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Gut gebrüllt, Leo!
Seien wir mal ehrlich: Lange war der Harz vorwiegend für seine Landschaft, schroffe Klippen und dunkle Fichtenwälder bekannt und – bis auf einige Ausnahmen – eher nicht für gastronomische Highlights. Nicht erst seit Kyrill 2007 eine Schneise der Verwüstung in den Nationalpark schlug, wurde im Harz aber auch kulinarisch kräftig aufgeforstet. Oberhalb von Braunlage, wo früher eine Krankenkasse ein Schulungszentrum unterhielt, ist mit dem The Hearts Hotel ein Boutique & Event-Resort entstanden, das wie ein Wirbelsturm jedweden fritteusigen Restmief Harzer Piefigkeit weggefegt hat. Besonderes Juwel: Das Restaurant Leo’s. Es wurde 2021 vom Varta-Guide mit zwei Diamanten ausgezeichnet.
Geschäftsführer Meik-M. Lindberg ist ein Mann von kultivierter Gelassenheit.
© Claudia Taylor
Diamanten sind was Feines, wer nun aber diamantenes Funkeln im Leo’s erwartet, der sollte den Aufstieg zum Jermerstein gleich bleiben lassen. Hier oben ist auf 14 000 Quadratmetern etwas kreiert worden, das vor allem eines sein will: unaufdringlich. Dieser Industrial-Style ist natürlich durchdacht bis ins kupferbedampfte Besteck, aber er kommt so gekonnt ungezwungen und beiläufig daher, dass man sich als Gast im Leo’s auch im Skipulli zu keiner Zeit deplatziert fühlen würde.
Wenn sich die Discokugel dreht, geht‘s kulinarisch rund
Das geht schon los beim Eingang: Ein Holzpfeil, auf dem in weißen Lettern Leo’s steht, weist den Weg entlang eines gewundenen Pfades. Das Restaurant macht also schon auf der Türschwelle nicht auf brillantenbehangene Diva, die einen roten Teppich erwartet. Als nächstes geht es die Treppe hoch und dann gibt es doch ein bisschen Glitzer im verglasten Übergang, der Eventräume und Gastronomie verbindet: eine Discokugel. Dreht sie sich, ist das für alle das Signal, dass das Leo’s geöffnet ist.
Weil die Fotografin ihre Hündin Lotte mitgebracht hat, die zwar höchst gut erzogen ist, im Leo’s aber dennoch draußen zu bleiben hat, bleiben wir erst mal im Glasgang sitzen. Aber was heißt schon Gang! Mit den trendigen Vintage-Ledersesseln, in denen man wohlig versinkt und am liebsten bis zum Aperitif rumdölmern würde, den Teppichen und den Bildbänden, die wirken, als hätte sich eben gerade noch jemand darin festgeblättert, fühlt man sich eher wie bei Freunden im Wohnzimmer.
„Wir duzen uns hier alle“
Dass die Designerin Tatjana Westphal in die Inszenierung dieser Wohnzimmer-Wohlfühl-Illusion freilich viel kreativen Hirnschmalz investiert und auch Nachhaltigkeitsaspekte – es gibt viele aufgearbeitete Unikate – bedacht hat, und es natürlich dennoch eine Inszenierung bleibt und kein Wohnzimmer ist, ist ja mal egal. Denn: Inszenierung hin oder her – man fühlt sich einfach wohl. Meik-M. Lindberg, Geschäftsführer des Hearts Hotels, begrüßt uns freundlich, nicht gekünstelt überschwänglich. Gelassenheit gehört zum Konzept. „Wir duzen uns hier alle.“ Gehört auch zum Konzept. Ist ja derzeit üblich, hätte es hier im Leo’s aber gar nicht bedurft, um sich zu Gast wie bei Freunden im Nachbarkiez zu fühlen.
Stadtausbrecher suchen hier Entspannung.
Das Duzen verkommt inzwischen beinahe zur inflationär gebrauchten Floskel im zwischenmenschlichen Miteinander. Ähnlich wie das fast genauso oft benutzte Wort authentisch. Damit wird ja mittlerweile alles und nichts etikettiert. Beispiel von The Hearts Hotels Homepage: „Ehrlich. Authentisch. Nachhaltig.“ Das klingt irgendwie austauschbar. Dabei ist das Leo’s alles andere als austauschbar.
In der offenen Küche kann der Gast dem Koch bei der Zubereitung der Speisen zusehen, die hernach auf den Tisch kommen.
