößl
Öffentlichkeitsarbeit, Wirtschaftspolitik, International
Projektleiterin Öffentlichkeitsarbeit