Künstliche Intelligenz aus Potsdam

Ein Start-up für mehr Verkehrssicherheit

Start-ups sind technologiebasierte Unternehmen mit einem neuartigen, innovativen Produkt und ambitionierten Entwicklungszielen. Die IHK Potsdam unterstützt Start-ups in Brandenburg in der Gründungs- und Wachstumsphase. In einer Serie stellt FORUM solche Unternehmen vor. Heute: ROADIA aus Potsdam.
Die Europäische Union hat sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Im Rahmen der so genannten Vision Zero soll die Zahl der Verkehrstoten bis 2050 auf null reduziert werden. Dazu will die ROADIA GmbH in Potsdam einen entscheidenden Beitrag leisten. Als sich Tobias Fischer gerade noch auf dem Fahrrad halten konnte, nachdem er viel zu eng und zu schnell überholt wurde, stellte er sich eine Frage, die sich hunderte andere Fahrradfahrer auch regelmäßig stellen. Was soll das? Und noch viel entscheidender, was kann man dagegen tun? Tobias Fischer erkannte, eine konsequente Aufklärung über die Risiken, besonders in Hinblick auf die schwächeren Verkehrsteilnehmer, wäre nötig. Doch zuerst einmal muss man solche Gefährdungen erkennen und nachweisen. Schnell wurde klar, dass bloße Gespräche mit jedem Einzelnen, der andere gefährdet, ausufern und obendrein nicht sonderlich zielführend sein würden. „Ich kann nicht mit jedem einzelnen sprechen, aber ich wollte eine Lösung entwickeln, mit Hilfe derer man den Verkehr nachhaltig sicherer machen könnte. Dafür braucht es ein Gerät, das solche Ereignisse aufzeichnen kann. Das ist, woran wir tagtäglich arbeiten.“ Die Technik soll leichter zu handhaben sein, als bisherige Systeme und die Budgets der Kommunen schonen. Die ROADIA GmbH in Potsdam hat ein optisches System entwickelt, welches gegenüber Laser und Radar einige Vorteile besitzt. Bei dem neuen Messgerät werden die Fahrzeuge durch ein System von optischen Komponenten erfasst und deren Geschwindigkeit mittels Methoden der künstlichen Intelligenz ermittelt.

Drei Physiker als Gründer

Tobias Fischer ist Ideengeber und technischer Leiter der ROADIA GmbH. Er erstellte vorher 3D-Simulationen aus Drohnenaufnahmen, anhand derer Bemaßungen von Objekten, zum Beispiel Sendemasten, präzise erfasst werden können. Ein ähnliches Prinzip macht sich das Unternehmen nun zunutze, um Geschwindigkeiten und Abstände zu kalkulieren.

Fischer organisierte sich Unterstützung von zwei Weggefährten, die er in seiner Laufbahn kennen gelernt hatte. Sein ehemaliger Vorgesetzter Dr. Mykhaylo Filipenko kümmert sich als CEO der ROADIA GmbH um die Unternehmensentwicklung. Er forschte bis 2019 bei Siemens an der Technologie des elektrischen Fliegens und baute bei dem Konzern ein Team rund um die Thematik auf, das er einige Jahre leitete. Nach dem Verkauf der Unternehmenssparte an Rolls-Royce entschied er sich, ein Sabbatical einzulegen. „Als mich Tobias anrief, war ich gerade in Kolumbien. Nach kurzer Überlegung dachte ich, das könnte funktionieren! Also setzte ich mich in den nächsten Flieger nach Deutschland“, sagt Filipenko.

Um ein funktionierendes Unternehmen aufzubauen, holten sie sich Markus Hantschmann mit ins Boot, der zuvor in Cambridge tätig war. „Die Idee hat mich von Beginn an fasziniert. Nicht nur dass man im Hier und Jetzt bereits etwas verändern kann, auch für die Zukunft haben wir ambitionierte Pläne. Wir wollen die Sensorik für die Stadt der Zukunft liefern.“ Das Gründer-Trio war komplett und verlor keine Zeit. Vor ungefähr einem Jahr hatten sich die Drei zusammengefunden. Inzwischen hat das Unternehmen knapp 20 Mitarbeitende. Erste Projekte, unter anderem für das Land Schleswig-Holstein, wurden bereits erfolgreich umgesetzt.

