Mamas Nusskuchen ist der Beste

Wenn damals im Kunstunterricht mal wieder ein Farbtöpfchen im Tuschkasten leer war oder ein allzu struppiger Pinsel dringend einen Nachfolger brauchte, empfahl die Lehrerin den Kindern in der Grundschule Hohestieg, sich nachmittags bei Graphiti die Utensilien zu besorgen. Evren Songürer (36) kennt die Adresse Cyriaksring 35 also schon seit Kindertagen. Heute betreibt er in dem einstigen Geschäft für Künstlerbedarf gegenüber der Hochschule für Bildende Künste (HBK) zusammen mit seiner Schwester Sinem (33) und Schwager Selcuk Simsek (32) das Kaffeehaus.
Als wir uns an einem milden Mittwochnachmittag im Oktober zum Interview treffen, ist die Terrasse so gut besucht, dass Schwager Selcuk sogar noch einen sicherheitshalber angeketteten Tisch von der Leine lassen muss. Mitarbeiterin Melisa ruft nach draußen, dass der Kuchen so gut wie ausverkauft ist. Wenn wochentags um 16 Uhr zwei Stunden vor Geschäftsschluss die Stückchen schon gezählt sind, muss der Kuchen schmecken, der Laden laufen. Der Feierabendverkehr rollt über die Straße, die Busse stoppen dicht getaktet an der Haltestelle neben der Litfasssäule. Wer hier seinen Kaffee mit gratis Sonne genießt, mag Großstadt.

Leichtsinnig bis blauäugig?

Im April 2021 haben die drei das Kaffeehaus eröffnet. Mitten in der Pandemie. Ist das nicht, vorsichtig formuliert, ein bisschen leichtsinnig bis blauäugig gewesen? Der Veranstaltungskaufmann lacht: „Nö, eigentlich gar nicht.“ Songürer ist Betriebsleiter vom Eule/XO und als DJ Evolution bundesweit gebucht. Die Pandemie traf diese Branche als erste. Und sie war auch die letzte, die wieder öffnen durfte. „Mein Tagesrhythmus war von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Ich hab‘ nach Jahren den Bürgerpark mal wieder bei Tag gesehen“, erinnert sich der junge Mann. Es muss so im Februar oder März 2020 gewesen sein, als er ein paar Tage hintereinander an der HBK zu tun hatte. Jeden Morgen holte er sich einen Kaffee am Kiosk. Der war okay, „aber ich wohne in der Südstraße über einem Eiscafé.“ Da sei er verwöhnt von erstklassigem italienischen Espresso.
Unser finanzielles Risiko war überschaubar.

Evren Songürer

Als er gegenüber dem Kiosk auf der anderen Straßenseite an der Scheibe des ehemaligen Graphiti den „Zu vermieten“-Zettel entdeckte, reichte ein Abend mit Schwester und Schwager im Bossanova aus – und das Projekt Kaffeehaus stand.

Kein Café in allen vier Himmelsrichtungen

„Wir wollten schon immer was zusammen machen“, sagt ­Songürer. Der leer stehende Laden im westlichen Ringgebiet, wo sie groß geworden sind und das sich mittlerweile zum angesagten Quartier mit noch bezahlbarem Wohnraum gemausert hat, schien ihnen so wie ein Wink des Schicksals. Zumal es „in allen vier Himmelsrichtungen“ im Umkreis von ein, zwei Kilometern kein Café gab.
Mal eben so ein Café zu eröffnen – das machst du aber auch nicht mal an einem verlängerten Wochenende. „Das natürlich nicht“, so Songürer. Aber in der Gastroszene kennt er sich von Berufs wegen aus, hinzu kam die handwerkliche Expertise des Schwagers. Und Sinem und Mama Müzeyyen haben ihren Anteil dazu beigetragen, dass das Kaffeehaus ein gemütlicher Ort geworden ist. Den Stil beschreibt man treffend mit „angenehm aufgeräumt“, das bei eBay ersteigerte Mobiliar ist lässig retro. Wer mag, findet auch in der Fensterbank ein Sitzkissen.

„Du darfst kein Angsthase sein“

Aber nochmal: Mitten in der Pandemie so ein wirtschaftliches Risiko eingehen? Ist das nicht doch ein Kamikazeunterfangen?
„Unser finanzielles Risiko war überschaubar.“ Sie hätten viel selbst gemacht, Selcuk Simsek hat die Theke mehr oder weniger mit Hilfe von Freunden selbst gebaut. Einen Gründerkredit brauchten sie nicht, haben vielmehr ihre finanziellen Polster ein wenig abgespeckt. Wenn es nicht geklappt hätte, wäre der finanzielle Schaden verschmerzbar gewesen. „Ich bin Freelancer. Da darfst du eh kein Angsthase sein“, sagt Songürer.
Bei uns sind alle willkommen.

