Langzeitmission voller Herzblut

Das Unternehmen ihres Vaters weiterführen und seine Nachfolgerin werden? Danach stand Nicole Both lange Zeit nicht der Sinn. Zumal der seine Tochter niemals dazu gedrängt hat. „Das wäre auch zum Scheitern verurteilt gewesen“, sagt sie. „Führungsrollen können nur diejenigen einnehmen, die Herzblut für ihr Unternehmen hingeben. Man muss die Leitung wirklich wollen.“ Warum Nicole Both sich heute die Geschäftsführung der AL-Elektronik Distribution GmbH mit ihrem Vater Wilfried Both teilt, ist demnach einfach zu beantworten: Sie wollte schließlich doch – und zwar unbedingt.
Offensichtlich bekommt dem Braunschweiger Unternehmen, zu Hause in der Christian-Pommer-Straße im Gewerbegebiet Hansestraße-West, die Doppelspitze ausgesprochen gut. Nach 12,5 Millionen Euro vor zwei Jahren und 16,4 Millionen Euro im Vorjahr „werden wir den Umsatz im aktuellen Geschäftsjahr noch einmal deutlich steigern“, sagt Nicole Both.
Abitur in Braunschweig, Au-pair-Jahr in den USA, Jura-Studium in Marburg, kaufmännische Ausbildung bei Wilhelm Fromme Landhandel und am Lehrstuhl Informationsmanagement der TU Braunschweig verantwortlich für Recht und Controlling: Im Lebenslauf von Nicole Both war kein Eintrag von AL-Elektronik geplant. „Es war eigentlich nie Thema, dass ich ins Unternehmen einsteige.“ Bis plötzlich Not an der Frau war und eine kurzfristig auftauchende Vakanz im Unternehmen dringend gebot, dass sie die Lücke mit ihrer Expertise füllt.

Fortsetzung des väterlichen Lebenswerks

Was im Jahr 2010 als Aushilfsjob für kurze Zeit gedacht war, hat sich zur erfolgreichen Langzeitmission entwickelt. Mittlerweile ist Nicole Both seit sieben Jahren Geschäftsführerin von AL-Elektronik und sehr zufrieden mit ihrer Entscheidung, diese Verantwortung übernommen zu haben. Zum einen könne sie ihr Wissen und Können im Hinblick auf Finanzen, Beschaffung und Recht in ihrem Verantwortungsbereich hervorragend kombinieren. „Und zum anderen kann ich das Lebenswerk meines Vaters weiterführen.“
Im Jahr 1999 gründete Wilfried Both AL-Elektronik. Das Produktportfolio des Distributors für Halbleiter sowie für passive und elektromechanische Bauelemente umfasst 120 000 verschiedene Artikel, von denen viele im Lager vorrätig sind. Abends nach dem Zusammenstellen der Sendungen werden sie von den Speditionen abgeholt. „In 95 Prozent der Fälle hat der Kunde deutschlandweit am nächsten Tag seine Ware.“
Der deutsche Markt, der verschiedene Branchen beheimatet, macht 80 Prozent des Umsatzes aus. Einen großen Teil der elektronischen Bauteile für Automatisierungs-, Mess- und Regeltechnik importieren die Braunschweiger. Aus Asien zählen Littelfuse, Wima, Harting und Yageo zum Herstellerkreis.

Flache Hierarchien, schnelle Lösungen

„Unsere Kunden schätzen an uns, dass wir ihnen in einer flachen Hierarchie schnell Lösungen anbieten können“, sagt Nicole Both. Dazu zählen nicht nur die hohe Verfügbarkeit der Waren und der schnelle Versand. Unter den 42 Mitarbeitern sind zwei technische Ingenieure, die mit Schaltplänen umgehen und Empfehlungen zur Produktoptimierung abgeben können. Wenn ein Hersteller eine Produktweiterentwicklung oder gar ein komplett neues Produkt auf den Markt bringt, kann er auf die Lösungskompetenz von AL-Elektronik vertrauen.
Damit sich das Geschäft weiterhin gut entwickelt, ist das Unternehmen auf seine internationalen Lieferketten angewiesen. Mit Sorge sieht die 41-Jährige die Spannungen zwischen China und Taiwan, wo große Namen der Elektronikindustrie Fertigungsstätten haben. Auch die Energiepreise und -engpässe trüben die Aussichten. „Zurzeit ist es schwierig einzuschätzen, wie hart uns die Energiekrise treffen wird. Klar ist: Wenn die Unternehmen weniger produzieren, verkaufen wir weniger Bauteile.“
Früher waren nicht Kondensatoren, Dioden oder Drahtwiderstände ihr Mittelpunkt, sondern zuallererst die Paragrafen. Nicole Both ist Juristin durch und durch. Ihre Mutter erzählt gerne, dass sie schon zu Kindergartenzeiten das Staatsexamen vor Augen hatte und über Meinungsfreiheit und Grundgesetz redete. „Im Thema Recht mit Schwerpunkt Strafrecht habe ich mich immer wie zu Hause gefühlt.“
Viel Lernen und harte Prüfungen – von dieser wenig verheißungsvollen Aussicht ließ sie sich nicht abschrecken. Mit mehreren Hundert Kommilitonen startete sie in das Studium. Ins Ziel schafften es wenige Dutzend. Als Beleg dafür, dass sie widerstandsfähig ist und die Auseinandersetzung mit schwierigen Themen nicht scheut, taugt die Zeit noch heute. „Ich habe es durchgezogen. Wenn ich mir etwas vornehme, dann mache ich das auch.“

