Verlust der Glaubwürdigkeit droht

Bürokratie lässt Unternehmen verzweifeln. Sie wächst unverdrossen weiter, während wirtschaftliches Wachstum nur noch durch schuldenfinanzierte Investitionsbooster möglich scheint. Darüber diskutierten die Mitglieder der Vollversammlung während ihrer Sitzung am 16. Juni.
IHK-Präsident Lars Baumgürtel bei der IHK-Vollversammlung.
IHK-Präsident Lars Baumgürtel: Verzicht auf kommunale Verpackungssteuer „ist ein gutes Signal“. © Krüdewagen/IHK
„Die Politik läuft Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit in der Wirtschaft zu verlieren, wenn zwar parteiübergreifend Bürokratieabbau versprochen wird, der bürokratische Aufwand in den Unternehmen aber weiter steigt“, betonte IHK-Präsident Lars Baumgürtel. Aktueller Anlass ist die kommunale Verpackungssteuer. Die Einführung dieser Steuer wird landauf, landab diskutiert, seitdem das Bundesverfassungsgericht Anfang des Jahres die „Tübinger Verpackungssteuer“ für rechtmäßig erklärt hatte. Aber: „Die Regeln zur Besteuerung von Einwegverpackungen sind ein Musterbeispiel für eine ausufernde Bürokratie, deren Nutzen mehr als fraglich ist“, betonte Baumgürtel.
Das Ziel der Steuer, den Müll in den Innenstädten zu reduzieren und die Nutzung von Mehrwegverpackungen zu fördern, sei unbestritten richtig, betonten gleich mehrere Mitglieder der Vollversammlung. Aber genau wie bei anderen Maßnahmen sei der bürokratische Aufwand unverhältnismäßig hoch. Der Automatismus, auf jedes Problem mit neuer Bürokratie zu reagieren, statt es grundsätzlich auf anderem Wege zu lösen, müsse aufhören. Sonst werde die Bürokratie allen Versprechungen zum Trotz weiterwachsen, so das Fazit der Diskussion.
Dass beispielsweise die Kommunen Ascheberg, Coesfeld, Dorsten und Lengerich die Einführung der Steuer bereits abgelehnt hätten, ist für Baumgürtel deshalb „ein gutes Signal, dem die anderen Kommunen im Münsterland und in der Emscher-Lippe-Region folgen sollten“, so die Bitte des IHK-Präsidenten.
Zuvor hatte IHK-Vizepräsident Bernd Eßer dargestellt, warum der Verzicht auf die Verpackungssteuer im eigenen Interesse der Städte und Gemeinden ist. Denn auch bei den Kommunen führt die Steuer zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand. „Alle steuerpflichtigen Betriebe müssen erfasst, ihre übermittelten Angaben zur Berechnung der Steuerbescheide überprüft und regelmäßige Kontrollen zur korrekten Umsetzung der Steuer durchgeführt werden“, skizzierte Eßer (Geschäftsführer der Berief Food GmbH, Beckum). Vor allem Betrieben wie Bäckereien mit zahlreichen Filialen in verschiedenen Kommunen droht nach seinen Ausführungen zudem „ein regelrechter Flickenteppich, mit dem sich der bürokratische Aufwand aufgrund der jeweils unterschiedlichen Regelungen noch einmal potenzieren kann“.
„Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis“, resümierte Dr. Jana Burchard, Leiterin des IHK-Geschäftsbereichs Branchen und Infrastruktur. „Es bestehen auf nationaler wie europäischer Ebene bereits zahlreiche gesetzliche Regelungen zur Abfallvermeidung, die von den Unternehmen berücksichtigt werden müssen“, betonte sie und nannte die EU-Verpackungsordnung, das Einwegkunststofffondsgesetz, die Mehrwegangebotspflicht sowie die Beteiligungspflicht am Dualen System. „Viele Unternehmen sind zudem bereits freiwillig auf recyclingfähige Verpackungen umgestiegen oder bieten Mehrwegbehälter an“, so Burchard.
Während es der IHK bei der kommunalen Verpackungsverordnung darum geht, neue bürokratische Pflichten zu verhindern, zeigten IHK-Vizepräsidentin Kathrin Gödecke und der für Recht zuständige IHK-Geschäftsbereichsleiter Carsten Taudt auf, wie schwierig es ist, einmal vorhandene Bürokratie wieder abzubauen. Und zwar am Beispiel der Bio-Zitrone.
Die seit 2022 geltende neue EU-Bio-Verordnung schreibt vor, dass Bio-Produkte nicht nur entsprechend gekennzeichnet sind, sondern auch, dass diese nach bestimmten Kriterien zum Verkauf angeboten werden müssen. Zum Beispiel: Bio-Produkte und konventionell angebaute Produkte dürfen unverpackt nicht direkt nebeneinander liegen. Es muss ein Mindestabstand gewahrt werden.
