Viele Wege führen in den Beruf
Auf der Suche nach geeignetem Personal lohnt es sich für Unternehmen, abseits ausgetretener Pfade nach versteckten Potenzialen zu suchen. Bei Älteren, Behinderten und mithilfe beruflicher Qualifizierung werden sie fündig.
Text: Matthias Voigt
Deutschland steuert auf einen Fachkräftemangel zu. „Allein in Hessen werden bis zum Jahr 2030 schätzungsweise 240.000 Fachkräfte fehlen“, sagt Dr. Marcel Walter, Geschäftsbereichsleiter Aus- und Weiterbildung der IHK Darmstadt. Zum einen scheidet die Generation der Babyboomer aus dem Erwerbsleben aus. Gleichzeitig genügt die Anzahl der Jungen nicht, um die Babyboomer im Arbeitsleben zu ersetzen. Was folgt, ist eine Unterversorgung mit Fachkräften. Um den Bedarf trotzdem weiterhin decken zu können, rücken bei Unternehmen zunehmend bisher wenig genutzte Potenziale in den Fokus – etwa ältere Menschen, Personen mit geringerer Qualifikation oder Menschen mit Behinderungen. Welche Wege führen für sie in den Beruf?
Christian Heckmann, Ausbildungsleiter bei Pirelli
Für Pirelli in Breuberg wird zwar die duale Ausbildung immer der zentrale Baustein sein, um Fachkräfte für das Unternehmen zu generieren. Jedoch hat der Reifenhersteller zusätzlich ein Qualifizierungsmodell aufgesetzt, damit das aktuelle Personal in der Produktion mit der technischen Entwicklung Schritt halten kann und zu Fachkräften entwickelt wird. „Wir möchten das Potenzial unserer bestehenden Belegschaft besser nutzen“, sagt Christian Heckmann, Ausbildungsleiter bei Pirelli. So verfügten bereits viele Mitarbeiter*innen über umfangreiche Praxiserfahrung – aber keinen formalen Berufsabschluss. „Mit modularen Teilqualifikationen, Validierungsverfahren und der Externenprüfung geben wir diesen Kolleginnen und Kollegen die Chance, ihr Können sichtbar zu machen und weiterzuentwickeln.“ Damit möchte Pirelli nicht nur die Bindung dieser Mitarbeitenden ans Unternehmen stärken, sondern auch künftig Schlüsselpositionen mit eigenem Personal besetzen.
„Wir möchten das Potenzial unserer bestehenden Belegschaft besser nutzen“Christian Heckmann
In den Blick nimmt Pirelli vor allem Beschäftigte in der Produktion ohne formalen Berufsabschluss – egal, wie alt sie sind, welche Herkunft sie haben oder was ihre bisherige Tätigkeit war. „Besonders profitieren langjährig Beschäftigte, deren Wissen wir formal anerkennen können“, erklärt Heckmann. Zu dieser Personengruppe gehören Mitarbeiter*innen, die ihre Qualifikationen im Ausland erworben haben, ebenso wie Quereinsteiger und Kolleg*innen über 50 Jahre, die ihr Fachwissen durch einen anerkannten Abschluss absichern möchten. Dadurch soll so vielen Beschäftigten wie möglich der Zugang zu beruflicher Qualifizierung eröffnet werden – gezielt, praxisnah und anerkannt.
Das Qualifizierungsprogramm in Breuberg fußt auf drei aufeinander aufbauenden Bausteinen. Dabei erwerben die Teilnehmer*innen parallel zum Schichtbetrieb gezielt berufsbezogene Kompetenzen. Anschließend können die vorhandenen beruflichen Erfahrungen durch eine praxisorientierte Bewertung offiziell anerkannt werden. Möglich wird das durch Paragraf 43 im Berufsbildungsgesetz (BBiG). „Ziel ist es, dass die Ausbildung über das Validierungsverfahren anerkannt wird. Das geschieht über Arbeitsproben, die der Prüfungsausschuss der IHK vor Ort macht – ohne schriftliche Prüfung“, sagt Heckmann. Alternativ kann auch die sogenannte Externenprüfung abgelegt werden, bei der auch eine schriftliche Prüfung bestanden werden muss.