Evren Songürer

Die Renovierungsphase war natürlich anstrengend, aber immer wieder hätten Leute von der Straße den Kopf durch die Tür gesteckt und nicht nur gefragt, was hier rein komme, sondern gleich nachgesetzt „hoffentlich ein Café?!“. Das hat die Truppe natürlich beflügelt.

To-go-Einstieg war optimal als Kennenlernphase

Gestartet wurde dann erst mal mit Außer-Haus-Verkauf. „Das war das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Songürer. Sie seien ja Neulinge in dem Kaffeehaus-Gewerbe gewesen, eine volle Bude hätte sie womöglich überfordert. Mit maximal zwei Kunden, die ihren To-go-Kaffee im Laden bestellten, war es für die Macher eine ideale Eingewöhnungs- und Kennenlernphase.
Mittlerweile beschäftigen sie 16 Mitarbeiter in Teilzeit und auf Minijobbasis. Draußen können 40, drinnen bis zu 60 Menschen bewirtet werden.
Anfangs haben ausschließlich Sinem, die nach dem Abitur international business communication studierte, und ihre Mama gebacken. Der Nusskuchen gilt im Kiez mittlerweile als legendär. Es ist genau der Kuchen, den Evren und seine Schwester Sinem schon immer zum Geburtstag bekamen. Täglich frisch gebacken wird immer noch, aber die Mama ist mittlerweile im Ruhestand, Schwester Sinem mit der sieben Monate alten Sara in Elternzeit. Aber Mama Müzeyyen lässt sich gelegentlich Kuchen nach Hause bringen und kostet, ob er auch wirklich nach ihrem Rezept gebacken wurde. Mamas Linsensuppe steht ebenfalls auf der kleinen Speisenkarte. Zum Frühstück gibt es leckere Brotkreationen. Das Brot kommt von der Bäckerei Backgeschwister am Kohlmarkt, der Kaffee von der Braunschweiger Rösterei Leogold. Und Papa Vedat ist hier „so eine Art Hausmeister“, wenn es mal hakt, ist er da.

Sonntag wird die Oma aus dem Altenheim zum Kaffee geholt

Die Kaffeehäusler sind Familienmenschen, wenn Songürer der jungen Frau, die gerade am Tresen bezahlen will, „Glückwunsch zum 18. noch, du wirst deiner Schwester immer ähnlicher“ zuruft, wirkt diese Herzlichkeit echt. Ein kleines Mädchen holt sich aus der Spielecke ein Schaukelpferd und rutscht mit dem Holztier einmal um die Theke herum zu ihrer Mutter. „Bei uns sind alle willkommen!“ Kinder, auch wenn  sie mal ‘nen bisschen rumkrakelen, Hunde, Junge, Alte. Sonntags buchen Familien gern den großen Tisch und spazieren dann mit der Oma herein, die sie für einen fröhlich verplauderten Nachmittag aus dem Altenheim geholt haben.
Das Kaffeehaus betreibt das Dreigestirn quasi im Nebenerwerb. Selcuk Simsek arbeitet als Anlagenüberwacher im Schichtbetrieb bei VW, seine Frau ist ebendort beschäftigt. Und bei Songürer ist es ja auch wieder losgegangen. Ist das nicht ganz schön stressig? „Ehrlich, es macht einfach nur Spaß, sonst würden wir das auch nicht machen.“ Songürer liebt diesen Café-Lifestyle. Was er darunter versteht? Menschen begegnen sich, über Tische hinweg kommt man ins Gespräch, wenn man sich immer wieder hier trifft, schließt man vielleicht sogar Freundschaft. Außerdem bekomme man ganz viel Dankbarkeit zurück. Wenn er morgens die Sophienstraße runter spaziere und er da schon viele Leute treffe, sei er einfach nur glücklich, Teil dieses Kiezes zu sein. Als DJ Evolution wäre Berlin vielleicht mal einen karrierefördernden Schritt wert gewesen. „Aber nee, das war nie ‘ne Option. Ich bin stolzer Braunschweiger.“

Im Kaffeehaus tanzt nie einer aus der Reihe

Was er noch am Tagesgeschäft schätzt, wo er doch eigentlich seit 15 Jahren berufsbedingt eine Nachteule ist: „Nachts hast du mit lauter lustigen, manchmal reichlich angetrunkenen Leuten zu tun.“ Das sei meist okay. Aber hier, im Kaffeehaus, da tanzt eben nie einer aus der Reihe.
Diese großen zischenden und dampfenden Kaffeemaschinen aus dem Profibereich flößen mir immer Respekt ein. Kann man die einfach von jetzt auf gleich bedienen? Hexenwerk sei es jedenfalls nicht. „Mein Schwager ist bei den Milchschaumkreationen ganz weit vorn. Er arbeitet auch die Mitarbeiter ein“, sagt ­Songürer. Er zaubere wahre Blattkunstwerke auf den Schaum. Wie das geht, das schaut er sich vorm Zubettgehen auf Youtube an.
suja