In die Zukunft mit der 4-Tage-Woche

Schon auf dem Parkplatz der Schokoladenfabrik begrüßt mich Geschäftsführer Thomas Seeliger aus dem Auto mit den Worten „Sind wir verabredet?“ Jau, zum Interview im Schokoladenhaus! Ein moderner, geschmackvoll eingerichteter Bau, der an die Räumlichkeiten in Berlin am Gendarmenmarkt, wo Rausch schon länger ein Schokoladenhaus betreibt, erinnert.
Das Werk in Peine, das 1983 als JR Die Schokoladen­fabrik GmbH entstanden ist, da die Produktion in Berlin zu klein wurde und man einen Standort im „Westen“ suchte, ist mit der Zeit auf ein Areal von 180 000 qm Fläche gewachsen. Heute beschäftigt das Familienunternehmen 300 Angestellte, im Wesentlichen in der Produktion. Berlin existiert weiter mit dem Schokoladenhaus am Gendarmenmarkt, hier ist die Schwestergesellschaft Rausch GmbH aktiv und konzentriert sich auf das Marketing und den Handel.
Gleich zu Beginn präsentiert Thomas Seeliger zusammen mit dem Leiter Personal und Organisation, Julien Wiegmann, den sogenannten Familienleitfaden. Ein Booklet, das 2018 entstanden ist, als sich die Schokoladenfabrik aus dem Tarifvertrag der Süßwarenindustrie verabschiedet hat. Bereits damals registrierte man erste Anzeichen des Fachkräftemangels, was der Grund war, sich von einem für Arbeitnehmer wenig attraktiven Tarifvertrag zu lösen.
„Wir haben die unteren Entgeltgruppen im Zuge der Einführung der 4-Tage-Woche gestützt.“
Julien Wiegmann

„Die 4-Tage-Woche: Warum machen wir das überhaupt?“  

Inzwischen spricht Seeliger nicht mehr vom Fachkräfte- sondern vom Arbeitnehmermangel. Anfang 2022 gab es in einer Brainstormingphase die Erkenntnis, dass – trotz vielfältiger Benefits für die Mitarbeitenden – die Rekrutierung immer schwieriger wird. „Das, was alle heute trägt, ist Zeit“, so die Erkenntnis von Thomas Seeliger und seinem Team. Die Mitarbeiterentwicklung stellte in zahlreichen Gesprächen mit Bewerberinnen und Bewerbern überrascht fest, dass bei den unter 30-Jährigen die Bereitschaft, mehr als 30 Stunden zu arbeiten, gegen Null läuft. Inzwischen sind von den 300 Mitarbeitenden rund 52 Prozent in der 4-Tage-Woche beschäftigt – mit steigender Tendenz. Neueinstellungen, die in der Produktion durch die Einführung der 4-Tage-Woche in Peine zum 1. Januar 2023 notwendig waren, werden nur noch in dem neuen Arbeitszeitmodell vorgenommen. Die reine Arbeitszeit hat sich um 20 Prozent von 38 Stunden auf 30,4 Stunden reduziert. Die daraus resultierende Entgeltanpassung wurde vom Unternehmen mit 10 Prozent bezuschusst, wobei es im Ermessen der Mitarbeitenden lag, das Modell anzunehmen. „Wir haben die unteren Entgeltgruppen im Zuge der Einführung der 4-Tage-Woche mit monatlich 50 Euro zusätzlich gestützt, was hier einen effektiven Ausgleich von 12 bis 13 Prozent entspricht“, so Julien Wiegmann. „Auch um Inflation und hohe Energiepreise etwas abzufangen.“

Drastisch gesunkene Krankenquote und eine deutlich höhere Zahl an Bewerbern

Motiviert durch den Erfolg der Maßnahme, aber auch auf Wunsch von Mitarbeitenden, hat der Schokoladenhersteller das Modell zum 1. Juli dieses Jahres auch am Standort Berlin eingeführt. Allein die Krankenquote hat sich in den vergangenen acht Monaten um 60 Prozent verbessert. Verglichen wurden hier die Mitarbeitenden in der 5-Tage-Woche mit denen in der 4-Tage-Woche. Auch die Zahl der Bewerbungen ist massiv gestiegen – um deutlich mehr als 400 Prozent. Wobei die Qualifikation der Bewerber nicht durchgängig gleichwertig war, denn es gab auch rein durch die 4-Tage-Woche motivierte Bewerbungen. Bezeichnend ist, dass der Anfang des Jahres durch die Einführung der 4-Tage-Woche entstandene zusätzliche Bedarf an Mitarbeitenden in der Produktion innerhalb von nur einem Monat ausgeglichen werden konnte. Insgesamt gibt es innerhalb der Belegschaft, gerade aber bei den jüngeren Mitarbeitenden, eine sehr hohe Akzeptanz dieser Maßnahme. Bei den älteren Mitarbeitenden, die kurz vor der Rente stehen und sich um ihre Entgeltpunkte bei der Rentenversicherung sorgen, nimmt die Akzeptanz hingegen tendenziell eher ab.
„Das, was alle heute trägt, ist Zeit.“
Thomas Seeliger

„In der Verwaltung haben wir aufgrund von Studien und auch meiner persönlichen Erfahrung mit der 4-Tage-Woche im Volkswagen-Konzern Anfang der 2000er-Jahre festgelegt, die fehlenden Stunden nicht durch Neueinstellungen zu kompensieren“, so Thomas Seeliger. „Das hat sich tatsächlich auch bewahrheitet! Und das ohne einen Anstieg der Überstundenkonten.“ Maßgeblich unterstützt hat diesen Erfolg die Einführung eines Werkzeuges zur digitalen Zusammenarbeit, wodurch eine Priorisierung der Aufgaben stattfindet und die Mitarbeitenden genau wissen, was in welcher Reihenfolge zu erledigen ist. So sind auch einige gewohnheitsmäßige Tätigkeiten, die eigentlich nicht nötig waren, weggefallen. Allerdings hat die Einführung und Akzeptanz, gerade in Bezug auf die so entstandene Transparenz – für jeden ist sichtbar, wer aktuell an welchen Themen arbeitet – bei den Beschäftigten auch einige Monate gedauert. „Ohne den Ansatz der kollaborativen Zusammenarbeit und der damit einhergehenden Produktivitätssteigerung hätte die 4-Tage-Woche in der Verwaltung nicht funktioniert“, resümiert Thomas Seeliger. Die Verwaltung macht außerdem die ersten Ansätze, KI-Tools zur Unterstützung einzusetzen, um die Effizienz weiter zu steigern und die Mitarbeitenden zu entlasten.
Während in der Verwaltung der freie Tag im Rahmen der 4-Tage-Woche in der Regel auf den Freitag fällt, um so eine längere Erholungsphase zu gewährleisten, besteht in der Produktion ein rollierendes System. Die Schokoladenfabrik produziert zwar weiterhin an fünf Tagen im 3-Schicht-System, das rollierende System führt aber auch hier für die Mitarbeitenden zu drei bis vier langen Wochenenden innerhalb eines Zeitraums von sechs Wochen. 
Dadurch hat die Schichtplanung insgesamt deutlich an Komplexität zugenommen. Aber dieser Mehraufwand ist notwendig, denn „die 4-Tage-Woche ist unser Arbeitszeitmodell für Wachstum und Flexibilität. Mit diesem Modell können wir erfolgreich dem Wachstum der Zukunft begegnen und die Gesundheit und Motivation unserer Mitarbeitenden fördern“, schließt Thomas Seeliger.
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7/2023