Europäisches Lieferkettengesetz

„Der Vorschlag überschätzt den unternehmerischen Einfluss“

Die EU-Kommission hat einen Richtlinienentwurf vorgelegt, der Unternehmen künftig verpflichten soll, die negativen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf Mensch und Umwelt zu prüfen und mögliche Verstöße auszuräumen – und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wird die Richtlinie umgesetzt, müsste das deutsche Lieferkettengesetz, das erst 2023 in Kraft tritt, nachgebessert werden. Experten warnen, der Vorschlag gehe an der Realität der Betriebe vorbei.
Autorin: Sylvia Rollmann, 26. Juli 2022
Es geht um menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, um mangelnde Sicherheitsstandards, um Ausbeutung und Umweltverschmutzung. Mit einem europäischen Lieferkettengesetz will die EU gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in der globalisierten Wirtschaft vorgehen. Im Februar 2022 hat die EU-Kommission einen Richtlinienentwurf vorgelegt, der Unternehmen künftig dazu verpflichten soll, die negativen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf Mensch und Umwelt zu überprüfen und mögliche Verstöße auszuräumen – und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Die geplanten Sorgfaltspflichten bezögen sich also nicht nur auf das eigene unternehmerische Verhalten oder auf das von Tochtergesellschaften, sondern auch auf die geschäftlichen Aktivitäten von Zulieferern und deren Geschäftspartnern.
Auch wenn es sich zunächst um einen Richtlinienentwurf handelt, der vom Europäischen Parlament und dem Ministerrat noch angepasst werden kann, steht bereits fest: Wird die Richtlinie verabschiedet, müssen alle EU-Mitgliedsstaaten sie in nationale Gesetze überführen und bereits bestehende Gesetze nachbessern. Davon wäre dann auch das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) betroffen, das im Januar 2023 in Kraft tritt und zunächst „nur“ für Unternehmen mit mindestens 3.000 Beschäftigten, ab 2024 mit mindestens 1.000 Arbeitnehmern gilt.

Unternehmen könnten bereits ab 500 Mitarbeitern in die Pflicht genommen werden

Vertreter von Industrie und Wirtschaft befürchten, dass mit dem aktuellen europäischen Vorstoß auf viele deutsche Betriebe große Probleme zukommen. „Der Vorschlag geht weit über das deutsche Pendant hinaus und überschätzt den unternehmerischen Einfluss noch stärker als schon das deutsche Gesetz“, analysiert der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. „So sollen bereits Unternehmen ab 500 Beschäftigten und 150 Millionen Euro Jahresumsatz in die Pflicht genommen werden, entlang der gesamten Wertschöpfungskette menschenrechts- und umweltbezogene Risiken zu identifizieren – also weit außerhalb des Verantwortungsbereichs im eigenen Betrieb. Und in einer ganzen Reihe von Branchen gilt dies auch für noch kleinere Unternehmen.“
Hinzu komme die zivilrechtliche Haftung bei mangelhafter Erfüllung der Sorgfaltspflichten. „Aufgrund der vagen Formulierung des Richtlinienentwurfs bleibt unklar, ob sich Unternehmen auch für Missstände indirekter, zum Teil unbekannter Geschäftspartner vor Gericht zu verantworten haben. Die Rechtsunsicherheit ist immens“, sagt DIHK-Lieferkettenexperte Philipp Nüßlein.

Ein wirksames Gesetz muss praxistauglich, verhältnismäßig und rechtssicher sein

In einer Stellungnahme zum EU-Richtlinienentwurf warnt der DIHK vor einer Überlastung der betroffenen Unternehmen und fordert umfassende Nachbesserungen. „Ein wirksames Lieferkettengesetz erfordert Praxistauglichkeit, Verhältnismäßigkeit und Rechtssicherheit. Aus Sicht der gewerblichen Wirtschaft werden diese Prinzipien im vorliegenden Richtlinienentwurf nicht gewahrt. Daher drohen gravierende bürokratische Mehrbelastungen und hohe Haftungsrisiken in einer Zeit, die von den negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und des Kriegs in Europa geprägt ist“, heißt es darin. Das, so der DIHK, führe zu weniger Geschäften, sinkenden Umsätzen und letztlich zum Abbau von Arbeitsplätzen – in Europa sowie im außereuropäischen Ausland.
Diese Risiken beschränkten sich nicht nur auf die großen Unternehmen im Anwendungsbereich des Gesetzes: „Um die eigenen Sorgfaltspflichten einzuhalten, werden sich die direkt betroffenen Unternehmen an ihre Lieferanten und Geschäftspartner, häufig kleine und mittlere Unternehmen, wenden und sie über vertragliche Klauseln zu umfassenden Nachweispflichten verpflichten“, warnt Philipp Nüßlein. Das zeigten erste Rückmeldungen zum deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. „Durch diesen Kaskadeneffekt wird eine sehr große Zahl kleinerer und mittlerer Betriebe als Teil der Lieferketten in Deutschland indirekt betroffen sein.“