Businessplan

Businesspläne sind für Start-Ups zumeist mit Unsicherheiten verbunden. ROADIA kann diese Prognosen jedoch sehr selbstbewusst wagen. „Die Preise für Geschwindigkeitsmessanlagen in der EU werden zum Großteil veröffentlicht. Ein stationärer Blitzer kostet bis zu 250 000 Euro, wobei Tiefbau und die Elektroinstallation die teuersten Posten sind. Die optischen Geschwindigkeitsmesssysteme der ROADIA GmbH bieten aufgrund ihrer Bauart einige Vorteile bei der Aufstellung. Da es sich um ein passives System handelt, können auch in diesem Bereich flexiblere Preismodelle angeboten werden. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu herkömmlichen Radar- und Laser-Varianten, die als aktive Systeme immer einen Sender und einen Empfänger brauchen.

Gründung unter Corona-Bedingungen

Im August 2020 erfolgte eine Corona-Gründung: Tobias Fischer war zu dieser Zeit in Berlin, Markus Hantschmann in München und Mykhaylo Filipenko in Kolumbien. Aber es gab genug zu tun, was sie auch im Homeoffice erledigen konnten – zum Beispiel den geeigneten Unternehmenssitz zu finden. Zur Wahl standen die Ballungsgebiete München und Berlin. Die Entscheidung der Gründer fiel aufgrund des starken Start-up Ökosystems auf die Metropolregion Berlin-Brandenburg.

Willkommen in Potsdam

Nach fünf Monaten in Berlin bezog das Unternehmen im Mai 2021 Büros in der Medienstadt Babelsberg. Die wichtigsten Faktoren für den Umzug waren die Aufnahme in den Media-Tech Hub Potsdam und die Landesförderung aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, die sich daraus ergeben hat. Das ist ein Angebot des Bundes für Unternehmen, die in Potsdam visuelle und Videotechnik für neue Anwendungen nutzen wollen, zum Beispiel in der Industrie oder bei der Bauplanung. Sie bekommen Anleitung, wissenschaftliche Begleitung und kostengünstige Mieten. Das daraus erwachsende Netzwerk war für die Gründer ein weiteres Argument für Potsdam, sie sind aber auch an der Kooperation mit klassischer Industrie interessiert. Zudem bietet die optimale logistische Anbindung viel Potenzial für die Zukunft.

Partner für klassische Industrie

Zurzeit bestückt das Unternehmen seine Boxen noch selbst mit der Hardware. „Wir prüfen derzeit, welche Produktionsteile wir möglicherweise auslagern und welche wir in eigener Wertschöpfung erhalten. Vieles hängt von den Stückzahlen ab, die in Zukunft nachgefragt werden“, sagt Markus Hantschmann.

Technologiebasierte Start-ups wie ROADIA sind eine Chance für den Wirtschaftsstandort insgesamt. Die IHK will sie in der Wachstumsphase besser begleiten und verstärkte sich darum 2020 mit Felix Mohn in der neu geschaffenen Funktion als Referent für Gründung und Start-ups. Gemeinsam mit RegionalCenter-Leiter Dr. Daniel Hönow besuchte er im Sommer 2021 ROADIA und stellte die Leistungen der IHK vor zum Beispiel das Know-how bei der Erschließung internationaler Märkte.

Internationale Bescheinigung der IHK

Bei der ROADIA GmbH ging es bereits konkret um Ausstellungsstücke für mögliche Kunden in den USA. Die so genannten Carnet ATA werden in Deutschland von den IHKs ausgestellt. Damit bürgt die Kammer dafür, dass die Aussteller ihre Beratungsstücke wieder in die EU zurückbringen. Dieser Reisepass für Sachen vereinfacht die Überführung. Die ROADIA GmbH hat ihre Entwicklungen bereits international präsentiert, in der EU, aber auch über ihre Grenzen hinaus. „Wir werden das Auslandsgeschäft langsam aufbauen. Zunächst stehen Kunden in Deutschland im Vordergrund, deren Wünsche und Bewertungen die Entwicklung der Technik maßgeblich mit vorantreiben werden“, sagt Mykhaylo Filipenko. „Wir haben einen großen Vorteil, unsere Agilität. Wir können gezielter und flexibler auf Kundenwünsche eingehen, als das große Unternehmen können“, ergänzt Tobias Fischer.

Verkehrszählung in Schleswig-Holstein

Verkehrszählungen werden teilweise noch immer manuell per Strichliste durchgeführt. Für eine zweispurige Straße sind beispielsweise zwei Menschen nötig. Die ROADIA GmbH gewann im Juni 2021 die Ausschreibung für die Bundesverkehrszählung in Schleswig-Holstein und stand vor der Herausforderung, dafür zeitnah über 100 Geräte zur Verfügung zu stellen. Diese liefern nur anonymisierte Bilder, die keinerlei personalisierte Daten erhalten. „Datenschutz ist für uns bei ROADIA ein zentraler Aspekt“, so Mykhaylo Filipenko. Das Material wird mittels intelligenter Software ausgewertet und ermöglicht eine sehr detaillierte Datenerfassung. So können Fahrräder, Lkws oder Fußgänger getrennt erfasst werden. Der Auftrag war eine logistische Herausforderung. Das Start-up beschäftigte 20 Mitarbeiter in Teilzeit, um die Geräte zeitgleich anzubauen und zu betreiben.

GovTech-Gruppe als Investor

Der Erfolg bei der europaweiten Ausschreibung kam mit Hilfe eines Unternehmens zustande, das seit über 20 Jahren Software und digitale Lösungen für Behörden anbietet. Über ihren Geschäftsbereich Ventures ist die GovTech-Gruppe im Mai 2021 mit einer Beteiligung bei dem Potsdamer Start-up eingestiegen. Die ROADIA GmbH kann somit bei der Angebotserstellung vom Know-how und dem Ansehen der Unternehmensgruppe bei den Behörden profitieren.

Die Gründer

Tobias Fischer ist als CTO der Cheftechniker des Softwareteams, Mykhaylo Filipenko kümmert sich um Ziele und Strategie und repräsentiert als CEO das Unternehmen. Markus Hantschmann ist als COO für das Tagesgeschäft verantwortlich. Die Hierarchien sind Start-up-typisch flach, doch eine gute Koordination ist bereits in diesem Stadium unerlässlich. Teammeetings für die Bereiche Softund Hardware sowie ein wöchentliches Meeting, in dem alle Mitarbeiter des Unternehmens zusammenkommen, werden genutzt, um die wichtigsten Themen zu besprechen. Im März 2021 stellten die Gründer ihren ersten Kollegen ein, inzwischen sind 16 Mitarbeitende und zwei Werkstudenten aus acht Ländern in der Firma beschäftigt, alle haben einen Hochschulabschluss. Fachthemen werden in englischer Sprache diskutiert, persönliche Gespräche auf Deutsch geführt. Integration ist bei ROADIA ein zentrales Thema. Mykhaylo Filipenko, der selbst ukrainische Wurzeln hat, weiß, wie wichtig Sprache in diesem Zusammenhang ist. „Wir wollen die besten Leute, um unsere Vision in die Tat umzusetzen. Wissen kennt keine Grenzen und keine Sprachbarrieren. Auch in diesem Punkt wollen wir mit gutem Beispiel vorangehen und andere Unternehmer inspirieren,“ so Filipenko.