Pilotprojekt mit der IHK
Von links nach rechts: Thomas Hofmann (Leiter Personal und Organisation), Thomas Michel (Chief Technical Officer), Karl Holmer mit seinem Zertifikat, Dominic Sommer (Leiter operative Produktionsplanung) – alle Pirelli Deutschland.
Die ersten Angestellten sind gerade dabei, das neue Qualifizierungsmodell zu durchlaufen. Angehende Maschinen- und Anlagenführer haben bereits zehn Unterrichtseinheiten absolviert. Das theoretische Wissen wurde ihnen an der Berufsschule Main-Kinzig in Gelnhausen vermittelt, gefolgt von vier Terminen bei Pirelli, in denen das Erlernte direkt in die Fabrikabläufe übertragen wurde. Mit dabei war Karl Holmer, der in der hauseigenen Qualifizierung Vorteile für sich sieht: „Sie hat mir wertvolle Einblicke in die Themen Werkstoffkunde, Produktionstechnik und Qualitätssicherung gegeben. Die zu bedienenden Anlagen werden zunehmend komplexer und so kann ich mein Know-how den gestiegenen Anforderungen ideal anpassen.“ Mit drei weiteren Kollegen steht Holmer nun vor der Validierung. Dafür durchlaufen sie in einem Pilotprojekt mit der IHK Darmstadt ein Validierungsverfahren, bei dem ihre Qualifikation und eine praktische Arbeitsprobe offiziell anerkannt werden – ohne schriftliche Prüfung.
Mit der Qualifizierung kann ich mein Know-how den gestiegenen Anforderungen ideal anpassen.Karl Holmer
Die neuen Lernformate sind für Pirelli durchaus mit einem Mehraufwand verbunden. Es braucht enge Betreuung der Geschulten, zusätzlich werden Lernzeiten außerhalb der Schichten angeboten und die Fachabteilungen müssen sich aktiv einbringen. „Aber der Mehraufwand rechnet sich“, ist Christian Heckmann überzeugt. „Wir gewinnen motivierte, qualifizierte Mitarbeitende aus den eigenen Reihen und machen Pirelli als Arbeitgeber noch attraktiver.“
Individuelle Personalpolitik
1.700 Tonnen Elektroschrott werden pro Jahr von Azur in Mühltal bearbeitet.
Azur aus Mühltal hat zwar kein aufwendiges Qualifizierungsmodell wie Pirelli. Dafür aber eine stark aufs Individuum ausgerichtete Personalpolitik. „Die Azur ist ein besonderer Betrieb, der seit jeher die Mitarbeiter an dem Punkt abholt, an dem sie gerade hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit stehen, und sie entsprechend ihrer Möglichkeiten weiterentwickelt. Das gilt in besonderem Maße für unsere beeinträchtigten Mitarbeiter“, sagt Vizelandrat Lutz Köhler. Azur übernimmt für seinen Träger, den Landkreis Darmstadt-Dieburg, die Entsorgung und das Recycling von Elektroschrott. 1.700 Tonnen kommen so pro Jahr zusammen, die auf dem Gelände neben und teilweise sogar über der Modau bearbeitet werden. Den Betrieb mit seinen 35 Beschäftigten sieht Köhler als „tolle Schnittstelle aus sozialen Teilhabemöglichkeiten in Verbindung mit einem wertvollen Beitrag für umweltgerechtes Recycling“.
Sascha Lohner arbeitet bei Azur, das für die Entsorgung und das Recycling von Elektroschrott im Landkreis Darmstadt-Dieburg zuständig ist.