Pandemie und Krieg haben die Bedeutung resilienter Lieferketten gelehrt

Besonders kritisch sieht der DIHK die Gefahr, dass sich Unternehmen aus Entwicklungs- und Schwellenländern zurückziehen könnten, weil sie die ihnen auferlegten Administrations- und Dokumentationspflichten nicht mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand bewältigen könnten. „Das würde die entwicklungsfördernde Wirkung globaler Wertschöpfungsketten schwächen und den Zweck des Gesetzes konterkarieren“, heißt es in der Stellungnahme zum Richtlinienentwurf. „Tatsächlich befinden sich die Unternehmen in einem Dilemma: Pandemie und Krieg haben die Bedeutung resilienter Lieferketten gelehrt. Unternehmen wollen und sollen ihre Bezugsquellen und ihre Produktion möglichst diversifiziert über viele Länder verteilt aufstellen, um ihre Risiken zu streuen”, so Philipp Nüßlein. „Bei der Erfüllung von Sorgfaltspflichten, insbesondere den 22 zu beachtenden Menschenrechts- und sieben Umweltkonventionen, bringt das aber erheblichen zusätzlichen Aufwand mit sich. Viele Unternehmen werden sich also eher auf wenige Zulieferer in wenigen Ländern beschränken.“
Renate Nikolay, Kabinettschefin der EU-Kommissarin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung, Věra Jourová, sieht noch Spielraum für Änderungen am bisherigen Entwurf: „Der Legislativprozess in der Europäischen Union findet niemals losgelöst vom aktuellen Zeitgeschehen statt. Daher wird die geopolitische Gesamtsituation sicher auch in den Verhandlungen zu dem Kommissionsentwurf eine Rolle spielen. Die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, die steigenden Preise und die Sorge um die Inflation werden aus meiner Sicht den Blick schärfen, verhältnismäßige Lösungen für die Unternehmen auch in diesem Richtlinienentwurf zu suchen.“ Sie sei zuversichtlich, so Renate Nikolay, dass die EU mit ihrem größten gemeinsamen Markt und den mehr als 450 Millionen Verbrauchern auch künftig für internationale Partner attraktiv bleiben werde. „Die ausländischen Unternehmen werden sich anpassen, wie sie es schon bei anderen Regeln wie Datenschutz oder Verbraucherschutz getan haben.“
Die Verabschiedung der europäischen Richtlinie wird nicht vor Mitte 2023 erwartet. Danach steht den EU-Mitgliedsstaaten ein Maximum von zwei Jahren zu, um sie in nationales Recht umzusetzen.
Für wen soll das europäische Lieferkettengesetz gelten?
Der aktuellen Richtlinie zufolge sollen Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern und einem weltweiten Jahresumsatz von mindestens 150 Millionen Euro unter das EU-Gesetz fallen (Gruppe 1). In Branchen, in denen ein erhöhtes Risiko für Verstöße besteht, gelten die Pflichten ab 250 Mitarbeitern und 40 Millionen Euro Mindestumsatz (Gruppe 2). Auch Firmen aus Drittstaaten, die in der EU einen Umsatz in Höhe von Gruppe 1 oder Gruppe 2 erwirtschaften, wären betroffen. Nach Schätzungen der EU-Kommission handelt es sich um etwa 13 000 Unternehmen in der EU sowie 4000 aus Drittländern. Kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) sind vom Gesetz ausgenommen, könnten als Zulieferer aber indirekt involviert sein.

Was droht bei Verstößen?
Die jeweiligen EU-Mitgliedstaaten entscheiden darüber, welche Strafen sie bei Verstößen verhängen. Laut Richtlinie müssen die Sanktionen „wirksam, abschreckend und verhältnismäßig“ sein. Bei mangelhafter Erfüllung der Sorgfaltspflichten können Europäische Unternehmen können zudem von Arbeitnehmervertretern, NGOs oder Geschädigten für Missstände entlang der Lieferkette verklagt werden.

Wann wird das EU-Gesetz in Kraft treten?
Im Februar 2022 hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Richtlinie zu Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit veröffentlicht. Dieser muss nun das EU-Gesetzgebungsverfahren durchlaufen. Nach der Annahme durch das Europäische Parlament und den Ministerrat haben die EU-Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen und bereits bestehende Gesetze anzupassen.

Wo gibt es Hilfe?
Der „Helpdesk Wirtschaft & Menschenrechte“ der Agentur für Wirtschaft und Entwicklung (AWE) bietet Unternehmen, die ihre Liefer- und Wertschöpfungsketten umweltschonend und sozialverträglich gestalten möchten, kostenfreie Beratung sowie Schulungen und Infomaterial an. Die Initiative der Bundesregierung stellt auch kostenfreie Tools wie den KMU Kompass oder den CSR Risiko-Check zu Verfügung, mit denen sich Nachhaltigkeitsrisiken bewerten und managen lassen.
Martin Proba
Geschäftsbereichsleiter
Bereich: Unternehmen und Standort
Axel Scheer
Teamleiter
Bereich: Unternehmen und Standort
Themen: Team International