Eine Inklusionsgeschichte, die Mut macht

Joel Stegemann hat das Asperger-Syndrom und lernt in der Notarzt-Börse in Pogeez den Beruf Kaufmann für Büromanagement. Mit seiner besonderen Begabung startet er heute – nach früheren Rückschlägen – seine berufliche Karriere.
Klack, klack, klack: Der 22-jährige Joel Stegemann sitzt konzentriert vor dem Computerbildschirm und haut – salopp gesprochen – in die Tasten: „Das ist genau mein Ding und macht super Spaß!“, sagt der Auszubildende Joel. Er erstellt und kontrolliert Dienst- und Einsatzpläne für Notarzteinsatzfahrzeug-Standorte (NEF-Standorte) in ganz Deutschland. Ihm gegenüber sitzt seine 44-jährige Kollegin und Ausbilderin Sabrina Seideneck aus Lübeck, die seit drei Jahren in der Notarzt-Börse in Pogeez als Kundenbetreuerin arbeitet. Für beide ein toller Job, bei dem sie in dem traditionsreichen Fachwerkkomplex im Erlenhof in hellen, modernen und liebevoll gestalteten Büroräumen viel Spaß haben.
Alle 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Hauptsitz sind untereinander per Du – auch mit dem Chef Dr. André Kröncke. Vor 25 Jahren hat Kröncke das Unternehmen ins Leben gerufen. Heute ist es ein führender Anbieter notärztlicher Dienstleistungen in Deutschland. Das Unternehmen übernimmt im Auftrag von Kommunen, Kliniken und Rettungsdiensten die ärztliche Besetzung von Notarztstandorten, Sonderdiensten und medizinischen Leitstellen und vermittelt bundesweit Notärztinnen und Notärzte. Zudem werden alle hausärztlichen Praxen in den Landesunterkünften des Landes Schleswig-Holstein von der Notarzt-Börse betrieben.
Joel Stegemann fühlt sich nach wenigen Monaten in seinem ersten Lehrjahr schon fast wie zu Hause, und für ihn ist das alles nicht gewöhnlich, hier so reibungslos arbeiten zu können: „Das ist ein Geschenk vom guten Gott!“, sagt Joel mit einem erleichterten Lächeln. Grund: in seiner Schule in Mölln hatten ihm die Lehrerinnen und Lehrer ohne Ausnahme vorausgesagt, dass er niemals einen Ausbildungsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen wird. Er müsse davon ausgehen, dass er nur in einer Werkstatt für Menschen mit Handicap auf dem zweiten Arbeitsmarkt arbeiten könnte, deshalb hatte er auch nicht unbedingt damit gerechnet, dass er den Ausbildungsplatz bekommt.
Joel hat eine Begabung. Er kann etwas, was andere Menschen nicht können.
Joel Stegemann lebt mit dem Asperger-Syndrom, womit Lehrkräfte ähnlich wie bei ADHS-Kindern schon seit Jahren nicht klarkommen und ihre eigene Überforderung auf die Kinder projizieren. Aber nicht mit Joel Stegemann aus Mölln. Joel ist ein Kämpfer. „Er hat sich bei der Bewerbung um die Lehrstelle richtig angestellt und uns schlichtweg nach dreimaligen Probearbeiten überzeugt“, erinnert sich Kröncke. „Joel hat eine Begabung. Er kann etwas, was andere Menschen nicht können, und wie es bei vielen Genies ist, können sie einige Sachen nicht, die andere Menschen können. Die Blickweise darauf, dass man alles, was anders ist als die Norm, als eine ‚Krankheit‘ bezeichnet, sehe ich auch als Arzt kritisch: man brandmarkt diese Menschen, man stigmatisiert sie, und ich habe das Gefühl, dass Joel inzwischen erkannt hat, dass das, was er kann, auch eine Begabung ist.“
Von dieser Begabung profitiert auch die Ausbilderin Sabrina, die am engsten mit Joel zusammenarbeitet: „Joel macht genau das, was ich auch mache – er ist ein vollwertiges Mitglied hier, und das ist einfach ein entspanntes Arbeiten mit ihm“, sagt Sabrina Seideneck mit überzeugender Stimme. Sie betont, dass sie sich gegenseitig unterstützen: „Manchmal frage ich auch Joel, ob er meine Pläne und Abrechnungen nochmal kontrollieren kann, denn Joel kann sich super konzentrieren und diese Stärken, die er mitbringt, nutzen wir.“
Joel ist froh, dass er hier bei einem verständnisvollen Chef und empathischen Kolleginnen und Kollegen seinen Platz gefunden hat: Seine Inklusionsgeschichte in der Notarzt-Börse in Pogeez sollte Schule machen.
Autor: Dr. Thorsten Philipps
Veröffentlicht: 22. Juli 2025