Familienbande ein Stabilitätsanker

Ihrem Unternehmen kommt zugute, dass sie Vereinbarungen zur Qualitätssicherung oder Verträge für den Rahmenabruf aus eigener Kraft anfertigen kann. „In einem schnellen Tempo einen Vertrag aufsetzen zu können, ohne dafür einen Dritten beauftragen zu müssen, hat uns bei Kunden Pluspunkte eingebracht.“ AL-Elektronik ist ein familiengeführtes Unternehmen par excellence, die starke Familienbande ein Stabilitätsanker. Ihr Mann Marc Both leitet den Vertrieb und Bruder Maximilian Both ist mit den Aufgaben Ausbildung, IT und Social Media betraut.
Für Wilfried Both muss es ein schönes Gefühl sein, sein Unternehmen in guten Händen zu wissen. „Mein Vater ist einmal in der Woche vor Ort. Ansonsten arbeitet er aus dem Homeoffice – allerdings keine 40 Stunden mehr.“ Und: „Mittlerweile fährt er sogar mal in den Urlaub. Vorher hat es das nicht gegeben“, erzählt Nicole Both lachend. Vertrauen kann sie darauf: „Wenn er gebraucht wird, ist er da.“ Auf seine Unternehmerpersönlichkeit und den wirtschaftlichen Erfolg schaut sie „mit Respekt und Bewunderung“.
Erhöht so viel Familie im Unternehmen das Risiko, dass sich Job und Privatleben zwischen Frühstückstisch und Abendbrot unheilvoll vermengen? Nein, betont Nicole Both, die sich ihren Vater zum Vorbild genommen hat. „An unserer Haustür hat er immer darauf geachtet, dass Berufliche abzugeben.“ In diesem Sinne hätten auch ihr Mann und sie vereinbart, „dass es zu Hause um uns und unseren dreijährigen Sohn geht. Es ist schön, Unternehmerin zu sein. Doch um regenerieren und auf andere Gedanken kommen zu können, sind Familie und Freunde sehr wichtig.“ Beide teilen sich die Aufgaben der Kinderbetreuung und können sich aufeinander verlassen, wenn die Aufgaben im Unternehmen und daheim Flexibilität einfordern und der eine für den anderen einspringen muss.

Das Miteinander von Mensch und Umwelt

Um das Miteinander geht es auch in der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. Für viele mag Umweltbewusstsein lediglich ein Lippenbekenntnis sein, für Nicole Both nicht. Das beginnt vor Ort bei den Herstellern, mit denen sie darüber diskutiert, inwieweit umweltschädliche Bauteile langfristig durch ökologisch wertvollere ersetzt werden können; und geht hinter dem eigenen Eingangstor auf dem Unternehmensgelände weiter, wo die Flotte peu à peu auf E-Fahrzeuge umgestellt wird, drei Ladesäulen Einzug gehalten haben und seit September die Photovoltaikanlage das Dach schmückt. „Wir sind dabei, ein alternatives Heizsystem aufzubauen. Die Versorgung mit Gas werden wir so weit wie möglich runterfahren und stattdessen eine Wärmepumpe nutzen.“
Auch vermeintlich kleine Ideen können Großes bewirken. Aus eigenem Antrieb haben die Mitarbeiter ein Insektenhotel aufgestellt; und für das kommende Jahr wünschen sie sich ein Hochbeet, um Trinkwasser mit Minze und Ingwer aus Eigenproduktion aufpeppen zu können. Solche Aktionen fördern nicht nur die Umwelt, sondern auch das Team. Das Bepflanzen des Beets und das Ernten der Kräuter ist Mitarbeitersache. „Wir haben uns schon immer mit dem Thema Umweltschutz auseinandergesetzt und sind in den vergangenen Jahren vermehrt entsprechende Projekte angegangen.“
Das Wirkungsfeld von Nicole Both reicht weit über das eigene Unternehmen hinaus. Vom Großhandels- und Dienstleistungsverband über den Arbeitgeberverband und die Wirtschaftsjunioren bis hin zur Welfenakademie: Wo es darum geht, die Region gemeinschaftlich voranzubringen, bringt sie ihre Erfahrungen und Ideen ein. 

Engagement für Gründer

Herzensbedürfnis ist die Unterstützung von Gründern. Im Allgemeinen engagiert sich Nicole Both beim Accelerator für Wachstum und Innovation (W.IN) und Start-up-Zentrum Mobilität und Innovation (MO.IN) von Braunschweig Zukunft; und im Besonderen setzt sie sich für das Wohl verschiedener Gründer ein, darunter Formhand. In regelmäßigen Abständen trifft sie das Gründerteam und berät es. „Aus der Nähe die Entwicklung von Formhand miterleben zu dürfen, ist ungemein spannend. Ich investiere viel Zeit, um Start-ups bei all ihren Fragestellungen zu helfen.“ Zurückbekommt sie neben dem Einblick in die Gründerszene etwas Wertvolles, was über das Geschäft hinausgeht. „In vielen Fällen entstehen Freundschaften, die über die Laufzeit des Projekts hinaus dauern.“
Nicole Both ist mit sich und ihrem beruflichen Lebenslauf voll im Reinen. Zwar wolle sie die Uhr nicht um 20 Jahre zurückdrehen­ – ein hartes Jura-Studium ist schließlich genug. „Aber ich kann sagen: Ich bereue nichts und würde alle Entscheidungen noch einmal so treffen.“
boy