Das Lebensgefühl Ausbildung entdecken

Azubis bis genießen die Zeit ihrer Ausbildung genauso, wie es Studenten tun. Doch wenn es um die besondere Zeit zwischen Schule und Beruf geht, kennt man nur das „Studentenleben“. Dabei ist das Leben als Azubi mindestens ebenso spannend.
1,25 Millionen Auszubildende gab es im Jahr 2021 in Deutschland. Die Zahl der Studenten lag im Wintersemester 2022/23 um eine halbe Million höher. Einer der Vorzüge an Hochschulen und Universitäten liegt darin, dass man sich mit der Fächerwahl meist noch nicht auf einen Beruf festlegt. Was dabei oft nicht beachtet wird: Auch die duale Ausbildung bietet eine Fülle möglicher Karrierewege, verbunden mit früher Berufspraxis. Und nicht nur das  Studentenleben gewährt die Freiheit, sich als junger Erwachsener auch abseits der Hörsäle und Kursräume selbst zu verwirklichen. Tobias Niebergall hat seine Ausbildung 2010 abgeschlossen. Zwei Jahre später hat er e3n gegründet – heute ist er Co-Geschäftsführer des Mainzer Softwareentwicklers. „Für mich war die Ausbildung der deutlich bessere Weg, weil ich mehr der breit gefächerte Generalist und Praktiker war“, sagt der Fachinformatiker, der in einem kleinen IT-Systemhaus gelernt hat – und vom ersten Tag an mit zum Kundeneinsatz durfte. „In meiner Entwicklung zu dem Unternehmer, der ich heute bin, wurde mir bei der Ausbildung vieles ermöglicht, was im Studium eher auf der theoretischen Ebene geblieben wäre“, sagt Niebergall. Bald fuhr er allein raus, übernahm Verantwortung, kümmerte sich um die Entstörung von Systemen, den Aufbau von Netzwerken.
Niebergall hatte überlegt, eine Ausbildung zu machen oder zu studieren. „Ich habe mich dann sehr bewusst entschieden, mit Fachabitur von der Schule abzugehen und mit einer Ausbildung die Grundlage für ein FH-Studium zu schaffen“, berichtet er. Tatsächlich schrieb er sich nach der Lehre auch zum Fernstudium Technische Informatik ein, was aber wegen der Unternehmensgründung gemeinsam mit seinem Bruder bald in den Hintergrund trat. Die Ausbildung hatte schon alle notwendigen Kenntnisse vermittelt. In dem kleinen Unternehmen war man auch als Azubi dicht dran am Chef, lernte viel über Führung. „Wenn, würde ich heute berufsintegriert studieren“, sagt Niebergall.

„Der Allrounder in mir wurde geweckt“

Auch Aidien Assefi, Gründer der Social-Shopping-Plattform Anytips, hat seine Ausbildung als Sprungbrett zur Unternehmensgründung genutzt. Bei seiner Lehre in einem Elektronik-Fachmarkt, meist im Verkauf, auch an der Kasse, stieg die Verantwortung deutlich, als der Abteilungsleiter das Unternehmen verließ und dessen Stelle offen blieb. „Ich hatte den Druck, alles am Laufen zu halten“, erzählt der Mainzer. „In der Ausbildung hätte ich gesagt, es war eine stressige Zeit. Nach der Ausbildung war ich für die Erfahrungen sehr dankbar. Der Allrounder in mir wurde geweckt.“ Es galt, mit ganz unterschiedlichen Menschen klarzukommen, den Wünschen gerecht zu werden, auch die eigene Sprachhaltung anzupassen, wenn erst ein Kunde mit der Begrüßung „Hey Bruder“ eine Boombox sucht und dann in der HiFi-Abteilung ein anderer die großen Summen in die Hand nimmt.
Was Assefi aus seiner kaufmännischen Ausbildung an Menschenkenntnis und Geschäftssinn mitnahm, half bei der Gründung. Heute würde er sich wieder für eine Ausbildung entscheiden – oder allenfalls, genauso wie Niebergall, das duale Studium wählen, so wie einige seiner Kollegen während der Lehre. Der Unternehmersohn spricht von wichtigen Lebenserfahrungen, von denen er heute noch profitiert: „Ich konnte ein Verständnis dafür entwickeln, was für unterschiedliche Menschen wichtig ist. So konnte ich mich beispielsweise auch besser auf Investorengespräche vorbereiten.“ Während ihrer Lehrzeit haben beide Unternehmer ihre Freiheiten genossen. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich keine Zeit mehr zum Leben habe“, sagt Niebergall. Acht Stunden im Betrieb oder Blockunterricht an der Berufsschule, das gab viel Freiraum. „Ich hatte nie das Gefühl etwas zu verpassen. Man lernt sich besser zu strukturieren.“ Gerade im Blockunterricht entstanden enge Freundschaften, die jenen aus der Schulzeit in nichts nachstehen. Auf andere Kontakte kann Niebergall heute als Unternehmer zurückgreifen. Mit seinem Ausbilder tauscht er sich noch heute aus. „Ich hatte auch einige Studenten im Bekanntenkreis. Vom Arbeitspensum her war es kein großer Unterschied. Ich würde diesen Weg jederzeit wieder wählen – auch mit einer Ausbildung hält man sich alle Wege offen.“
„Glücklicherweise musste ich nicht zu viele Überstunden machen und konnte sie abbauen“, sagt Assefi. Früh- und Spätschichten sowie Samstage im Dienst verkomplizierten das Freizeitverhalten, aber genügend Zeit für die Freunde blieb. Seine eigene Ausbildung machte Lust darauf, selbst auszubilden. „Ich habe Spaß daran, mein Wissen weiterzugeben“, sagt Assefi, der schon im zweiten und dritten Lehrjahr neuere Azubis unter seine Fittiche nehmen sollte. Auch aus dieser Erfahrung heraus hat er im eigenen Start-up einen E-Commerce-Azubi eingestellt. „Aber man sollte die Zeit haben und einen Azubi nicht als billige Arbeitskraft holen.“