Das Team findet sich

Die Gründer haben ihr Team über Jobbörsen und Headhunter gefunden. Einige ausländische Mitarbeiter sind über die BlueCard nach Deutschland gekommen, das ist die Beschäftigungserlaubnis der EU für Hochqualifizierte in Mangelberufen. „Der typisch deutsche Softwareentwickler bevorzugt große Konzerne wie Siemens wegen der sozialen Sicherheit, ausländische Mitarbeiter sehen das oft anders“, berichtet Mykhaylo Filipenko. „Das Start-up bietet auch Vorteile. Ein Ingenieur kann seine Entwicklung in der Anwendung erleben und schiebt nicht nur die technische Zeichnung oder den Codeblock weiter. Es ist die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. Die Beschäftigten haben mehr Gestaltungsmöglichkeiten, die große Verantwortung ist für viele vor allem auch eine Motivation. Während beim Konzern jeder ersetzbar ist, wird bei uns jeder Mitarbeiter geschätzt und leistet einen immensen Beitrag zum Gesamterfolg.“ Zur Attraktivität von ROADIA als Arbeitgeber tragen auch Virtual Shares bei, die bei einem Verkauf des Unternehmens wirksam werden und die Mitarbeitenden am Erlös beteiligen.

Neuer Bußgeldkatalog

Am 9. November ist in Deutschland der neue Bußgeldkatalog in Kraft getreten. Er sieht höhere Strafen für Raser und Drängler vor – genau jene Delikte, die mit den Lösungen von ROADIA erfasst werden können. Die neuen Bußgelder werden bei den Ländern und Kommunen die Nachfrage an Systemen steigern, wie sie ROADIA anbietet. „Das ist unser Markt, jedoch nicht unser Antrieb. Uns geht es um die Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr. Durch unsere Lösung wird es ermöglich, Geschwindigkeitsmessanlagen dort zu installieren, wo sie der Verkehrssicherheit dienen und es nicht nur darum geht, die Geräte zu refinanzieren. Es geht uns um die neuralgischen Punkte, beispielsweise Kindergärten und Schulen“, betont Markus Hantschmann. FORUM /Bolko Bouché

Interview mit Felix Mohn:

Felix Mohn ist Referent für Existenzgründung, Start-ups und Unternehmensfinanzierung bei der IHK Potsdam.
Herr Mohn, was macht der Media Tech Hub in Potsdam?
Die Digital Hubs sind eine Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums. Von den zwölf Hubs in Deutschland hat nur Potsdam den Schwerpunkt Medientechnologie. Innovative, technologiebasierte Start-ups erhalten Coachings und Kontakte zu Investoren sowie günstige Preisen für Büroflächen. Die jährlich stattfindende Media Tech Hub Konferenz bietet eine Plattform für den Erfahrungsaustausch mit Experten.
Welche Standortfaktoren sind für Start-ups wichtig?
Sie brauchen gute Erreichbarkeit, stabiles, schnelles Internet und bezahlbare Büroflächen. Auch attraktive Förderprogramme und Investorennetzwerke sind wichtig, da Start-ups oft ambitionierte Wachstumspläne, aber noch keine Kapitalgeber haben. Schließlich muss der Standort attraktiv für qualifizierte Fachkräfte sein.
Was leistet die IHK für technologieorientierte Gründer?
Wir prüfen Businesspläne und empfehlen passende Finanzierungen, zum Beispiel Förderprogramme für innovative Technologien und Digitalisierungsprojekte. Wir vertreten über unsere Ausschüsse Gründung & Nachfolge sowie Informations- und Kommunikationstechnologie ihre Interessen gegenüber der Politik. Schließlich bringen wir die Gründer durch Fachveranstaltungen mit interessanten Netzwerkpartnern zusammen. Es ist unser Ziel, die Start-ups dauerhaft für Brandenburg zu begeistern und ihr Wachstum zu begleiten.

Kontakt

Felix Mohn
Felix Mohn
Referent Existenzgründung/Startups