Einer der Angestellten ist Sascha Lohner. Der 34-Jährige kam vor 13 Jahren über ein Praktikum zu Azur, davor war er in der Nieder-Ramstädter Diakonie im Berufsbildungsbereich eingesetzt. In seinem Blaumann sitzt er an einer Werkbank, zu seinen Füßen kistenweise Platinen ausrangierter Rechner, die von ihm routiniert in ihre Einzelteile zerlegt werden. Mit dem Schraubenzieher entfernt er Batterien, Kühler und CPUs, die zentralen Recheneinheiten von Computern. Fein säuberlich kommt jedes Bauteil in seine eigene Box, damit aus Alt wieder Neu werden kann und der Rohstoffkreislauf geschlossen ist. „Das ist genau der Job, den ich mir vorgestellt habe“, sagt Lohner, eine grüne Platine in der rechten Hand. Der Mitarbeiter in der Feinzerlegung hat eine Spastik im Bein, seine rechte Sehne ist verkürzt. „Stehen kann ich nicht so lange, daher sitze ich die meiste Zeit.“ Kein Problem für seine Arbeit an der Werkbank. Lohner ist Frühaufsteher und beginnt täglich um 7:30 Uhr bei Azur, nach sechs Stunden plus Pause macht er Feierabend.
So sortenrein wie möglich werden Altgeräte bei Azur zerlegt.
Menschen mit Behinderung haben eine extrem hohe Bereitschaft, sich für ihr Unternehmen einzusetzen.Holger Kahl
Holger Kahl, Geschäftsführer von Azur
„Er ist zuverlässig wie ein Uhrwerk“, lobt ihn Holger Kahl, der Geschäftsführer von Azur. An Sascha Lohner könne man sehen, welche positiven Effekte es habe, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. „Ihre Bereitschaft, sich für das Unternehmen einzusetzen, ist extrem hoch. Da spüren wir eine große Loyalität.“ Natürlich sei generell der Anfang einer Beschäftigung betreuungsintensiver und es brauche Fingerspitzengefühl, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. So sitze der eine lieber alleine, ein anderer brauche gerade den persönlichen Austausch, ein Dritter schätze es, die immer gleichen Abläufe zu haben. „So unterschiedlich die körperlichen, psychischen oder geistigen Herausforderungen unserer Mitarbeiter sind, so individuell müssen auch unsere Lösungen sein“, sagt Kahl. Jeder müsse nach seinen Stärken eingesetzt werden. Mittelständlern rät er, über ein Praktikum auszuloten, ob eine Beschäftigung für beide Seiten infrage komme.
Eine weitere Personengruppe, die ihre Arbeitskraft Unternehmen zur Verfügung stellen kann, sind Ältere. Angestellte sollen häufiger auch über ihren offiziellen Renteneintritt hinaus beschäftigt werden. Das will die neue Bundesregierung fördern. Sie plant, mit der sogenannten Aktivenrente Anreize zu schaffen, damit dieses Potenzial genutzt werden kann. Für diese Personengruppe soll es sich auch finanziell lohnen, ihre Rentenzeit zu verschieben.
Mark Schüssler wird in der Abteilung Zerlegung eingesetzt.
Anreize fürs Arbeiten im Rentenalter
Daher sieht das Maßnahmenpaket zum Beispiel vor, dass Arbeitgeber künftig ihre Beiträge zur Arbeitsförderung und Rentenversicherung an ihre Beschäftigten im Rentenalter zusätzlich zum Lohn auszahlen können. Ein weiteres Lockmittel ist die sogenannte Rentenaufschubprämie, nach der Beschäftigte künftig anstelle der monatlichen Zuschläge eine Einmalzahlung in Anspruch nehmen können, sofern sie ihre Rente über die Regelaltersgrenze hinaus aufschieben. „Diese Vorhaben weisen in die richtige Richtung, weil sie der stark gestiegenen Lebenszeit in Deutschland Rechnung tragen und längeres Arbeiten belohnen. Unternehmen wird dadurch ermöglicht, einen Teil ihres Personalbedarfs mit etablierten, eingearbeiteten Beschäftigten zu decken“, sagt Marcel Walter, der Aus- und Weiterbildungsexperte der IHK Darmstadt.