Günstiger Eintritt mit der AzubiCard

Ihre Ausbildung sehen beide Unternehmer als lehrreiche, wegweisende Zeit. Und wie ist es, wenn man mittendrin ist? Offenbar können auch junge Menschen, die diesen Abschnitt gerade durchleben, ihre Ausbildung genießen. „Ich habe es mir stressiger vorgestellt“, sagt zum Beispiel Ilhan Ercan. Der 17-jährige Mainzer macht seine Ausbildung bei der Schott AG, ist Azubi-Blogger und beteiligt sich genauso wie die Eura-Mobil-Lehrlinge Veronica Keiper und Pascal Kirchner an der Rheinland-Pfalz-weiten Durchstarter-Kampagne.
Bei der Ausbildungskampagne der Industrie- und Handelskammern stellen Auszubildende sich und ihre Berufe vor, es gibt Bewerbungstipps und Infos rund um Gehalt, Ausbildungszeit und die Frage, wie es nach der Ausbildung weitergeht. „Ich habe sehr coole Kollegen und viel Freizeit, das hätte ich in der Schule nie gedacht“, sagt Ercan. „Die duale Studentin in meiner Klasse erzählt dasselbe.“
Der angehende Elektroniker für Automatisierungstechnik hat nach der zehnten Klasse die Realschule Plus verlassen und schnell ein komplett neues Umfeld gefunden, einen neuen Freundeskreis. Drei Mal die Woche geht er mit Kollegen ins Fitnessstudio, Kino, Bowling oder Restaurantbesuche
stehen jedes Wochenende auf dem Programm – oft vergünstigt dank der AzubiCard, die kostenfrei an die Lehrlinge auch in Rheinhessen geht. Meist hat Ercan gegen 15 oder 15:30 Uhr Feierabend. „Aber mein Kopf ist gefühlt immer bei der Arbeit, weil es mir Spaß macht“, erzählt der 17-Jährige. Zwischen 30 und 60 Minuten wendet er daheim für Nachbereitung und Lernen auf. Bei so viel Enthusiasmus war es auch keine Frage, dass er sich als Azubi-Blogger einbringt, um zu zeigen, wie spannend das Leben in der Lehre ist.
Völlig unschlüssig war sich Veronica Keiper anfangs, was sie nach dem Abi an der Integrierten Gesamtschule in Bad Kreuznach machen sollte. Die angehende Holzmechanikerin dachte über ein Studium nach. Aber welche Fächer? „Ich war immer schon eher praktisch veranlagt und dachte mir, ich kann auch später studieren“, erzählt sie. Ein Freund machte es vor: erst Lehre, dann Studium, mit viel mehr Lebens- und Berufserfahrung. Nun ist sie im zweiten Lehrjahr.
„Wir bauen Möbel für Wohnmobile. Das ist sehr abwechslungsreich“, sagt die 22-Jährige, die sich in der Berufsschule an ihre alte Schulzeit erinnert fühlt. „Man durchläuft die gesamte Firma, sieht den gesamten Herstellungsprozess.“ Dabei halte sich der Stress in Grenzen. „Das ganze Wochenende ist frei, wenn man nicht lernen muss.“ Morgens früh raus, das sei mühsam. „Aber ich fühle mich wohl, habe viele neue Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen, unternehme an den Wochenenden viel mehr. Und jetzt habe ich Routine drin, vorher war ich chaotisch. Die Ausbildung hilft mir persönlich.“