Ob der Handel den Verpflichtungen nach der EU-Bioverordnung auch nachkommt, wird einmal jährlich geprüft. „Mit Ankündigung vier Wochen vorher“, betont Gödecke, was sie am Zweck der Prüfung zweifeln lässt. Für diesen rund anderthalbstündigen Besuch gibt es ein schriftliches Kontrollergebnis und eine Rechnung. Gödecke zahlt für ihre beiden Supermärkte zusammen rund 1.000 Euro. „Ich hätte auch das Hackfleisch-Monitoring nehmen können, das wir monatlich durchführen und bezahlen müssen“, meinte die Unternehmerin. Für sie steht die Bio-Zitrone nur sinnbildlich für „immer neue zusätzliche Belastungen für uns im Lebensmitteleinzelhandel, die uns zwingen, uns mit einzelnen unserer vielen Produktgruppen noch intensiver zu beschäftigen und hinterher dafür dann auch noch 1000 Euro zu bezahlen“. Aus ihrer Sicht ist es auch ohne Prüfung „selbstverständlich, dass der Kunde die gewünschte Bio-Ware erkennen und auswählen kann“.
IHK-Rechtsexperte Carsten Taudt bestätigt die Einschätzung Gödeckes, „dass es unfassbar schwer ist, hier etwas zu ändern“. Die EU-Bioverordnung sei unmittelbar geltendes EU-Recht, was die Handlungsoptionen für eine einzelne IHK von vornherein eingrenze. Hinzu komme, dass die Identifikation der zu verändernden Normabschnitte gerade im Zusammenhang mit der EU-Bioverordnung bis hin zu den Ausführungsverordnungen hoch komplex sei, so dass man wie so oft im Kampf mit der Bürokratie irgendwann an einen Punkt komme, an dem man aufgebe.
Dass es sich aber durchaus lohnt, über die IHK neue Bürokratie zu verhindern oder vorhandene abzubauen, erläuterte IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Fritz Jaeckel am Beispiel des sogenannten Cross-Border-Adjustment-Mechanism, besser bekannt unter dem Kürzel: CBAM. Mit diesem CO₂-Grenzausgleichssystem will die EU die energieintensive Industrie davor schützen, dass die Produktion und damit die Emissionen einfach ins Ausland verlagert werden, wenn in der EU die CO₂-Preise steigen. Ein Großteil der Stellungnahme, die die DIHK gegenüber der EU zur CBAM-Verordnung abgegeben habe, sei von der IHK Nord Westfalen zugeliefert worden. Ende Mai habe der Europäische Rat nun angekündigt, das CO₂-Grenzausgleichssystem zu vereinfachen. „Rund 90 Prozent der bislang betroffenen Unternehmen wären dann raus aus der Meldepflicht“, betonte Jaeckel. Auch der Leiter der IHK-Außenwirtschaftsabteilung, Gerhard Laudwein, den Jaeckel als bundesweit anerkannten Experten für CBAM bezeichnete, verbucht das als Erfolg für die IHK-Organisation.
IHK-Vizepräsident Carsten Sühling, Vorsitzender im IHK-Regionalausschuss für den Kreis Borken, hatte zuvor bereits dem Präsidium berichtet, dass vor allem ältere Unternehmer den Bürokratieabbau „als Lachnummer“ abgetan hätten. Sühling selbst hat trotz aller Schwierigkeiten beim Bürokratieabbau „den Eindruck gewonnen, dass der Ernst des Problems zumindest in der Politik angekommen ist“. Um den Druck auf die Politik hochzuhalten beim Bürokratieabbau, hat das Präsidium vorgeschlagen, auf der Internetseite der IHK eine Möglichkeit einzurichten, Beispiele für die ausufernde Bürokratie zu melden und damit der IHK für die Interessenvertretung gegenüber Politik und Verwaltung zur Verfügung zu stellen.
Während sich die Vollversammlung einig zeigte, dass die Bürokratielasten Wachstum verhindern, versucht die Bundesregierung mit dem Sondervermögen Infrastruktur und Klimaschutz sowie mit einem Sofortprogramm neues Wachstum zu initiieren. Gemeinsam gaben Prof. Dr. Manuel Rupprecht (Dekan der School of Business der FH Münster) und IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Fritz Jaeckel auf Basis der Analyse des Sachverständigenrates einen Überblick, welche Impulse aus diesem Gesetzespaket zu erwarten sind.
Rupprecht zeigte sich bei einigen Maßnahmen skeptisch, ob sie ausreichen, um die dringend notwendige internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Seine Kritik galt sowohl der beabsichtigten Steuersenkung, mit der Deutschland aber immer noch nicht im OECD-Durchschnitt ankomme, wie auch der Diskussion um die Anhebung des Mindestlohns. Auch angesichts der schwierigen globalen Gemengelage erwartet er nicht, dass es innerhalb kürzester Zeit zu einer Veränderung kommt. Aber es sei absolut nicht alles schlecht, was da beschlossen worden sei. „Wir sollten uns alle ein bisschen Optimismus gönnen“, um aus der augenblicklichen Lage herauszukommen.