Inklusionsberaterinnen der IHK
Dank eines Gemeinschaftsprojekts mit dem Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen beraten zwei Fachberaterinnen für Inklusion bei der IHK Darmstadt Unternehmen zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung. Nicole Splinter und Lucy Singer sind Anlaufstelle, um bei der Einstellung, Weiterbeschäftigung und Ausbildung von Menschen mit Behinderung zu unterstützen. Außerdem geben sie Tipps zu passenden Förderprogrammen. Weitere Infos zum Kooperationsprojekt.
Dank eines Gemeinschaftsprojekts mit dem Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen beraten zwei Fachberaterinnen für Inklusion bei der IHK Darmstadt Unternehmen zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung. Nicole Splinter und Lucy Singer sind Anlaufstelle, um bei der Einstellung, Weiterbeschäftigung und Ausbildung von Menschen mit Behinderung zu unterstützen. Außerdem geben sie Tipps zu passenden Förderprogrammen. Weitere Infos zum Kooperationsprojekt.
Netzwerk für Fachkräfteeinwanderung
Unternehmen mit Interesse an der Einwanderung von Fachkräften können sich ab sofort kostenlos im Netzwerk „Unternehmen Berufsanerkennung (UBA)" registrieren, das bei der Deutschen Industrieund Handelskammer (DIHK) Service GmbH angesiedelt ist. Es bietet eine praxisnahe und zielgerichtete Unterstützung beim Einstieg in die Fachkräfteeinwanderung. Es stellt verständlich aufbereitete Informationen zu Einwanderungsverfahren und Berufsanerkennung bereit und ergänzt diese durch individuelle Beratungsangebote, Sprechstunden, anschauliche Tutorials und praxisorientierte Leitfäden. Außerdem können sich die Mitgliedsunternehmen untereinander austauschen und voneinander lernen. Wer sich registriert, hat exklusiven Zugang zum Matching-Service „UBAconnect“, über den Unternehmen in Kontakt mit internationalen Fachkräften kommen können, die bereits über eine teilweise Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen verfügen. Für Unternehmen ein Vorteil, da die Fachkraft direkt einreisen, beschäftigt und nachqualifiziert werden kann. Interessierte Unternehmen können sich ab sofort registrieren unter
www.unternehmen-berufsanerkennung.de/netzwerk
Unternehmen mit Interesse an der Einwanderung von Fachkräften können sich ab sofort kostenlos im Netzwerk „Unternehmen Berufsanerkennung (UBA)" registrieren, das bei der Deutschen Industrieund Handelskammer (DIHK) Service GmbH angesiedelt ist. Es bietet eine praxisnahe und zielgerichtete Unterstützung beim Einstieg in die Fachkräfteeinwanderung. Es stellt verständlich aufbereitete Informationen zu Einwanderungsverfahren und Berufsanerkennung bereit und ergänzt diese durch individuelle Beratungsangebote, Sprechstunden, anschauliche Tutorials und praxisorientierte Leitfäden. Außerdem können sich die Mitgliedsunternehmen untereinander austauschen und voneinander lernen. Wer sich registriert, hat exklusiven Zugang zum Matching-Service „UBAconnect“, über den Unternehmen in Kontakt mit internationalen Fachkräften kommen können, die bereits über eine teilweise Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen verfügen. Für Unternehmen ein Vorteil, da die Fachkraft direkt einreisen, beschäftigt und nachqualifiziert werden kann. Interessierte Unternehmen können sich ab sofort registrieren unter
www.unternehmen-berufsanerkennung.de/netzwerk
Dieser Artikel ist erstmals erschienen im IHK-Magazin „Wirtschaftsdialoge”, Ausgabe 4/2025. Sie möchten das gesamte Heft lesen? Die „Wirtschaftsdialoge” können Sie auch online als PDF-Datei herunterladen.
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Matthias Voigt
Bereich:
Kommunikation und Marketing
Themen: IHK-Magazin, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit