Herzensküche vom Feinsten

Wer Freude am Knobeln hat, der kann sich die Speisenfolge im Restaurant Harzfenster noch mit einer Rätselei garnieren. Machen Sie es so: Einer am Tisch hat die Hoheit über die Menükarte und verliest vor jedem Gang nur die Überschrift zu selbigem. Ein Beispiel: „Jochen“. Reimt sich auf Kochen. Bevor Sie das hinausposaunen, gehen Sie kurz in sich und überlegen, ob dieser Einlassung nicht eine Prise origineller Würze fehlen könnte. Wenn währenddessen Ihre Begleiterin auf Zack war und in verzückter Erwartung dessen, was da wohl gleich serviert werden wird, „Rochen“ gehaucht hat, seien Sie ein guter Verlierer. Und trösten sich damit, dass auch Sie in den Genuss von Rochenflügel, Limonensauce, Aubergine und Couscous kommen werden.
Diese kleinen, gewitzten Spielereien auf der Menükarte, die überhaupt nicht albern und manchmal sogar erst zu lösen sind, wenn man um zwei Ecken denkt, erzählen zweierlei. Nämlich, dass sich hier jemand mit kreativer Lust und Leichtigkeit in der Küche auslebt. Und dass bei aller professionellen, ernsthaften Auseinandersetzung und Verarbeitung mit und von erlesenen, hochwertigen Produkten der Spaß nicht flöten gehen sollte.

Erfahrungen bei fünf Sterneköchen gesammelt

Der Name für das Gourmetrestaurant ist gut gewählt. Die Stadt Seesen vermarktet sich als Fenster zum Harz, das Harzfenster wiederum liegt oberhalb der kleinen Stadt, und durch die großen Fenster hat man einen hervorragenden Blick auf die Landschaft. Chef in der Küche ist Johannes Steingrüber. Er ist 28 Jahre jung, schon als Kind hat er sich an mehr versucht, als den Inhalt einer Dose Ravioli zu erwärmen. „Die Leidenschaft zum Kochen und Backen hatte ich gefühlt schon immer.“ Mit 16 ging’s in die Lehre in die Rothen Forellen in Ilsenburg. Wenn man sich auf der Website des Harzfensters durch seine Vita scrollt, fasst man diese am besten kompakt so zusammen: In seinem Jahrzehnt der Wanderschaft bereiste der heutige Küchenchef insgesamt sechs Bundesländer, absolvierte seinen Meister und stand dabei in den Küchen von fünf Sterneköchen. Respekt.
Als wir uns im klar strukturierten, im besten Sinne des Wortes aufgeräumten und auch farblich keineswegs überladenen, lichtdurchfluteten Gastraum zusammensetzen, holt Steingrüber seinen Restaurantleiter Marcel Schmidt mit an den Tisch. Und man spürt, dass die Leichtigkeit und der Pfiff auf der Menükarte keine Behauptung sind. Sondern gelebt werden.
Dass der Umgang gerade in der Sternegastronomie vor Zeiten, formulieren wir es mal diplomatisch, ein eher ungehobelter war, ist nicht erst seit etlichen Enthüllungsreportagen und Investigativrecherchen bekannt. Auch Steingrüber hat von Küchen gehört, in denen nicht nur mit Handtüchern, sondern schwereren Kalibern geworfen wurde. „Aber der Ton hat sich in den letzten Jahren geändert.“

Fliegende Pfannen sind für die Motivation nicht so doll

Für ihn ist ein respektvoller Umgang und eine Atmosphäre, in der bei aller Hektik auch mal ein Spaß drin sein muss, unerlässliche Grundlage seiner Kochkunst. „Wenn du für zwei Leute kochst, mag das Klima vielleicht egal sein. Aber wenn du für viele kochst, dann ist ein tolles Team alles.“ Und fliegende Pfannen sind für ein motivierendes Arbeitsumfeld eben nicht so doll.
Mit ihm steht ein weiterer Koch in der Küche, eine Küchenhilfe geht den beiden zur Hand, im Service arbeiten sie zu zweit. Aushilfen komplettieren den Mitarbeiterstamm. 28 Gäste kommen je Abend in den Genuss der kreativen Ideenvielfalt des jungen Mannes, der schon über eine beachtliche Auswahl an Auszeichnungen verfügt: sechseinhalb Pfannen im Gusto sowie die Erwähnung unter den Top 10 der new Generation, drei Bestecke im Schlemmeratlas und zwei Saphire sowie einen Küchentipp im Varta-Führer.
Wie lässt sich nun das Konzept des Harzfensters beschreiben? „Kreativ, raffiniert, modern, regional mit einem Hauch von Welt.“ Das klingt alles verheißungsvoll, aber auch ein bisschen austauschbar. Aber dieser Satz, den wir auf der Website aufstöbern, der bringt Steingrübers Anspruch auf originellere und warmherzige Weise auf den Punkt: „Wir sind erst dann zufrieden, wenn du am liebsten nicht nach Hause gehen möchtest.“

Was mag wohl bei „After eight“ auf dem Teller sein?

Als kleinen Zwischengang würde ich den Lesefluss gern noch mal mit einem Rätsel spicken: Was wird wohl unter der Überschrift „After eight“ auf dem Teller sein? Ein Arrangement zartester Zartbitterminztäfelchen wohl kaum. Na, kommen Sie drauf? Es ist Lamm mit Minz-Kräuter-Jus. Ein Hauptgang aus dem Jahresauftaktmenü.
Im Harzfenster, wo sich Steingrüber und sein Kollege auf den Tellern selbst verwirklichen, wo Kreationen mit asiatischem oder mediterranem Einschlag schon mal im nachfeierabendlichen Brainstorming entwickelt werden, wenn einer eine Zutat – nur verbal! – wie einen Ball aufs Spielfeld kickt und die anderen dann im kreativen Schnellpassspiel eine Speise ersinnen, bereitet man den Gästen am liebsten „ein komplettes Erlebnis“. Heißt: Im Idealfall lässt sich der Gast auf das ­Sieben-Gänge-Menü ein. Wer es bei vier Gängen belassen möchte, zahlt moderate 92 Euro.
Wir sind erst dann zufrieden, wenn du am liebsten nicht nach Hause gehen möchtest.

Gehoben der Anspruch, locker der Umgang

Steingrüber ist in Bad Gandersheim geboren, 1973 eröffneten seine Großeltern das jetzige Hotel Görtler als Frühstückspension oberhalb von Seesen. Seit elf Jahren führt es seine Mutter Annette, vor knapp einem Jahr eröffnete Sohn Johannes im ehemaligen Saal das Harzfenster als „schickes Gourmetrestaurant mit Wohnzimmerfeeling“. An der Seite von Marcel Schmidt kümmert sich auch sein Vater um das Wohl der Gäste. Exzellenter Service mit einer familiären Note sorgt für entspannte Atmosphäre bei Kerzenschein. Und der Restaurantleiter kommt nicht mehr wie einst als förmlich unterkühlter Zeremonienmeister daher, sondern im mintfarbenen Anzug mit Polohemd und Sneakern. Gehoben der Anspruch, locker der Umgang.
Steingrüber hat sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Mit allem Drum und Dran. Er kann Veranstaltungen mit ein paar hundert Essen wuppen, er versteht sich auf große Büfetts, Gourmet und à la carte, er weiß, wie eine Käseplatte fürs Frühstücksbüfett auszusehen hat. „Das sollte man schon alles draufhaben“, sagt er. Denn eine Kaviarnocke auf den Teller zu setzen, sei zwar eine feine Sache. Aber ohne die Pflicht sei diese Kaviarkür nichts.

Gourmetküche heute: intensive, aber klare Aromen

Was zeichnet die Gourmetküche derzeit eigentlich aus? Purismus ist da laut ­Steingrüber das Stichwort zurzeit. Und Marcel Schmidt ergänzt: „Produktfokussierte Küche, zubereitet auf hohem Niveau.“ Das hochwertige Produkt gehe nicht in einem Sammelsurium aus Komponenten, einem Feuerwerk aus salzig, cremig, crunchy, süß und zig anderen Eindrücken unter, sondern sei bei allem kompositorischen Feinschliff auf dem Teller immer noch als solches erkennbar. „Intensive, aber klare Aromen.“
Steingrüber verlässt sich gern auf die Qualität regionaler Produkte wie beispielsweise der des Harzer Wagyu. Wild kommt ebenfalls aus dem Umkreis, einiges erlegt sein Vater selbst. Das Brot seines Bäckers hat zwei Tage Standzeit, wird dort nur angebacken. Im Harzfenster kommt es dann aus dem Ofen lauwarm auf den Tisch. Das sind Details, die Qualitätsunterschiede ausmachen.

„Im Letzten ist bei mir alles reine Bauchküche“

Woher nimmt er eigentlich seine Inspiration? Steingrüber lächelt: „Naja, ich bin ja schon viel rumgekommen.“ Will sagen: Da hat man schon Einiges im Köcher, hat einen Fundus, aus dem man kreativ schöpfen kann. Ab und an geht er gern bei Kollegen aus seiner Liga essen, das ist für ihn auch „Weiterbildung“. Und aus mancher Flachserei mit seinen Mitarbeitern und deren Erfahrungen ist auch ein neues Gericht entwickelt worden.
„Aber im Letzten ist bei mir alles reine Bauchküche“, sagt Steingrüber. Er folge seinem Gefühl, gehe nicht zu verkopft, sondern mit Leichtigkeit, unverkrampft an die Sache. „Oder nenn’ es Herzensküche“, sagt er noch und meint damit, dass nicht immer alles so kompliziert und überkandidelt sein muss. Das Produkt muss stimmen und hochwertig sein, was nicht automatisch gleichbedeutend mit extrem teuer sein muss. „Mein Koch hat neulich eine Soljanka gemacht. Köstlich. Herzensküche vom Feinsten.“
Sein Herzensgericht seit Kindertagen: Kartoffeln, Spinat und Spiegelei. „Das gab es bei uns oft freitags, katholisch geprägt eben.“ Schön verrührt alles, isst er dieses Leibgericht heute noch gern. Manchmal veredelt er es mit Trüffel oder Kaviar. Je nach Bauchgefühl. Immer mit Herz.
suja
1/2024