© Claudia Taylor
© Claudia Taylor
Impulsgeber, der Anreize für Braunlage gesetzt hat
Lindberg kommt eigentlich aus der IT-Branche. Mit dem The Hearts Hotel ist er 2019 gestartet. Und bis auf einige wenige Kleinigkeiten wird der Komplex in diesem Jahr fertig sein. Dass er, gebürtig in Lamspringe, nach Jahren in der Welt mal nach Braunlage kommen würde, schien eher unwahrscheinlich. Doch gerade das scheint ihn gereizt zu haben: „Ich sehe mich als Impulsgeber, jemand, der was Neues in Braunlage kreiert hat, der neue Leute, neue Gesichter geholt hat. Der aber vielleicht auch Anreize für andere, Alteingesessene gibt, mal wieder was zu machen, zu verändern.“ Sein Plan fürs The Hearts scheint jedenfalls aufgegangen zu sein: 30 000 Gäste hatte das Hotel mit einer Kapazität von 65 Zimmern und 140 Betten im vergangenen Jahr. 40 Prozent Unternehmenskunden, 60 Prozent Touristen. Wenngleich man das hier gar nicht so trennen kann. Der Urlauber von morgen, so liest man auf der Homepage, bewege sich zunehmend zwischen den Sphären Freizeit und Arbeit. „Ob jemand als Privatgast oder Geschäftsreisender unterwegs ist, wird zukünftig nicht mehr so klar voneinander zu trennen sein.“ Was vielleicht alle eint: „Hauptsächlich Leute“, so Lindberg, „die sonst nicht in den Harz gekommen wären. Dieses ,sonst‘ will sagen: wenn es das Hearts und das Leo’s nicht gäbe. Wenn es Instagram nicht gäbe. ,Stadtausbrecher‘, vorrangig aus Hamburg und Berlin, im Alter zwischen 25 und 45 Jahren“, so Lindberg. Vielleicht mitunter ein bisschen ermattet vom Leben in der urbanen Dauertrommel, anspruchsvoll. Und in der Tat: genau dieses Publikum wird später im Leo’s Platz nehmen. Viele mit kleinen Kindern. Unkompliziert ist das hier, gerade so wie wenn man liebe Verwandte besucht.
Industrie-Look in Betonoptik, Holz, mattem Schwarz
Allmählich neigt sich der Abend über den Ort, wir nehmen noch einen letzten Blick auf den Wurmberg mit, dessen Kuppe man ob des Borkenkäferkahlfraßes in der Ferne abendsonnenrot leuchten sieht, und betreten nun das Leo’s.
Der Industrie-Look zieht sich auch hier durch: Beton-Optik, Stahl, viel Holz, viel mattes Schwarz, schwarze Echtfelle auf den Stühlen, warmes Licht, Kerzenschein. Die Servietten aus Leinen, nicht artig zu Krönchen gefaltet, sondern lässig liegen gelassen, das Geschirr dunkel, massiv, schön abwechslungsreich in Form und Farbe. Die Küche ist offen, selbst im Clubraum gibt es einen Monitor, der den Gästen einen Blick über die Schulter des Maître „auf ein gehobenes Kocherlebnis“ gewährt. Der kochte zuvor in den Rothen Forellen in Wernigerode, ein Spitzenkoch mit Stern. „Aber Sterne interessieren uns eigentlich nicht“, sagt Lindberg. Der Monitor ist eingefasst in einen goldenen Bilderrahmen wie man ihn aus Gemäldegalerien kennt. Daneben hängt ein Porträt des ehemaligen Kochs. Geadelt in Öl. Ein Hingucker.
Bei Kerzenschein und mit Leinenservietten lässt es sich im Leo‘s exzellent speisen.
© Claudia Taylor
Ab März wird das Restaurant über 72 Sitzplätze verfügen. Dann wird bei voller Hotelauslastung jeden Abend jeder Gast einen Platz bekommen können. Das ist derzeit noch nicht der Fall und manchmal ein echtes Problem. „Ein Luxusproblem“, sagt Lindberg dezent lächelnd. Fünf Köche, drei Beiköche, vier Servicekräfte in Vollzeit beschäftigt das Leo’s, das an fünf Abenden in der Woche geöffnet hat. Ebenfalls ab März wird das vegane und vegetarische Angebot erweitert.
Die Karte ist klein, wechselt alle zwei Monate, und ist „von hohem kulinarischen Anspruch“. Das stimmt. Es muss jetzt nicht die Speisenfolge nacherzählt werden, aber die Scampi auf Jackfruit und Anissauce waren ein außergewöhnliches, bis dato unbekanntes Geschmackserlebnis. Und das Leipziger Allerlei Leo’s Style eine pfiffige, freche Neuinterpretation.
Das 60-60-Prinzip für Nachhaltigkeit
Nun untermauern die Früchte des unter anderem in Indien beheimateten Jackfruitbaums zwar nicht das Nachhaltigkeitskonzept des Leo’s. Aber sie widersprechen ihm auch nicht. Lebensmittel, die im Hotel verarbeitet werden, kommen zu 60 Prozent aus maximal 60 Kilometern Entfernung. Die Eier kommen von den Heberwiesen im Vorharz bei Bad Gandersheim, Fleisch unter anderem von der Landmetzgerei Schlüter aus Vienenburg. Das Bier kommt aus Altenau, Backwaren aus Braunlage. Die H(e)ar(t)zer oben am Berg, direkt am Rand zum Nationalpark, sehen sich so auch als Unterstützer des regionalen Handels.
suja