Den Zusammenhalt wird er vermissen

Keipers Azubi-Kollege Pascal Kirchner hatte nach der zehnten Klasse auf dem Gymnasium keine Lust mehr, die Schulbank zu drücken. „Ich wollte lieber etwas Praktisches machen.“ Erst mit dem Moped, nun mit dem Auto geht es jeden Tag aus Kriegsfeld nach Sprendlingen zum Reisemobil-Hersteller. Die Berufsberatung gab den Ausschlag, auf Praktikum folgte Lehre. Inzwischen steht die Abschlussprüfung kurz bevor, die Übernahme in Aussicht. „Ich kann hier in der Schreinerei in die Schichtarbeit“, sagt der 19-Jährige, „das ist das, was ich am liebsten wollte“.
Die anfängliche Überlegung, nach der Lehre zu wechseln, hat Kirchner fürs Erste ad acta gelegt. Der Schritt in die Ausbildung sei für ihn der richtige gewesen. Unlängst feierte er mit, als seine alten Schulfreunde ihr Abi hinter sich gebracht hatten. „Das ist noch mal ein anderer Zusammenhalt als in einer Berufsschulklasse“, sagt Kirchner. „Aber ich hatte immer Freizeit, mehr als die Schulfreunde. Ich komme gegen 16 Uhr heim, habe eine entspannte Zeit und muss mir nicht viele Gedanken über Schulnoten machen.“
Im Verein spielt er Fußball und Volleyball, am Wochenende geht es nach Kaiserslautern auf den Betzenberg, abends mit Freunden in die Stadt. Die Wochenenden stecken voller Freizeit. Unter der Woche wird dreimal trainiert, bei genug Freiraum für Freunde und Familie. Den Zusammenhalt unter den Azubis im eigenen Pausenraum wird er vermissen. „Mir war sehr wichtig, in einen Betrieb zu kommen, in dem es auch andere Azubis gibt.“
„Wenn man den richtigen Beruf für sich findet, kann ich die Ausbildung auf jeden Fall empfehlen“, sagt Ilhan Ercan, „es ist eine komplett andere Atmosphäre in der Klasse. Wir suchen uns ja das aus, was wir wollen. Aber jeder muss für sich recherchieren, welcher Beruf der richtige ist, das ist das A und O“.

Tipps für Fachkräfte

Für die Ausbildung begeistern

Die erste bundesweite Azubi-Kampagne der IHKs unter dem Motto Jetzt #könnenlernen ist eine Einladung an alle Schüler, Studienabbrecher und Umsteiger, das Lebensgefühl Ausbildung zu entdecken und mehr über die Chancen zu erfahren, die in einer Ausbildung stecken – natürlich von IHK-Azubis selbst. Die Botschaft: Ausbildung macht mehr aus uns. Das Ziel: Im ganzen Land ein neues Bewusstsein für das Thema Ausbildung schaffen und so dabei helfen, Betriebe und den Fachkräftenachwuchs zusammenzubringen. Kontakt für Betriebe in Rheinhessen, die sich beteiligen und mit für die
Ausbildung werben möchten:
Merve Burhan, Telefon 06131 262-1650,
merve.burhan@rheinhessen.ihk24.de
ausbildung-macht-mehr-aus-uns.de

In die Ausbildung starten

Durchstarter ist das Ausbildungsportal der vier Industrie- und Handelskammern in Rheinland-Pfalz. Hier berichten Auszubildende über ihre Berufe und ihren Alltag, auch auf den Social-Media-Kanälen Instagram und TikTok. Hier geht es um Berufswahl, Bewerbungsunterlagen, Ausbildungsberufe, Ausbildungsvergütung und IHK-Angebote und Ansprechpartner direkt vor Ort.
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Nach der Ausbildung weitermachen

Aufsteiger ist das Weiterbildungsportal der vier Industrie- und Handelskammern in Rheinland-Pfalz. Hier geht es darum, wie es nach der Ausbildung weitergeht. Hier wird über Fortbildungs- und Meisterlehrgänge auf Bachelor- und Masterniveau informiert, und ebenso über finanzielle Fördermöglichkeiten.
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TORBEN SCHRÖDER, FREIER JOURNALIST
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